Liga für die 5. Internationale, 28.6.2024, Infomail 1258, 30. Juni 2024
Der Sieg der Rassemblement National (RN, deutsch Nationale Sammlungsbewegung), von Marine Le Pen bei den Europawahlen und der Aufruf zu vorgezogenen Parlamentswahlen durch Präsident Emmanuel Macron hat die französische Arbeiter:innenbewegung mit ihrer tiefen Führungskrise konfrontiert.
Das unaufhaltsame Erstarken der extremen Rechten und der Zerfall der liberal-republikanischen Mitte sind die Folgen des Versagens der Organisationen der französischen Arbeiter:innenklasse, eine entschlossene Einheitsfront gegen die Offensive der Bosse in Bezug auf die steigenden Lebenshaltungskosten, den Angriff auf die Renten und das Renteneintrittsalter zu bilden und so Millionen von desillusionierten Arbeiter:innen und Jugendlichen eine Alternative zu bieten.
Die Möglichkeit einer RN-Regierung und das Erstarken offen faschistischer Kräfte stellt eine echte Gefahr für die französische Arbeiter:innenklasse und insbesondere für die Millionen von Bürger:innen mit Migrationshintergrund dar. Der Führer der RN, Jordan Bardella, der als Feigenblatt für Marine Le Pen dient, hat die Politik seiner Mentorin fortgesetzt, die faschistischen Ursprünge und Verbindungen der Partei zu vertuschen. Dennoch hält die neue RN an der Feindseligkeit des alten FN gegenüber migrantischen Arbeiter:innen fest und hat versprochen, diskriminierende Maßnahmen gegen Lohnabhängige mit doppelter Staatsangehörigkeit zu ergreifen.
Doch die Antwort der reformistischen Linken auf diese Gefahr bestand in der Ausrufung einer Nouveau Front populaire (NFP = Neue Volksfront), die als Alternative zu Macron und Bardella präsentiert wurde. Doch dieses Wahlkartell, das die Sitze zwischen den maroden bürgerlichen Arbeiter:innenparteien (PS = Sozialistische Partei, PCF = Kommunistische Partei), dem linkspopulistischen La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) und den kleinbürgerlichen Grünen aufgeteilt hat, steht letztlich für eine „linke“ Rettung des französischen Imperialismus aus der Sackgasse, in der er sich befindet.
Natürlich fordert ihr Programm einerseits Zugeständnisse von den Kapitalist:innen als Gegenleistung für die Beteiligung der NFP an der „republikanischen Barrikade“ gegen die RN. Andererseits räumt es die roten Linien des französischen Imperialismus ein: in Bezug auf die Europäische Union, die Wiederaufrüstung und sogar die Aufrechterhaltung der imperialen Kontrolle über Kanaky (Neukaledonien).
Die NFP kämpft darum, der größte Block im Parlament zu werden, mit der Absicht, eine „Oppositionsregierung“ im Zusammengehen mit Präsident Macron zu werden. In der Praxis müsste die NFP in den verbleibenden zwei Jahren der Amtszeit des Präsidenten eng mit diesem zusammenarbeiten, damit eine solche Koalition funktioniert und Macron nicht eine RN-Regierung einsetzt.
Die strategische Perspektive ist klar: Die NFP, eine Volksfront, die nach dem historischen Original von 1936 benannt ist, aber keine ernstzunehmende bürgerliche Partei in ihren Reihen zählt, zielt darauf ab, eine echte Volksfront mit der Bourgeoisie zu bilden, wenn sie die größte Gruppierung wird. Das Original führte echte soziale Reformen durch, bevor es zusammenbrach, nach rechts zurückkehrte und schließlich den Weg für Pétain öffnete. Heute, ohne eine massive Welle von Arbeiter:innenaktionen, stehen solche Reformen außer Frage. Echte Trotzkist:innen haben die Volksfront immer als eine selbstzerstörerische Form des Kampfes gegen die extreme Rechte und den Faschismus abgelehnt.
Letztlich beruht diese Volksfront, wie alle anderen Varianten auch, auf der Mobilisierung „des Volkes“ zur Verteidigung der „Demokratie“ und nährt weitere Illusionen in die Vorstellung, dass eine „republikanische“ Mehrheit im Parlament als Barrikade gegen die extreme Rechte dienen kann. Es ist genau diese „republikanische Disziplin“ – ob sie nun formell von den offenen Parteien der französischen Bourgeoisie proklamiert wird oder nicht –, die den Weg für das Wachstum des Front National/RN über vier Jahrzehnte hinweg geebnet hat.
Der Sieg der Neuen Volksfront kann nur zu einer arbeiter:innenfeindlichen Regierung führen, die das Wachstum der extremen Rechten und des RN beschleunigen wird. Letztere werden die Linke als Teil eines korrupten Establishments darstellen, das für die Krise des Landes verantwortlich ist. Was wir stattdessen brauchen, ist eine vereinte Front der Arbeiter:innenorganisationen gegen alle Manifestationen der Versuche der Bourgeoisie, sich aus ihrer Krise zu befreien, egal welche parlamentarische Kombination am 7. Juli zustande kommt.
Die Parlamentswahlen hätten ein Moment der Klärung für jene revolutionären Kräfte sein sollen, die offen zu unabhängigen Aktionen der Arbeiter:innenklasse aufrufen, um sowohl der Gefahr einer RN-Macron-Regierung mit der damit einhergehenden Zunahme faschistischer Straßengewalt entgegenzutreten als auch diese der jüngsten Wiederholung von Mélenchons kleinbürgerlichem Populismus in Form der Volksfront entgegenzustellen. Diese Gruppen müssen den Widerstand auf der Grundlage eines Aktionsprogramms der Arbeiter:innenklasse vorbereiten, um die Offensive der herrschenden Klasse in den Betrieben, auf den Straßen und in den Banlieues zu besiegen. Ebenso müssen sie die Passivität der Gewerkschaftsverbände herausfordern, um deren Lähmung in Bezug auf kämpferische Klassenaktionen zu überwinden.
Doch wieder einmal tritt die revolutionäre Linke gespalten in die parlamentarische Phase des Kampfes ein. Eine beträchtliche Anzahl von Gruppen der „radikalen Linken“ wie die NPA-Anticapitalistes, die IMT und das CWI haben sich offen hinter die Volksfront gestellt und verstecken ihre Kapitulation vor der sogenannten republikanischen Disziplin hinter leeren Phrasen, die diesen oder jenen Aspekt ihres Programms kritisieren. Andererseits wurden getrennte Aufrufe der NPA-Révolutionnaires und der Révolution Permanente für eine gemeinsame Front von Kandidat:innen mit Lutte Ouvrière abgelehnt. Ergebnis: Lutte Ouvrière (LO) wird überall kandidieren, die NPA-R in etwa 30 Wahlkreisen und die Revolution Permanente (RP) in einem Wahlkreis in Paris. Deshalb rufen wir dazu auf, für alle Kandidat:innen der NPA-R zu stimmen, wo immer sie antreten und wo nicht, für LO oder RP.
Der Ausgangspunkt für ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe der nächsten Regierung muss ein korrektes Verständnis der reaktionären Rolle sein, die die bestehende Führung der Bewegung in der letzten Periode gespielt hat. Die parlamentarischen Spiele von France insoumise zielten darauf ab, die Streiks gegen Macrons Rentenreform in die Sackgasse des Parlaments zu lenken, während die Gewerkschaftsführer:innen der CGT und CFDT mit Duldung der PCF die Entwicklung der Streikwelle zu einem Generalstreik behinderten, der sowohl möglich als auch notwendig war.
Frankreich steht an einem Scheideweg. Gegen die RN und gegen die Regierung Macron brauchen wir eine Einheitsfront auf der Straße, in den Betrieben, in den Stadtteilen, und wir rufen die LFI, die KP, die SP und die Gewerkschaften auf, dies zu tun. Wir brauchen Versammlungen an den Arbeitsplätzen, in den Stadtvierteln, an den Universitäten, Schulen und die Schaffung von Aktionskomitees und deren nationale Koordination, um diese Kämpfe zu vereinen.
Das Ziel der Arbeiter:innenklasse muss es sein, eine Offensive der Arbeiter:innenbewegung gegen jede Regierung vorzubereiten, die gebildet wird. Für den Fall, dass die Neue Volksfront eine Mehrheit im Parlament erhält, fordern wir ihre Parteien auf, jede offene oder geheime Zusammenarbeit mit Macron abzulehnen und die parlamentarische Arena als Tribüne zu nutzen, um auf den Straßen und in den Betrieben direkte Aktionen für ihre Maßnahmen zugunsten der Arbeiter:innenklasse zu mobilisieren.
Im Falle einer RN-geführten Regierung könnten extrem schnell ultrareaktionäre Gesetze angedroht werden, die zum Beispiel einen Generalstreik und Selbstverteidigungskomitees gegen rassistische Angriffe erfordern. All dies wird den Klassenkampf verschärfen. Der Weg vorwärts muss durch ein Aktionsprogramm vorgezeichnet werden, das diese Kämpfe mit dem Kampf um die Macht, für eine Arbeiterr:innenegierung, verbindet. Dieses Programm muss die Strategie einer revolutionären Partei bilden, die in den kämpferischsten Teilen der Arbeiter:innen und der Jugend um die Führung ringen muss. Wir appellieren daher an diese Elemente, der NPA-R beizutreten und dafür einzutreten, ihr im Laufe der kommenden Kämpfe ein solches Programm zu geben.
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