Arbeiter:innenmacht

Warum wir für Staatsbürger:innenrechte für alle und offene Grenzen kämpfen müssen

Dilara Lorin, Neue Internationale 281, April 2024

Ob Bezahlkarten, Seenotrettung oder die Verschärfung der Asylgesetze – die Lage für Geflüchtete verschlechtert sich stetig. Während an den Außengrenzen Europas weiter fleißig aufgerüstet wird, um mehr Pushbacks und Gewalt durchsetzen zu können, hat sich In den letzten Jahren die Debatte immer mehr nach rechts verschoben, sei es die sogenannten bürgerlichen Mitte – oder auch innerhalb der Linken. Mit dem Weggang Wagenknechts hat die Linkspartei die Forderungen nach offenen Grenzen ihrerseits wieder präsenter in den Fokus gerückt, doch mittlerweile hört man häufiger dass „man realistisch denken“ muss. Warum das Schwachsinn ist und offene Grenzen, sowie Staatsbürger:innenrechte für alle notwendige Forderungen für alle fortschrittlichen Kräfte sein müssen, legen wir im folgenden dar.

Warum kämpfen wir für offene Grenzen?

Bewegungsfreiheit, sichere Fluchtwege und offene Grenzen: Für sich genommen, sind das reine demokratische Forderungen, die oftmals aufgeworfen werden, da sie als „moralisch richtig“ erscheinen. Für Marxist:innen steckt aber mehr dahinter: Grenzen sind untrennbar mit der Existenz kapitalistischer Nationalstaaten verbunden, welche wiederum die Aufgaben besitzen das Kapital zu verwalten und die Besitztümer der Herrschenden zu schützen. Für das Aufrechterhalten des kapitalistischen Systems ist dabei der Nationalstaat eine wesentliche Stütze, welche ohne gezogene Grenzen so nicht existieren könnte. Die Grenzen definieren den den inneren Marktes und Raum der politischen Macht im Land.

Diese Nationalstaaten existieren dabei nicht im luftleeren Raum, sondern sind Teil des imperialistischen Weltsystems. Der Großteil der Fluchtursachen – sei es Krieg, Armut, Umweltkatastrophen – sind selbst Folgen der Überausbeutung der halbkolonialen Welt durch imperialistische Nationen. Deswegen ist es unumgänglich für offene Grenzen einzustehen. Alles andere würde bedeuten, sich auf die Seite der eigenen Imperialistischen Interessen zu stellen und die Spaltung, die durch Nationalstaaten innerhalb der Arbeiter:innenklasse reproduziert wird sowie die Überausbeutung in den Halbkolonien, aufrechtzuerhalten.

Deswegen muss aktiv dagegen vorgegangen werden. Schließlich finden alle politischen Kämpfe im Rahmen eines global vernetzten kapitalistischen Weltsystems statt. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei „Internationalismus“ die Summe verschiedener Klassenkämpfe, verstehen wir das nicht so. Vielmehr bilden der Weltmarkt und das kapitalistische System eine Totalität, die selbst den Nationalstaaten ihren Platz in einer globalen Ordnung zuweise und die politischen, ökonomischen und ideologischen Entwicklungen in den Ländern maßgeblichen prägt. Nur vor diesem Hintergrund kann der Klassenkampf in einer Nation wirklich begriffen werden, nur vor diesem Hintergrund erklären sich auch die „nationalen Spezifika“.

Im Gegensatz zur Bourgeoisie hat die Arbeiter:innenklasse international objektiv das gleiche Interesse – die Abschaffung der mit dem Kapitalismus einhergehenden Ausbeutung und damit auch aller die Klasse trennenden Grenzen. Die Bourgeoisien aller Länder hingegen verteidigen zwar die bestehende Ordnung – und tun das auch bis zu einem gewissen Grad koordiniert. Aber zugleich stehen sie zueinander als Kapitalist:innen in Konkurrenz. Für sie bildet der Nationalstaat nicht nur einen Rahmen für ihr agieren, sondern auch ein unterlässliches Mittel in der Weltmarktkonkurrenz – bis hin zum politischen und militärischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Damit die Arbeiter:innenklasse erfolgreich sein kann, muss sie sich aber auf internationaler Ebene organisieren. Man kann daher auch von einem Gesamtinteresse der Arbeiter:innenklasse auf internationaler Ebene sprechen. Deswegen müssen nicht nur alle Ereignisse im Klassenkampf in ihrer Ursache Wirkung im internationalen Geschehen betrachtet werden und Internationalismus als Grundlage der eigenen Politik verstanden werden. Es bedeutet auch, dass die Spaltungen, die innerhalb der Klasse existieren – auch auf internationaler Ebene – aktiv bekämpft werden müssen.

Das ist an dieser Stelle kein reiner Automatismus. Die kapitalistische Konkurrenz  sorgt dafür, dass in imperialistischen Zentren auch Teile der Arbeiter:innenklasse – oftmals Arbeiter:innenaristrokatie, sowie Arbeiter:innenbürokratie – von besagter Überausbeutung profitieren. Praktisch wird das an der Politik der „Standortsicherung“ oder dem „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit“ sichtbar.

Warum sind Staatsbürger:innenrechte für alle notwendig?

Weniger populär, aber ebenso notwendig ist die Forderung nach Staatsbürger:innenrechte für alle. In der Vergangenheit wurde in der Refugee- oder Antirassismusbewegung immer wieder das Bleiberecht gefordert. Dies ist an sich nicht verkehrt, aber mehr als unzureichend. Warum?

Zum einen ist Bleiberecht eine minimale Forderung, die letzten Endes dazu führt, dass man hier nur „geduldet“ wird und defacto als Mensch zweiter Klasse in unserer Gesellschaft lebt. Denn Bleiberecht bedeutet nicht automatisch, dass man einen unbegrenzten Aufenthaltstitel hat. Rechtlich ist es der Status davor, der impliziert, dass man jederzeit wieder abgeschoben werden kann. Somit werden sie effektiv vom politischen Leben ausgeschlossen. Arbeiten darf man zwar, aber Einfluss nehmen, wer im Parlament sitzt und über die eigene Zukunft entscheidet? Das ist nicht drinnen.

Dabei denken wir, dass Staatsbürger:innenrechte für alle, die sinnvollere Forderung im Kampf sein muss. Nicht nur weil alle Menschen die gleichen Möglichkeiten und Rechte haben sollten, unabhängig von ihrer Herkunft oder Nationalität, sondern auch weil durch diese Forderung die rassistische Selektion auf Basis der Herkunft verhindert. Denn auch wenn man es bei der aktuellen Hetze kaum glauben mag – der Kapitalismus ist auf Migration angewiesen. Dabei findet die Selektion daran statt, ob man dem Interesse des Arbeitsmarktes gerecht wird oder nicht. Den Aufenthalt zu begrenzen – und zu entrechten, sorgt dafür, dass Menschen den Konjunkturschwankungen noch stärker ausgeliefert sind, ihr Aufenthaltstitel immer prekär ist bis hin zur Abschiebung, wenn sie für den Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden.

Schließlich bedeutet der Kampf für Staatsbürger:innenrechte für alle nicht anders als die Forderung nach Abschaffung jeder rechtlichen und politischen Benachteiligung von Migrant:innen und Geflüchteten. Damit sie als Mitkämpfer:innen in den Klassenkampf voll miteinbezogen werden, müssen wir auch darum kämpfen, dass sie alle demokratischen Rechte ausüben können – insbesondere das Recht auf politische und gewerkschaftliche Betätigung, darunter das das aktive und passive Wahlrecht.

Natürlich heben die demokratischen Forderungen – offen Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte – die gesellschaftliche Unterdrückung und Diskriminierung der Migrant:innen noch nicht auf. Sie sind aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Kampf gegen die Unterdrückung wirklich erfolgreich geführt werden kann. Alles andere läuft – ob man das will oder nicht – letztlich auf eine Festschreibung entweder auf eine Selektion von Menschen, die einreisen dürfen oder nicht, oder auf die Fortschreibung rechtlicher Benachteiligung hinaus – Formen der Unterdrückung, die nebenbei bemerkt, vor allem die Lohnabhängigen treffen.

Und wie realistisch ist das?

Jene, die den Realismus fordern, werden an der Stelle natürlich nicht abgeholt werden sein. Zu Ihnen soll zuerst gesagt werden: Realistisch ist, sich anzuschauen, was notwendig ist, um gemeinsam den Klassenkampf führen zu können. Es ist dabei bezeichnend, dass Reformist:innen und andere „Realist:innen“ hier direkt radikale demokratische Forderungen ablehnen, nur weil sie selbst die Funktionsweise der nationalstaatlichen Kontrolle der Bewegung der Arbeitskraft auf internationale Ebene in Frage stellen.

Der Reformismus offenbart hier seinen bürgerlichen Charakter selbst auf dem Gebiet der demokratischen Reform, scheut er doch im Namen des Realismus vor dem konsequenten Kampf für tatsächliche Verbesserungen zurück.

Auch das Argument, dass – vor allem im Angesicht des Rechtsrucks – das Bewusstsein der Klasse noch nicht „bereit“ genug ist, ist an dieser Stelle fadenscheinig, vor allem von Organisationen, die für den Sozialismus eintreten. Denn von Revolution oder Sozialismus sind nicht weniger „unrealistisch“ als die Forderung nach offen Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle. Vielmehr ist vor allem angesichts des Rechtsrucks und der damit einhergehenden notwendig eine klare, internationalistische Perspektive hereinzutragen und für eine antirassistische Bewegung einzustehen.

Dabei ist die Verbindung entscheidend von demokratischen und klassenspezisischen Forderungen zentral, um der Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen entgegenzuwirken. Die Reichen sollen zahlen! Es sind nicht die Geflüchteten, die das Problem sind. Statt den Hass auf diese zu lenken und Angst zu schüren, dass sie Arbeit oder Wohnraum wegnehmen, ist die Perspektive klar: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Enteignung des leerstehenden Wohnraums und Spekulationsobjekten, um die Wohnungsnot unmittelbar zu lindern. Wir müssen für Verbesserungen für alle eintreten und gleichzeitig gegen den für sichere Fluchtwege, offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle!  Wenn der Kapitalismus das Versprechen der „Einheit aller Menschen“ nicht einhalten kann, dann brauchen wir eine Revolution, die die Grenzen einreißt.

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