Jürgen Roth, Infomail 1111, 19. Juli 2020
Angesichts der drohenden Massenlassungen bei Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK) stehen tausende Beschäftigte mit dem Rücken zur Wand. Nicht nur in diesem Einzelhandelskonzern brechen die Umsätze ein, vollzieht sich eine massive Umstrukturierung.
Die Gewerkschaft ver.di, Betriebsräte, aber sicher auch viele Angestellte hoffen, dass „ihre“ Filiale, ihr „Arbeitsplatz“ durch Protestaktionen doch gerettet werden kann – eine Gesamtkonzept für eine von Krise und Umstrukturierung geprägte Branche fehlt jedoch. Daher erscheint auf den ersten Blick der entschlossene Kampf einzelner Häuser, einzelner Standorte, verbunden mit Druck durch die Kommunalpolitik als einzige Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern.
In Wirklichkeit zeigen sich jedoch die Grenzen dieser rein gewerkschaftlich und betrieblich ausgerichteten Taktik. Vom Standpunkt des einzelnen Handelskapitals macht es schließlich Sinn, ja erzwingt die Konkurrenz geradezu, die unprofitablen oder weniger profitablen Häuser zu schließen – schließlich geht es wie bei jedem kapitalistischen Unternehmen nicht darum, die KäuferInnen mit möglichst guten Produkten zu versorgen, sondern aus dem Handel möglichst großen Gewinn zu ziehen. Dabei setzen den „klassischen“ Kaufhäusern, die natürlich selbst auch immer profitorientiert waren, die aktuelle Krise, schrumpfende Kaufkraft der Masse der KundInnen, Internethandel, aber auch die Immobilienspekulation massiv zu.
Eine grundlegende Lösung des Problems ist freilich unmöglich, wenn die Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Beschäftigten – Kampf gegen alle Entlassungen, Kürzungen, weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit, Erhalt der jeweiligen Standorte – nicht mit grundlegenden Forderungen verbunden wird, die das Privateigentum selbst in Frage stellen.
Das beginnt schon bei der Frage von Grund und Boden. Diese müssen durch die Gemeinden entschädigungslos enteignet werden, um zu gewährleisten, dass Wohnen, Gewerbe und Dienstleistungen dem Allgemeinwohl zugutekommen können, ohne von den Rentenansprüchen des parasitären Grundbesitzes abhängig zu sein. Wenn z. B. Benko mehr Geld mit der Vermietung der Häuser machen kann als mit dem Einzelhandel, so ist es aus seiner Sicht nur folgerichtig, diese „abzustoßen“, um mit Immobilienspekulation höhere Gewinne einzufahren. Wenn das unterbunden werden soll, müssen Grund, Boden und Immobilien enteignet werden – daran führt kein Weg vorbei!
Zweitens führt die Konkurrenz im Handel bei sinkender Kaufkraft logischerweise dazu, dass sich die einzelnen Kapitale durchsetzen können, wenn sie ihrerseits die Kosten drücken. Daher planen sie, unrentable oder wenig rentable Standorte zu schließen, die Belegschaften auszudünnen, die Arbeitsintensität zu erhöhen und Löhne zu kürzen. Für die Lohnabhängigen kann es aber nicht darum gehen, die Konkurrenzfähigkeit „ihres“ Unternehmens zu sichern – das kann nur zur Verschlechterung der eigenen und anderer Arbeitsbedingungen führen und die Entsolidarisierung untereinander befördern.
Daher kann es der LohnarbeiterInnenschaft und ihren Verbündeten, den 99 % dieser Gesellschaft, nicht darum gehen, gleiche und scheinbar „faire“ Konkurrenzbedingungen im Handel künstlich zu schaffen, sondern ihn von unten zu planen, durch ein gesellschaftliches System der Verteilung zu ersetzen. Das setzt jedoch voraus, dass Handel und Warenlogistik – also die fungierenden Kapitale in diesem Sektor – entschädigungslos unter ArbeiterInnenkontrolle enteignet werden.
Damit diese Maßnahmen ihre volle Wirkung dauerhaft entfalten und Teile einer Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion in der Gesellschaft werden, bedarf es natürlich auch der Enteignung der Banken und Konzerne sowie des Sturzes ihres Staates und Ersetzung durch einen ArbeiterInnenstaat. Eine Verstaatlichung einzelner Sektoren wie Handel und Logistik kann daher nur als Übergangsmaßnahme verstanden werden – aber schon als solche kann sie den aktuell drohenden Entlassungen und Schließungen, also der Lösung der Krise in diesem Sektor auf dem Rücken der Beschäftigten und KonsumentInnen entgegenwirken.
Die bei Amazon, Ebay oder anderen Sektoren des Handels und Vertriebs Arbeitenden sind sicher die erste Ansprechadresse für die Beschäftigen bei GKK oder anderen Ketten auf diesem Weg.
Ein erster Schritt im gemeinsamen Kampf der gesamten Branche müsste die Anpassung und Erhöhung der Tarife auf den höchsten Standard sein – konkret bei Amazon und anderen die Einführung des besser entlohnten Tarifs für den Einzelhandel, ein Ziel, für das die GewerkschafterInnen bei Amazon schon seit Jahren, bisher erfolglos gekämpft haben. Gemeinsame, flächendeckende bis hin zu politischen Streiks könnten so der praktische Beginn des Schulterschlusses von Beschäftigten in verschiedenen Formen des Handels (Laden, Kaufhaus, Online) und in der Handelslogistik werden.
Die entschädigungslose Verstaatlichung aller großen Player in diesen Brachen würde aber nicht nur ermöglichen, dass Entlassungen verhindert und die vorhandene Arbeit unter den Beschäftigten aufgeteilt wird, prekäre Arbeitsverhältnisse in tariflich gesicherte umgewandelt werden. Sie würde auch die Reorganisation des Handels und der Logistik im Interesse der KonsumentInnen und ökologischer Nachhaltigkeit ermöglichen.
Eine Fusion von Internet- und sonstiger Warenlogistik zu einem einzigen Unternehmen in Staatshand kann sicherstellen, dass Arbeits- und Öffnungszeiten verringert werden, auch ländliche Gebiete vollständige wohnortnahe Angebote wahrnehmen können. Dazu kann einerseits der Lieferservice auf Wunsch für Güter des alltäglichen Bedarfs erweitert, andererseits er auf das auch ökologisch rationale Maß zurechtgestutzt werden. Wie? Indem z. B. die im Internet bestellten Artikel ebenso schnell wie bisher oder zügiger entweder im nächstgelegenen Laden abgeholt werden können, wo sie vorrätig sind, oder von dort Sammelauslieferungen erfolgen, sei es aus dem Lager oder nach Eingang der übers Internet bestellten gelieferten Produkte. Auf diese Weise erfolgt die Feinverteilung an der Basis, in der Fläche und die Großlieferung wie bisher über Großhandel bzw. Fabrik an den Einzelhandel einschließlich der von KundInnen im Internet bestellten Güter. Dieser integrierte Distributionssektor, der schon Formen einer zukünftigen, sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen würde, spart nicht nur Arbeitszeit, sondern auch Verpackungsmüll und Treibstoff. Ein in der ganzen Republik flächendeckendes Angebot, also auch in Landstrichen, die schon lange Jahre weder Warenhäuser, Lebensmittelgeschäfte, (Zahn-)ÄrztInnen, Apotheken oder Restaurants und Kneipen kennen, tut das Seinige dazu mit eingesparten Wegen und Zeiten sowie einer Bevölkerung, die erstmals wieder Berücksichtigung und Wertschätzung erfährt, wie sie ihr immer schon angemessen gewesen wären.
Diese knappe Skizze müsste natürlich konkretisiert werden. Wir wollen aber mit den obigen Überlegungen deutlich machen, dass beim Kampf gegen die drohenden Massenentlassungen der politische Horizont über die Frage der Verteidigung des Bestehenden hinausgehen kann – und muss! Wenn wir der ruinösen Konkurrenz etwas entgegensetzen wollen, muss diese Auseinandersetzung mit einer positiven Vorstellung zur Reorganisation des gesamten Sektors, letztlich der gesamten Gesellschaft verbunden werden.