Arbeiter:innenmacht

Der Krieg in der Ukraine zwei Jahre nach der russischen Invasion

Gemeinsame Erklärung der Internationalen Sozialistischen Liga (ISL), der Internationalen Trotzkistischen Oposition (ITO) und der Liga für die Fünfte Internationale (L5I), 27. April 2024, Infomail 1253, 4. Mai 2024

Am 24. Februar jährte sich der russische Einmarsch in die Ukraine zum zweiten Mal. Er forderte Tausende von Todesopfern, Millionen von Vertriebenen und ein verheerendes Ausmaß an Zerstörung von Infrastruktur und Wohnraum.

Putins Ziel, große Teile der Ukraine zu erobern und ein moskautreues Marionettenregime zu installieren, scheiterte. Im ersten Jahr des Krieges wurden die russischen Truppen zurückgedrängt und stießen auf ukrainischen Widerstand.

Die Auseinandersetzung entwickelte sich zu einem Stellungskrieg. Das russische Militär festigte seine Linien im Donbass und in Luhansk, wo die Invasor:innen in Zusammenarbeit mit großrussischen nationalistischen Milizen einen großen Teil der ukrainischen Bevölkerung vertrieben und die Regionen der Russischen Föderation einverleibt haben. Russland besetzte auch Teile der Regionen Saporischschja und Cherson.

Trotz der massiven westlichen Sanktionen und der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine durch einen Teil der NATO-Länder konnte Russland – mit Unterstützung Chinas – nicht nur seine Wirtschaft reorganisieren, sondern auch seine Position militärisch festigen.

Die NATO dehnte sich nach Osten aus, alle Mächte erhöhten ihre Militärausgaben massiv, und diese Art von Neuem Kalten Krieg zwischen imperialistischen Mächten trat in eine neue Phase des Konflikts ein. Gleichzeitig rückten die inneren Spaltungen im westlichen Lager stärker in den Vordergrund, und die ursprüngliche Strategie – die Ukraine so weit aufzurüsten, dass sie der russischen Invasion widerstehen konnte, aber eine offene Konfrontation zwischen der NATO und Russland zu vermeiden – stieß an ihre Grenzen.

Nach zwei Jahren kann der Krieg zu drei möglichen Entwicklungen führen. Erstens, aber unwahrscheinlich, werden die NATO und der Westen ihr Engagement verstärken und offen in der Ukraine intervenieren – eine Konfrontation, die den Charakter des gesamten Krieges verändern würde, aber auch die Gefahr eines Weltkrieges birgt. Zweitens: Der Krieg geht als Stellungskrieg weiter – mit massiven materiellen Kosten, aber ohne große Bewegungen an der Front. Drittens, ein vom Imperialismus erzwungener Frieden – ob in Form einer Feuerpause, eines Waffenstillstands oder von „Verhandlungen“ – mit dem Ziel, den Konflikt einzufrieren. Alle diese drei Entwicklungen würden auf Kosten der Arbeiter:innenklasse und der Volksmassen in der Ukraine, aber auch in Russland und im Westen gehen.

Dagegen müssen Revolutionär:innen für eine gerechte und demokratische Lösung des Krieges eintreten: Russland raus aus der Ukraine, die NATO raus aus Osteuropa und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Regionen. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verbunden werden, denn nichts anderes kann einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.

Der Charakter des Krieges

Der Krieg verbindet zwei Prozesse. Einerseits die Invasion einer imperialistischen Macht in ein halbkoloniales oder nicht-imperialistisches Land, das sie historisch unterdrückt hat, und der gerechte Widerstand des ukrainischen Volkes zur Verteidigung seiner Selbstbestimmung und Souveränität. Andererseits eine konzentrierte Verschärfung des zwischenimperialistischen Kampfes zwischen der NATO und Russland, die versuchen, ihre jeweiligen imperialistischen Interessen auf Kosten des Lebens der ukrainischen und russischen Werktätigen durchzusetzen.

Der westliche Imperialismus ist seit der Auflösung der UdSSR in Osteuropa auf dem Vormarsch und hat es geschafft, seinen politischen Einfluss in der Ukraine seit 2014 zu stärken, als die USA, Großbritannien und die EU offen nationalistische, prowestliche und rechtsextreme Kräfte bei der Machtübernahme unterstützten. Die unterzeichnenden Organisationen werden weiter die unterschiedliche Charakterisierung des Maidan und des Widerstand der russischen und russischsprachigen Bevölkerung gegen ihn diskutieren. Zugleich sind wir uns einig, dass der Konflikt durch die westliche Dominanz über die Ukraine und die Übernahme der Kontrolle über die Ostukraine durch Russland nach 2014 verschärft wurde. Der daraus resultierende Konflikt hat Tausende von Menschenleben gekostet.

Im Jahr 2022 war das Motiv für Putins Invasion der Versuch, die Ukraine wieder unter die imperialistische Kontrolle Moskaus zu bringen. Die NATO und Russland verfolgen in der Ukraine das gleiche Ziel: das Land und seine Bevölkerung ihren jeweiligen imperialistischen Interessen zu unterwerfen. Die ukrainische Bourgeoisie hat mehrheitlich beschlossen, die Seiten zu wechseln und die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen  in ihrem eigenen Interesse und dem ihrer imperialistischen Unterstützer :innen fortzusetzen.

Der Großteil der ukrainischen Bourgeoisie leistete keinen Widerstand gegen die russische Invasion. In den ersten Tagen der Aggression floh eine große Zahl zentraler und regionaler Beamter und Beamtinnen aus dem Land oder kollaborierte mit den russischen Besatzer:innen. Die NATO-Mächte boten Selenskyj Asyl an, um eine „ukrainische Exilregierung“ zu bilden.

Die ukrainische arbeitende Bevölkerung nahm die Verteidigung ihres Landes selbst in die Hand und organisierte in vielen Städten und Regionen „territoriale Verteidigungskräfte“ an der Basis. Zu dieser enormen Unterstützung der ukrainischen Arbeiter:innen für den Widerstand gegen die Invasor:innen kommt noch hinzu, dass sich die ukrainische Armee im Vergleich zu 2014 in einem wesentlich besseren Zustand befand. Die westlichen Imperialist:innen hatten diese Armee so ausgerüstet und umorganisiert, dass ein effektiver Widerstand durch hochmotivierte Soldat:innen möglich war. Die ukrainische Armee hielt stand, und Selenskyj setzte sich an die Spitze der Kriegsanstrengungen. Aber das ukrainische Volk hat trotz und nicht dank der lokalen Bourgeoisie verhindert, dass die russischen Streitkräfte Kiew erreichten.

Andererseits hat die ukrainische Arbeiter:innenklasse, obwohl sie sich am Volkswiderstand beteiligte, keine eigene politische Position gegen die der ukrainischen Bourgeoisie entwickelt.

Seit 2014 hat der westliche Imperialismus die Ukraine in ein vom westeuropäischen und US-Imperialismus dominiertes Land verwandelt, einschließlich massiver militärischer Unterstützung. Nachdem der ukrainische Widerstand gezeigt hatte, dass Putin keinen leichten Sieg erringen würde, kalkulierte der westliche Imperialismus seine Chancen schnell neu und beschleunigte die ohnehin schon massive wirtschaftliche und militärische Unterstützung der Ukraine noch weiter.

Ihre Politik, an der er bis heute festhält, besteht jedoch darin, seine Unterstützung mit dem Ziel zu regulieren, Putin zu zermürben, so dass er den Krieg nicht gewinnen kann, ohne dass die Ukraine einen entscheidenden Sieg über den Eindringling erringen kann. Die imperialistischen Westmächte befürchten, dass ein Überschreiten dieser Strategie zu einem zwischenimperialistischen Krieg zwischen Russland und der NATO führen könnte.

Außerdem würde ein solcher Sieg von Millionen von Ukrainer:innen zu Recht als ihr eigener interpretiert werden, auch wenn der Westen ihn ebenfalls ausnutzen könnte. Und die Destabilisierung in Russland und ganz Osteuropa, die dies auslösen würde, könnte sich in eine Richtung entwickeln, die der vom westlichen Imperialismus angestrebten völlig entgegengesetzt ist und die Arbeiter:innen zum unabhängigen Kampf motiviert.

Präsident Selenskyj und die ukrainische Bourgeoisie haben den Krieg genutzt, um ihre gesamte Agenda gegen die ukrainischen Arbeiter:innenschaft voranzutreiben. In den letzten zwei Jahren hat die Regierung elementare Arbeits-, Gewerkschafts- und demokratische Rechte abgeschafft und eine brutale neoliberale Austeritätspolitik umgesetzt. Gleichzeitig wurde auch die erbärmliche Korruption der Bourgeoisie und ihrer politischen Kaste aufgedeckt, die sogar die Armee und die humanitäre Hilfe bestohlen haben.

Die weltweite Linke war angesichts des Krieges in der Ukraine leider gespalten. Ein beträchtlicher Teil von ihr nahm eine „parteiische“ Position im Lager des russischen Angreifers ein und stellte ihn auf die eine oder andere Weise als das kleinere Übel im Vergleich zum westlichen Imperialismus dar. Ein anderer charakterisierte den Krieg als einen rein zwischenimperialistischen Konflikt und vertrat einen falschen „Defätismus“, der sie in Wirklichkeit in das Lager des Eindringlings stellte. Ein dritter Teil der globalen Linken ging über die Unterstützung der berechtigten Selbstverteidigung der Ukraine hinaus und unterstützte die Politik der NATO oder forderte ihre Regierungen auf, dies zu tun.

Sollte ein offener Krieg zwischen den in der Ukraine intervenierenden imperialistischen Blöcken ausbrechen, würde der Kampf des ukrainischen Volkes für seine Selbstbestimmung auf eine andere Ebene verlagert. Das Ziel würde nicht verschwinden, aber es müsste durch den revolutionären Kampf gegen den imperialistischen Krieg gelöst werden.

Doch das ist derzeit nicht der Fall und wird es wohl auch in nächster Zeit nicht sein. Im Krieg um die Ukraine haben wir es nicht mit einem offenen Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten zu tun, auch wenn die Westmächte, allen voran die USA, einen großen Einfluss auf den Verlauf und die Ziele des Krieges ausüben. Für die Ukraine und ihre Arbeiter:innen und Bäuer:innen ist der Krieg jedoch nach wie vor in erster Linie ein Krieg der Selbstverteidigung gegen einen eindringenden Unterdrückerstaat. Außerhalb der Ukraine nimmt der Konflikt zwischen Russland und der NATO einen reaktionären Charakter an, dem sich Sozialist:innen entgegenstellen müssen.

Die unterzeichnenden Organisationen treten für eine prinzipielle revolutionäre Politik ein. Wir bekräftigen, dass keine imperialistische Macht fortschrittlich oder ein geringeres Übel darstellt als eine andere. Der US-Imperialismus und der von ihm angeführte Block sind immer noch die führenden Mächte der Welt. Aber Russland ist selbst eine globale imperialistische Macht und der wichtigste Unterdrückungsfaktor in der Ukraine.

Wir verteidigen den Widerstand des ukrainischen Volkes, sein Recht, diesen Kampf mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln fortzusetzen, und sein Recht auf Selbstbestimmung und Souveränität. Gleichzeitig rufen wir das ukrainische Volk auf, Selenskyj und der NATO, die, wie sie bewiesen haben, das ukrainische Volk nur ausbeuten und unterdrücken wollen, kein Vertrauen zu schenken und keine politische Unterstützung zu gewähren.

Die russische Invasion in der Ukraine ließ es zu, dass sich die NATO neu formieren und ausweiten konnte. Sie ermöglichte es den USA, eine führende Rolle in dem Block wieder einzunehmen, die zuvor ins Wanken geraten war, und die Invasion half Selenskyj, sein reaktionäres neoliberales Programm voranzutreiben. Je länger sich der Krieg hinzieht und je länger es dauert die Invasion zurückzuschlagen, desto mehr wird die Abhängigkeit der ukrainischen Regierung vom westlichen Imperialismus anwachsen und umso mehr wird Selenskyj in der Lage sein, sein reaktionäres Programm zu verfolgen.

Die Arbeiter:innenklasse verfolgt kein Interesse an einem Zermürbungskrieg, muss aber auch einen „Frieden“, der ihr von den imperialistischen Mächten aufgenötigt wird, zurückweisen.

Revolutionäre Marxist:innen sollten die Beendigung des Krieges auf gerechter und demokratischer Grundlage befürworten: Russland raus aus der Ukraine, nein zum kalten Krieg zwischen imperialistischen Mächten und Selbstbestimmung für die Bevölkerungen der Krim und des Donbass. Dies mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, und nichts weniger als das kann einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.

  • Russische Truppen raus aus der Ukraine, für die Niederlage der russischen imperialistischen Invasion!
  • Unterstützung für die gerechtfertigten Kriegsziele des ukrainischen Widerstands und Anerkennung der ukrainischen Souveränität!
  • Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für die Krim und den Donbass!
  • Nein zu den westlichen Kriegszielen: Keine Plünderung der ukrainischen Wirtschaft durch imperialistisches Kapital! Streichung der ukrainischen Schulden! Nein zur Ausweitung der NATO! Auflösung der NATO! Gegen die Militarisierung ganz Europas!
  • Für eine unabhängige sozialistische Ukraine!
  • Für eine sozialistische Revolution in Russland!
  • Für ein sozialistisches Europa!

Internationale Sozialistische Liga (ISL)

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO)

Liga für die Fünfte Internationale (L5I)

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