Alex Zora, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), Infomail 1189, 20. Mai 2022
Der folgende Beitrag wurde zuerst im Magazin FLAMMENDE veröffentlicht, das von unserer österreichischen Schwestersektion Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wird und dessen erste Nummer im Mai 2022 erschien. Wir publizieren den Text in drei Teilen. Der erste beschäftigt sich mit der Entwicklung zum Krieg.
Millionen Geflüchtete, tausende Tote, ein Land im Zentrum der Geopolitik. Mit der russischen Invasion Ende Februar wurde die Ukraine in den Mittelpunkt des Weltgeschehens geworfen. Mit Entsetzen sehen wir täglich die Bilder des Leids und Horrors in den Zeitungen. Viele sind dazu auch noch praktisch tätig geworden und haben Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt. Ein Krieg so nahe, ein Krieg in Europa, für die meisten Menschen in Österreich ist das (trotz Jugoslawiens) eine sehr neue Situation – weniger für unsere syrischen oder afghanischen Freund:innen. Umso wichtiger ist es, jetzt, da der Krieg schon seit fast zwei Monaten anhält, sich mit seinen Hintergründen zu beschäftigen und zu versuchen, eine angemessene Einschätzung der Lage zu entwickeln.
Um die aktuelle politische Situation verstehen zu können, muss man sich mit der Ukraine als modernem Nationalstaat auseinandersetzen. Sie ist – wie viele andere osteuropäische Staaten auch – ein Produkt des Kollapses der Sowjetunion. Es existierten zwar im Zuge des russischen Bürger:innenkrieges mehrere kurzlebige Staaten oder staatsähnliche Gebilde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (nur eine Minderheit beanspruchte dabei eine dezidiert ukrainische Identität), aber ab 1922 war die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der neu gegründeten Sowjetunion. Eine ausführliche Geschichte des ukrainischen Nationalismus, insbesondere seine Anbiederung unter Stepan Bandera an den Nationalsozialismus, werden wir hier nicht schreiben können. An dieser Stelle sei nur nochmal auf ihre Entstellung sowohl von westlicher wie auch von russischer Seite hingewiesen. Die Ukraine ist weder eine seit Jahrhunderten bestehende Nation, die historisch um das christlich-orthodoxe Kiew zentriert war, noch eine Erfindung von Lenin und den Bolschewiki. Wie viele andere europäische Nationen ist sie ein Produkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, komplexer sich verändernder Grenzziehungen im 20. Jahrhundert und insgesamt alles andere als ethnisch oder sprachlich sauber abgegrenzt.
Auch heute bezieht man sich noch gerne auf das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991. Damals stimmten 92,3 % der Ukrainer:innen (bei einer Wahlbeteiligung von 82 %) für ihre Unabhängigkeit. Doch so einfach ist die Sache nicht: Einerseits war die Unabhängigkeit schon im August erklärt worden, als Reaktion auf den Augustputsch konservativ-stalinistischer Generäle in Moskau, andererseits war es nicht das einzige Referendum in diesem Jahr. Im März hatten sich bei einem sowjetunionweitem Referendum 71,5 % der Ukrainer:innen (WB 83,5 %) für einen Erhalt bzw. eine Reform der Sowjetunion ausgesprochen. Gleichzeitig wurde auch hier darüber abgestimmt, ob die ukrainische Teilrepublik Bestandteil dieser neuen Sowjetunion auf „Basis der Erklärung der staatlichen Souveränität“ werden sollte – das brachte 81,7 % Zustimmung. Diese drei Abstimmungen zeigen zwei Dinge sehr deutlich: einerseits, dass die Verhältnisse damals, das nationale Selbstverständnis, dessen Auslegung in der Praxis sehr kurzlebig und wandelbar waren. Die Ereignisse überschlugen sich damals ja nicht nur in der Ukraine, sondern auch im russischen Teil der Sowjetunion und in fast allen Teilrepubliken. Andererseits ist eine Sache sehr eindeutig abzuleiten, nämlich das Bedürfnis nach nationaler Unabhängigkeit der Ukraine (auch wenn das bedeutet hätte, ein eigenständiger Teil einer neuen Sowjetunion zu werden, wie Anfang 1991 abgestimmt). Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass das Ergebnis der Unabhängigkeitsabstimmung im Dezember 1991 alles andere als eine territoriale Homogenität repräsentierte. Beispielsweise ging das Ergebnis auf der Krim nur sehr knapp für die Unabhängigkeit aus, bei gleichzeitig deutlich unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung.
Seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 gab es nur eine einzige erfolgreich durchgeführte Volkszählung. Diese aus dem Jahr 2001 ist nun zwar schon mehr als zwei Jahrzehnte alt, aber trotzdem die mit Abstand umfangreichste Feststellung von Muttersprache und ethnischer Zugehörigkeit. Hier zeigt sich sehr deutlich die Heterogenität der Ukraine. Bevor man sich die Zahlen, die hier so klar getrennt erscheinen, ansieht, sollte man aber bedenken, dass ein großer Teil der Ukrainer:innen zweisprachig lebt und deshalb eine klare Aufteilung auf dem Fragebogen einer Volkszählung einiges an Komplexität verbirgt.
Im Süden und Osten der Ukraine lebt eine relevante russischsprachige Minderheit (insgesamt ungefähr ein Drittel der Bevölkerung). Andererseits gibt es darüber hinaus im Rest des Landes auch noch eine relevante russische ethnische Minderheit (nach der Volkszählung 2001 waren das 17 %). Wichtig ist hierbei, dass diese beiden Gruppen nie deckungsgleich waren und es vermutlich heute weniger denn je sind. Der russische Muttersprachler und heutige Präsident Selenskyj ist hierfür eine gute Illustration. Die ethnischen Russ:innen sprechen zwar fast ausschließlich russisch, aber bei weitem nicht alle russisch sprechenden Menschen in der Ukraine verstehen sich als russisch. Es lässt sich davon ausgehen, dass der Trend von Menschen, die russisch sprechen und sich auch als russisch sehen, seit 2001 weiter abgenommen hat (1989 waren es noch 22 % gewesen). Einerseits weil die Krim nicht mehr Teil der Ukraine ist und hier die größte Konzentration ethnischer Russ:innen lebt, aber auch durch den brutalen Angriffskrieg Putins, der wohl viele ethnische Russ:innen in der Ukraine dazu gebracht hat, ihr nationales Selbstverständnis zu überdenken. Insbesondere, da sich der Großteil der russischen Angriffe auf den Osten und Süden konzentriert und dort die russischsprachige bzw. ethnisch russische Bevölkerung am meisten darunter leidet.
In den Jahren nach der Unabhängigkeit glich die Entwicklung in der Ukraine der vieler anderer osteuropäischer Staaten. Die verstaatlichte Wirtschaft wurde einer „Schocktherapie“ mit massiven Privatisierungen, Deregulierungen und dem Rückbau sozialer Absicherungen unterzogen. Für den Lebensstandard in der Ukraine war das verheerend. Von 1990 bis 1995 sank die Lebenserwartung um fast vier Jahre – erst 2011 sollte wieder das Niveau von 1989 erreicht werden. Auch die Wirtschaftsleistung ging massiv zurück. Nahezu die gesamten 1990er Jahre lang schrumpfte die Wirtschaft Jahr für Jahr – erst 2005 sollte wieder die Wirtschaftsleistung von 1989 erreicht werden. Auf dem Höhepunkt lebten in den 1990er Jahren mehr als 50 % der Menschen in der Ukraine in Armut (entspricht weniger als 5,5 US-Dollar/Tag nach Kriterien der Weltbank).
Gleichzeitig profitierte eine kleine Elite an Kapitalist:innen massiv. Sie nutzte dabei die Schleuderpreise, mit denen die staatliche Industrie privatisiert wurde, aus und häufte riesige Reichtümer und Macht an. Da es während der Zeit der Sowjetunion keine Klasse an Kapitalist:innen, sondern nur eine herrschende, parasitäre Bürokratie gab, musste sich die ukrainische Bourgeoisie erst einmal als herrschende Klasse konstituieren. Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern war auch hier der Weg als Oligarchie naheliegend. Die einflussreichen Unternehmer:innen übten zudem gleichzeitig die wichtigsten politischen Ämter (Präsidentschaft, Gouverneur:innen der Oblaste etc.) aus. Die Oligarch:innen waren dabei oft nach ihren politischen, ökonomischen und finanziellen Verbindungen in einen auf den Westen und einen auf Russland ausgerichteten Teil gespalten. An der Regierung wechselten sich „prorussische“ und „prowestliche“ Präsidenten ab.
Als der „prorussische“ Präsident Wiktor Janukowytsch im Herbst 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzte, kam es – vor allem in Kiew und den westlichen Landesteilen – zu Massenprotesten und der Besetzung des Kiewer Maidan (Unabhängigkeitsplatz). Am Anfang trug die Bewegung noch einen widersprüchlichen Charakter. Einerseits stellte sie es eine populäre Massenbewegung dar, angetrieben durch die Unzufriedenheit mit der Korruption der Regierung und den allgemein schlechten Lebensbedingungen der ukrainischen Massen, andererseits verfolgte sie implizit und explizit reaktionäre Ziele: Erleichterung der Ausbeutungsbedingungen für westliches Kapital durch wirtschaftliche und politische Assoziierung mit der EU. Doch recht bald wurde klar, dass die ukrainische Rechte und im Besonderen auch offen faschistische Kräfte auf der Straße eine offene linke Präsenz in den Protesten verunmöglichten. Nahezu das gesamte Spektrum der politischen Rechten war stark vertreten (nur die prorussische blieb den Protesten fern). Das reichte von den Schlägertrupps des neonazistischen Rechten Sektors bis hin zur im Parlament vertretenen rechtsradikalen Partei Swoboda (die auch ihre eigenen Schlägertrupps auf dem Maidan organisierte). Versuche von „kommunistischen“ (Borotba; Kampf) und anarchistischen (Tschorna Sotnia; schwarze Hundertschaft) Kräften, dort eine linke Präsenz zu etablieren, wurden durch die offene Militanz faschistischer Kräfte zunichtegemacht. Das Kräfteverhältnis kippte sehr bald klar in Richtung der nationalistisch-neoliberalen Kräfte des „pro-westlichen“ Establishments auf der politischen Ebene und zugunsten der organisierten faschistischen Banden auf der Straße. Die westlichen Staaten, allen voran die USA, unterstützten die Proteste politisch, logistisch und finanziell – was aber nicht zum verkürzten Schluss führen sollte, dass das der einzige oder auch wichtigste Grund für die Proteste war.
Der Versuch der Regierung Janukowytsch, mit massiver Repression die Proteste niederzuschlagen, führte nur dazu, dass eine Welle der populären Empörung die Bewegung noch weiter befeuerte. Mitte Februar eskalierte dann die Situation, es wurden dutzende Protestierende und Polizist:innen durch bislang nicht eindeutig geklärte Scharfschütz:innen ermordet. Das Resultat war die Radikalisierung der Proteste und die Desintegration des staatlichen Repressionsapparates. Janukowytsch floh aus dem Land und es kam zur putschartigen Absetzung seiner Regierung – außerhalb des regulären Prozesses der Verfassung der Ukraine. Das Resultat war die Errichtung einer prowestlichen Interimsregierung unter dem der US-Bourgeoisie nahestehenden neoliberalen Nationalisten und Ex-Banker Arsenij Jazenjuk.
Die neue Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Sie schlug sofort einen klar ukrainisch-nationalistischen Kurs ein. Die Prioritäten ihrer ersten Tage waren eindeutig: Am zweiten Tag wurde das 2012 eingeführte Sprachengesetz, welches es Regionen ermöglichen sollte, andere Sprachen als Ukrainisch als Amtssprache zu etablieren, zurückgenommen. In der ersten Woche wurden „prorussische“ Gouverneur:innen bzw. Bürgermeister:innen abgesetzt und gesetzlich verfolgt. Schon bald wurden Gesetze zur sogenannten „Dekommunisierung“ (also dem Aufräumen mit der sowjetischen Vergangenheit in allen Aspekten der Gesellschaft) beschlossen. Die Kommunistische Partei der Ukraine und andere Linke wurden nach und nach unterdrückt und unliebsame Medien verboten.
Der russische Imperialismus nutzte das folgende Chaos in den Tagen nach dem Sturz von Janukowytsch dazu, die Halbinsel Krim, die mehrheitlich von ethnischen Russ:innen bewohnt und nahezu vollkommen russischsprachig war, zu annektieren. Trotz der komplett reaktionären Art und Weise, wie diese Annexion stattfand, dürfte doch recht wenig Zweifel darüber bestehen, dass eine große Mehrheit der dortigen Bevölkerung eine Abtrennung von der Ukraine unterstützte. Auf der einen Seite – trotz eines teilweisen Boykotts der Abstimmung – gab mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihre Stimme zum Beitritt zu Russland ab (Wahlbeteiligung eingerechnet), auf der anderen Seite war die Krim seit mehr als hundert Jahren mehrheitlich von Menschen bewohnt, die nicht nur fast ausschließlich russisch sprachen, sondern sich auch mehrheitlich als russisch identifizierten. Für den russischen Imperialismus war und ist die Krim strategisch und militärisch essenziell, war sie doch der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte und wesentlicher Kontrollpunkt des Asowschen Meeres.
Die drohende und real stattfindende Unterdrückung der russisch(sprachig)en Minderheit führte auch in den anderen östlichen und südlichen Regionen der Ukraine sogleich zu einer Gegenbewegung auf der Straße. Anfangs war sie von einer diffusen Sowjetnostalgie, Ablehnung der faschistischen Banden sowie einem russlandfreundlichen Kurs geprägt. Das drückte sich in der zweitgrößten ukrainischen Stadt, Charkow (ukr.: Charkiw), zum Beispiel darin aus, dass die anfangs größten Mobilisierungen zum Schutz des Lenin-Denkmals auf dem Hauptplatz Charkows stattfanden.
In den Städten mit großen Teilen russischsprachiger Bevölkerung (Charkow, Odessa, Donezk, Lugansk [ukr.: Luhansk] etc.) nahmen diese Proteste Massencharakter an. Teilweise wurden die Gebäude der Regionalregierung besetzt. Gleichzeitig mobilisierten die faschistischen Teile der Maidan-Bewegung massiv in die östlichen und südlichen Gebiete und es kam zu militanten Auseinandersetzungen auf der Straße. Spätestens mit dem Massaker in Odessa am 2. Mai 2014, bei dem 42 Menschen in einem von rechten Fußball-Hooligans und Faschist:innen angezündeten Gewerkschaftsgebäude zu Tode kamen, war der Weg in den Bürger:innenkrieg kaum noch zu stoppen.
Die ukrainische Regierung konnte sich hierbei nur in geringem Maße auf die aus Wehrpflichtigen bestehenden Streitkräfte verlassen und diverse Freiwilligeneinheiten, rekrutiert aus den militanten Teilen der Maidan-Bewegung, sprangen in die Bresche. Teilweise finanziert aus der privaten Tasche von Oligarch:innen wie Igor Kolomoisky (ukr.: Ihor Kolomoyskyi) (Aidar, Dnipro I und Dnipro II) oder Serhiy Taruta (Asow), wurden zusätzlich zu den Freiwilligen auch international Söldner:innen rekrutiert. Insbesondere das Aidar- und das Asow-Bataillon rekrutieren hierbei kräftig in der europäischen Neonazi-Szene. Sehr bald wurden die meisten dieser Freiwilligeneinheiten in die regulären ukrainischen Streitkräfte integriert. Das offen neonazistische Asow-Bataillon, das im September zum Regiment aufgestuft worden war, wurde ab November 2014 Teil der ukrainischen Nationalgarde.
Die Rebell:innen im Osten rekrutierten sich anfangs in erster Linie aus der lokalen Bevölkerung. Recht bald bekamen sie aber die tatkräftige Unterstützung des russischen Imperialismus, der Freiwillige bereitwillig in die Ukraine zum Kämpfen gehen ließ. Spätestens Ende des Sommers 2014 dürften auch reguläre russische Truppen zum Einsatz auf ukrainischem Territorium gekommen sein. Sehr bald konnte so der russische Imperialismus die anfangs fortschrittliche, antifaschistische Bewegung in der Ukraine für sich vereinnahmen.
Der Bürger:innenkrieg im Donbass brachte vor allem den östlichen Regionen verheerende Zerstörungen, tausende starben und noch viele mehr mussten flüchten. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs konnten gemeinsam mit Russland dann Anfang 2015 in Minsk ein Waffenstillstandsabkommen aushandeln, das die Kampfhandlungen zwar reduzieren, aber nicht vollkommen beenden konnte. Vor allem die politischen Punkte, die unter anderem eine Verfassungsreform der Ukraine hin zu einer Dezentralisierung vorsahen, wurden nie umgesetzt.
Spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends erlebte der russische Imperialismus unter Wladimir Putin eine Renaissance. Damit verbunden war eine Auseinandersetzung mit der EU (hier insbesondere dem deutschen Kapital) und den USA über Märkte und Einflusszonen in Osteuropa. Die Ukraine war zu Sowjetzeiten eines der Herzstücke der landesweiten Industrie und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren ukrainische und russische Industrie weiterhin eng verbunden. Dem Westen war das natürlich ein Dorn im Auge und er versuchte, das Land für das internationale Kapital zu öffnen. Schon in den Protesten 2004/05, die als Orangene Revolution bekannt wurden, zeichnete sich diese Auseinandersetzung ab. Die ukrainischen Kapitalist:innen mussten sich fortan entscheiden, ob sie sich lieber dem Westen oder Russland unterordnen wollten.
Doch auch die Politik „des Westens“ war und ist alles andere als einhellig. Vor allem das deutsche Kapital war traditionell wirtschaftlich eng an den russischen Imperialismus angebunden, sein Energiebedarf wird zu guten Teilen mit russischem Gas gedeckt. Eine relevante Fraktion des deutschen Kapitals sah in Russland auch einen möglichen Partner, um sich unabhängiger vom US-Imperialismus machen zu können. Gerhard Schröder ist der beste Repräsentant dieser Politik. Die USA waren wirtschaftlich hingegen nicht wirklich auf Russland angewiesen und konnten sich dadurch aggressiver positionieren. Sie drängten zum Beispiel 2014 und danach auf harte Sanktionen gegen es, nicht nur um dem russischen Imperialismus zu schaden, sondern auch gleichzeitig das deutsche Kapital und seine Absatzmärkte zu schwächen bzw. von Russland abzukoppeln. Diese innerimperialistischen Widersprüche führten dazu, dass das Abkommen von Minsk nur von Deutschland und Frankreich – ohne Beteiligung der USA – ausverhandelt wurde.
Die durch den Maidan und die darauffolgenden Wahlen eingesetzte Regierung war wenig populär. Präsident Poroschenko, der die Wahlen 2014 klar für sich entschieden hatte, war recht bald unbeliebter als sein Vorgänger Janukowytsch. Große Teile der Bevölkerung waren von der Maidan-Bewegung und den leeren Versprechungen des Westens von Modernisierung und Wohlstand desillusioniert. Bei den Wahlen 2019 konnte der jüdische, russischsprachige TV-Comedian Selenskyj die Wahlen für sich entscheiden – eine klare Absage an das politische Establishment. Doch so einfach war es nicht. Er profitierte enorm von der Unterstützung eines der reichsten Ukrainer – Igor Kolomoisky. Die TV-Serie von Selenskyj lief auch auf dessen TV Sender „1+1“. Recht bald erwies sich auch Letzterer als unfähig und unwillig, die Probleme des Großteils der Ukrainer:innen zu lösen. Das ist auch nicht verwunderlich, da er dem Druck des rechtsnationalistisch durchsetzten ukrainischen Staatsapparats sowie der Gnade des westlichen Kapitals und seiner Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds schutzlos ausgeliefert war.
Er hatte zwar als Außenseiter die Wahlen gewonnen, setzte aber mehr oder weniger den politischen Kurs seiner Vorgänger fort. Hatte er ursprünglich versprochen, den Krieg im Osten des Landes zu beenden und auf Verhandlungen mit Russland zu setzen, führte er ihn stattdessen fort und duldete die Rolle faschistischer Milizen im Kampf gegen die „Separatist:innen“. Er versuchte, die Ukraine in die Europäische Union und NATO zu bringen, und verfolgte den offenen Antikommunismus weiter. Er wurde zum treuen Diener des westlichen Kapitals. Ende 2021 war seine Zustimmungsrate auf weniger als ein Drittel gefallen – und das, obwohl er die Wahlen zwei Jahre zuvor mit eindrucksvollen 72 % für sich entscheiden konnte.
Die Entscheidung Putins zum Angriff auf die Ukraine ist keineswegs vollkommen oder auch nur hauptsächlich dadurch zu erklären, dass er wahnsinnig geworden sei oder gegen Ende seines politischen Lebens auf seinen Platz in den Geschichtsbüchern bedacht wäre. Diese psychologistischen Erklärungsmuster westlicher Kommentator:innen sind alles andere als wissenschaftlich fundiert. Den Krieg durch die ideologische Rechtfertigung des Überfalls seitens des Präsidenten – dass die Ukraine eine künstliche Nation wäre und eigentlich Teil einer großen russischen Volksgemeinschaft – zu erklären, ist genauso unzureichend. Viel relevanter sind hier ökonomische wie geopolitische Faktoren.
Teil 2 des Artikels wird sich mit diesen näher befassen.