Arbeiter:innenmacht

BRD und Frankreich: Kampf um das Abtreibungsrecht

Jürgen Roth, Neue Internationale 282, Mai 2024

Am 1. März nahm der französische Kongress, die gemeinsame Tagung beider Parlamentskammern, mit deutlich mehr als der nötigen Dreifünftelmehrheit das Recht auf Abtreibung in die Verfassung auf. Auch in Deutschland empfahl eine von der Ampelkoalition eingesetzte Kommission am 15. April die Straffreiheit und damit Streichung des § 218 aus dem BGB. Doch die Ampel zögert, dieser längst überfälligen Reform zu folgen.

Rechtslage in der BRD

Erinnern wir uns: In der DDR galt ab den 1970er Jahren ein Recht auf Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche (Fristenlösung). Nach der Wiedervereinigung erstreckte sich eine Übergangsfrist im Beitrittsgebiet bis Ende 1994. Ab 1995 galt dann für die gesamte Bundesrepublik die heutige Regelung mit Zwangsberatung.

Abtreibung war damit weiterhin bzw. wieder illegal, allerdings blieben Schwangere und Ärzt:innen bei Einhaltung dieser Bedingungen – Zwangsberatung, Abbruch bis zur 12. Woche – von Strafverfolgung verschont. Für Frauen in der ehemaligen DDR stellte die Reform einen Rückschritt dar, für die in der alten BRD eine, wenn auch eng begrenzte, Verbesserung.

Kommissionsvorschläge und die Ampel

Die von der Ampelkoalition eingesetzte 18-köpfige Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin legte Mitte April ihre Empfehlungen vor. Zu diesen gehört, dass sie unter bestimmten Umständen auch Eizellspenden und Leihmutterschaft für zulässig hält. Ihr Mitglied, Frauke Brosius-Gersdorf, bemängelte zu Recht, dass Abtreibung immer noch Unrecht sei. Eine Änderung der Rechtslage sei für betroffene Frauen alles andere als eine Formalie, zumal die auch Auswirkungen auf die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen habe. Die Expert:innenkommission empfahl auch eine Ausweitung der Frist über 3 Monate hinaus in Fällen von auf Sexualdelikte zurückgehenden Schwangerschaftsabbrüchen. Ihren Vorschlägen können revolutionäre Kommunist:innen in allen Fällen – einschließlich Eizellspenden und Leihmutterschaft – nur beipflichten, auch wenn sie insgesamt nicht weit genug gehen.

Doch die Ampel schaltet auf Gelb, auf Abwarten. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz nach Vorlage des Kommissionsgutachtens mit Justizminister Buschmann (FDP), Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) und Familienministerin Paus (Grüne) zog diese kleine Ampel vorsorglich die Bremse an. Lauterbach meinte, man brauche erstmal einen breiten gesellschaftlichen wie parlamentarischen Konsens vor der Umsetzung. Der Justizminister betonte, für Aussagen zur Umsetzung der Empfehlung sei es noch zu früh. In dieser Legislaturperiode wird es also wohl nichts mehr mit der Streichung des Paragraphen aus dem Gesetzbuch, wenn zuvor die Zustimmung mindestens der Union eingeholt werden muss. DIE LINKE wird sich ja sicher nicht querstellen.

Rote Karte von der Bischofskonferenz

Frauenverbände und Initiativen begrüßten die Kommissionsempfehlungen. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz äußerte dagegen Besorgnis über deren Umgang mit dem Recht des Ungeborenen auf Leben und Menschenwürde. Das ist sicher keine Überraschung, stellen doch diese klerikalen Heuchler das Leben des Ungeborenen stets über das der Lebenden, das Recht des Patriarchats über jenes der Frauen, besonders das Recht auf Menschenwürde und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Auch eine zukünftige kommunistische Gesellschaft muss Letzteres uneingeschränkt akzeptieren. Alles andere liefe auf Gebärzwang hinaus.

Übrigens: 72 % der Bundesbürger:innen – im Osten 81 % – befürworten eine vollständige Legalisierung von Abbrüchen innerhalb der ersten 12 Wochen!

Fazit: In Deutschland läuft selbst diese bürgerlich-demokratische Minireform Gefahr zu versanden, obwohl es eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung dafür gäbe. Doch statt wenigstens einmal eine wirklich populäre und fortschrittliche Reform zu beschließen, nimmt die Bundesregierung auf Kosten der Frauen Rücksicht auf die reaktionärsten Kräfte in der Gesellschaft. Das bildet einen grundlegenden Charakterzug der Bundesregierung.

Verfassungsrecht in Frankreich: ein Teilsieg

Ein ganzes Stück weiter auf der Skala bürgerlichen Rechts ist der westliche Nachbar gerückt. Frankreich ist das erste Land in der EU, das den Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert hat. Das ist nicht geringzuschätzen und stellt einen wohltuenden Kontrast zur Entwicklung in den USA, in Italien, Polen und Ungarn dar.

Letztere hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Frauenverbände und linke Parteien das Recht auf Schwangerschaftsabbruch praktisch unumkehrbar durch Dekrete oder Gesetze gestaltet haben. 8 von 9 Franzosen und Französinnen befürworteten unter dem Eindruck o. a. jüngster Entwicklungen die Verankerung in der Verfassung.

Der Druck der mobilisierten Bevölkerung war so stark, dass Präsident Macron bereits auf einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag 2023 verlauten ließ, die Regierung werde ein Gesetz zur „Konstitutionalisierung“ vorlegen.

Senatsbremse gelöst

Von da an schien es allerdings, als würde er selbst nicht an die Erfolgsaussichten glauben. Die Gesetzesvorlage fand zwar schnell in der Nationalversammlung eine große Mehrheit, doch in der 2. Kammer, dem Senat, spielten sich erbitterte Auseinandersetzungen ab. Senatspräsident Gérard Larcher und die rechte Oppositionspartei „Les Républicains“ wollten das Projekt mit der Begründung zu Fall bringen, eine Verfassungsänderung sei angesichts verbreiteter Praxis des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch unnötig. Außerdem dürfe man das Grundgesetz nicht zu einem „Katalog von gesellschaftlichen Ansprüchen“ werden lassen. Zu was denn sonst, möchte man fragen, zumal sich in einem solchen „Katalog“ „nur“ gesellschaftlich gängige Praxis abbildet!

Doch in monatelangen Auseinandersetzungen bröckelte die Ablehnungsfront. Angeblich hatten die Töchter mehrerer Senator:innen angedroht, nicht mehr mit ihnen zu reden, sollten sie gegen den Vorschlag stimmen. Schließlich rückte selbst Larcher öffentlich von seinem früheren Standpunkt ab und im Senat stimmten von früher 150 jetzt nur noch 50 Abgeordnete dagegen.

Das Ende der republikanischen Fahnenstange

Anlässlich der Abstimmung im Kongress am 1. März fand auf dem Pariser Trocadéroplatz eine riesige Freudenfeier, organisiert von Frauenverbänden, statt. Als nächstes Ziel setzten sie sich die EU-weite Durchsetzung des Abbruchrechts per Europaparlament und EU-Rat. So sehr das auch zu begrüßen ist, so sehr verlagert es den Kampf ums Abtreibungsfreiheit auf die parlamentarisch-konstitutionelle Ebene und ignoriert damit die entscheidenden Mobilisierungen bei deren Zustandekommen im eigenen Land. Es war die Straße, nicht der Sitzungssaal oder das Kommissionshinterzimmer, der die Französ:innen eine bedeutende demokratische Reform zu verdanken haben. Das hehre Ziel der Feiernden droht mit dieser Einstellung, auf dem langen Marsch durch die Institutionen ebenso steckenzubleiben wie im oben geschilderten Fall des östlichen Nachbarn.

Auch in Fragen der Abtreibung reicht die beste bürgerlich-demokratische Reform außerdem nicht aus, um das Leben der breiten, arbeitenden Masse der Bevölkerung nachhaltig zu verändern. Nehmen wir zur Einfachheit der Erläuterung als Beispiel – Frankreich!

Um das garantierte Recht für besagte überwältigende Mehrheit nicht zum wertlosen Fetzen Verfassungspapier geraten zu lassen, muss die Regierung zu seiner praktischen Umsetzung gezwungen werden. Es müssen Einrichtungen geschaffen und finanziert werden, wo eine ausreichende Zahl von Mediziner:innen diese Eingriffe sachgerecht und kompetent vornimmt. Die psychologische Betreuung der Schwangeren bzw. Abtreibenden in Vor- wie Nachsorge sei hier nicht an letzter Stelle genannt.

Die einschlägigen Berufsverbände verweisen jedoch darauf, dass der Zug in umgekehrte Richtung fährt. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden in den letzten Jahren in Frankreich 130 solcher Zentren geschlossen! Deshalb – und weil viele Ärzt:innen die gesetzliche Gewissensklausel in Anspruch nehmen – fehlt es vielerorts an Personal, das diese Eingriffe sicher und schonend vornehmen kann. Wenn die Lohnarbeiter:innenklasse in ihrem eigenen und dem Interesse v. a. aller anderen Werktätigen handeln will, muss sie also über die bürgerlich-demokratische Fahnenstange hinauslangen.

Deren Ende ist der Beginn einer materiellen Absicherung dieses Rechts für alle, also auch aller lohnabhängigen Frauen. Heute heißt das: für eine frei zugängliche und kostenfreie Abtreibung für alle zu kämpfen, für ausreichend personell ausgestatte staatliche Einrichtungen unter Arbeiter:innenkontrolle. Finanziert werden müssen diese entweder durch eine Progressivsteuer auf Einkünfte, Vermögen und Gewinne bzw. durch gesetzliche Krankenversicherungspflicht für alle.

Der 3. und entscheidende Schritt: Sozialisierung der Haus- und Sorgepflichten!

Selbst die radikale Linke geht zum Großteil nicht über das Vehikel bürgerlich-demokratischer Reform hinaus. Doch genau das ist notwendig, wenn das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zur Realität werden soll, auch für die lohnabhängigen und rassistisch unterdrückten Frauen. Denn wie frei kann die Entscheidung einer Frau in einer Gesellschaft ausfallen, die nicht nur die private Verrichtung von Haus- und Sorgearbeit duldet, sondern auf ihr ebenso fußt wie auf der Lohnarbeit? Vergesellschaftung kennt die bürgerliche Gesellschaft nur indirekt, in der Warenproduktion für einen anonymen Markt.

Eine sozialistische Umwälzung wird vordringlich den Sektor der scheinbar nicht zur ökonomischen Sphäre gehörenden vier Wände gründlich umkrempeln müssen. Sie gehört ebenso direkt und von vonherein geplant vergesellschaftet wie die der ehemaligen Warenproduktion! Erst dann kann eine Frau wirklich frei entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringt oder nicht, wenn sie nicht allein aufgrund biologischer Mutterschaft zur alleinigen Sorge um es verdammt ist, es quasi als leibliches Privateigentum zu betrachten und behandeln hat. Den Kampf dafür können und dürfen wir jedoch nicht auf eine zukünftige Gesellschaft aufschieben, sondern müssen wir vielmehr jetzt – siehe oben entwickelte Forderungen – aufnehmen.

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