Minerwa Tahir/Shahzad Arshad, Neue Internationale 282, Mai 2024
Bis zu 969 Millionen Inder:innen werden in den nächsten sechs Wochen ihre Stimme bei den indischen Wahlen 2024 abgeben, die am 19. April begonnen haben. Das sind mehr als 10 Prozent der Weltbevölkerung. Dass die von Narendra Modi geführte Nationale Demokratische Allianz (NDA) die Wahl für eine dritte Amtszeit gewinnen wird, ist weitgehend unumstritten. Im Mittelpunkt dieser Wahl steht die Frage, ob es der Hindutva-Rechten gelingen wird, 400 der 543 Sitze zu gewinnen oder nicht (Hindutva: Hindunationalismus). Ein solch massiver Sieg würde sie in die Lage versetzen, eine entscheidende Änderung der weltlichen indischen Verfassung durchzusetzen – eine Änderung, die das Land formell als „Hindu Rashtra“, d. h. als hinduistischen Mehrheitsstaat, festschriebe.
Unter der Aufsicht von 15 Millionen Menschen, die von der indischen Wahlkommission eingesetzt werden, wird die Wahl schätzungsweise rund 8,6 Milliarden US-Dollar (USD) kosten. Die Stimmabgabe endet am 1. Juni, die Ergebnisse werden am 4. Juni bekanntgegeben.
Mehr als 2.600 Parteien treten zu den Wahlen an, aber Modis Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) ist sowohl subjektiv siegessicher als auch objektiv in den Umfragen vor den Wahlen führend. Die Partei, die seit 2014 fest an der Macht ist, strebt bei dieser Wahl eine dritte Amtszeit an. Im Jahr 2019 gewann die BJP von Narendra Modi 303 Sitze, und die von ihr gebildete Koalition erhielt 352 Sitze im indischen Parlament, der Lok Sabha (1. Kammer, Unterhaus). Die BJP hat das Ziel ausgegeben, bei der diesjährigen Wahl mehr als 400 Sitze zu gewinnen. Die Partei unterscheidet sich von den anderen Hauptkonkurrentinnen durch ihre hindunationalistische Politik und ihr Bestreben, den säkularen Kern der indischen Verfassung, der die formale Gleichheit aller Glaubensrichtungen garantiert, auszuhöhlen und durch eine hinduistische Mehrheitsherrschaft zu ersetzen. Diese reaktionäre Politik ist mit Versprechungen zur wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft.
Die BJP ist die reichste Partei Indiens und wird von Großkapitalisten wie Mukesh Ambani und Gautam Adani unterstützt, die in Asien an erster bzw. zweiter Stelle der reichsten Menschen stehen. Dies hat es der BJP auch ermöglicht, die indischen Medien fest im Griff zu behalten. Adani kaufte den Medienkonzern NDTV, woraufhin sich der kritische Nachrichtensender in ein Sprachrohr der BJP verwandelte. Im Gegenzug hat die BJP-Regierung viele Energie- und Infrastrukturaufträge der Regierung an Adani-Firmen vergeben. Ein kürzlich ergangenes Gerichtsurteil enthüllte, wie sehr die BJP von einer undurchsichtigen Form der Wahlkampffinanzierung, den so genannten Wahlanleihen, profitiert hat. Die Partei erhielt mehr als 60 Mrd. Rupien (570 Mio. Britische Pfund/GBP) an Spenden, weit mehr als jede andere politische Partei. In der Zwischenzeit sahen sich andere wichtige Kandidat:innen des Oppositionsbündnisses (Indian National Developmental Inclusive Alliance, abgekürzt: INDIA), das sich aus über 27 Parteien einschließlich des Indischen Nationalkongresses zusammensetzt, staatlichen Repressionen ausgesetzt. Der Vorsitzende der Aam Aadmi Party (AAP; Partei des einfachen Mannes), der auch Ministerpräsident des Unionsgebiets Delhi ist, Arvind Kejriwal, wurde vor den Wahlen in einem Korruptionsfall inhaftiert, während die Kongresspartei ihre Parteigelder von den Steuerbehörden einfrieren lassen musste.
Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1947 war der indische Kapitalismus durch ein hohes Maß an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft gekennzeichnet, um die industrielle Entwicklung und das Wachstum zu fördern und die soziale Stabilität zu gewährleisten. Politisch wurde dies von der Kongresspartei überwacht, die das Land jahrzehntelang regierte. Doch dieses Modell stieß an seine Grenzen, wie andere Formen kapitalistischer Staatsintervention auch.
In den 1990er Jahren ergriff die vom Kongress geführte Regierung Liberalisierungsmaßnahmen, die die wirtschaftlichen Beschränkungen lockerten und dem Privatsektor die Möglichkeit gaben, sich zu entfalten. Dennoch behält die Regierung ihr Monopol in den Bereichen Verteidigung, Energie, Banken und einigen anderen Branchen bei. Der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt ist gesunken, was jedoch nicht auf einen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, sondern auf eine Zunahme des Industrie- und Dienstleistungssektors des Landes zurückzuführen ist. Die chemische und pharmazeutische Industrie sowie die Auto- und Motorradherstellung bilden zusammen mit dem Abbau von Eisenerz, Bauxit, Gold, Kohle, Öl und Gas das industrielle Rückgrat Indiens. Die große Zahl qualifizierter, englischsprachiger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte bildet den Sektor Informationstechnologie und Outsourcing von Unternehmensdienstleistungen. Die wichtigsten Sektoren sind Informationstechnologie, Dienstleistungen, Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe. Der Dienstleistungssektor machte im Jahr 2022 48,4 % des BIP aus, während der Anteil der Landwirtschaft auf 16,7 % [1] sank.
Heute will Indien in die Fußstapfen Chinas treten und Milliarden in den Bau von Straßen, Häfen, Flughäfen und Eisenbahnen investieren. Die Modi-Regierung hat das nationale Straßennetz zwischen 2014 und 2022 um 50.000 Kilometer erweitert, was einer Steigerung der Gesamtlänge um 50 Prozent entspricht. Diese Investition in die Infrastruktur soll die Verbindungswege in der kolossalen Geografie Indiens verbessern und so den Gütertransport erleichtern. Ein Teil der Aufträge für diese Megaprojekte wird an Großkapitalist:innen vergeben, die Modis Verbündete sind. Die Herrschaftsform ist extrem bonapartistisch, wobei die Unabhängigkeit der Medien, Justiz und Strafverfolgungsbehörden bis hin zur offenen Unterstützung des Regimes untergraben wird. Um ihre Herrschaft über die Massen durchzusetzen, stützt sich die Regierung nicht nur auf repressive Staatsapparate wie Polizei und Armee, sondern auch auf die paramilitärischen Milizen der verschiedenen rechtsextremen Hindutva-Gruppen der Sangh Parivar (Familie der Organisationen; Dachorganisation der hindunationalistischen Parteien und Organisationen).
Nach Angaben der Weltbank schrumpfte das reale BIP in Indien im Wirtschaftsjahr 2020/2021 aufgrund der COVID-19-Pandemie, doch erholte sich das Wachstum im Geschäftsjahr 2021/2022 stark. Im Zeitraum 2022/2023 wuchs das reale BIP um schätzungsweise 6,9 Prozent. Dieses Wachstum erklärt sich durch „eine robuste Inlandsnachfrage, eine starke Investitionstätigkeit, die durch die von der Regierung forcierten Infrastrukturinvestitionen gestützt wurde, und einen lebhaften privaten Verbrauch, insbesondere bei den Besserverdienenden“.
Indien liegt heute auf Platz fünf der BIP-Weltrangliste und hat damit seinen ehemaligen Kolonialherrn, das Vereinigte Königreich, überholt. Gemessen am BIP hat es nur noch USA, China, Deutschland und Japan vor sich. Mit einem BIP von 3,94 Billionen USD liegt es knapp hinter Japan mit 4,11 Billionen USD und vor imperialistischen Mächten wie Russland mit 2,06 Billionen USD und Frankreich mit 3,13 Billionen USD [2]. Indiens Pro-Kopf-BIP ist zwischen 2014 und 2023 um 55 % gestiegen und wird in den nächsten Jahren voraussichtlich um mindestens 6 % pro Jahr wachsen.
Das indische Pro-Kopf-BIP, das ein Maß für den Lebensstandard ist, beträgt jedoch nur 2.730 USD. Das Pro-Kopf-BIP Japans liegt bei 33.140 USD, das des Vereinigten Königreichs bei 51.070 USD. Die Unterernährung bei Kindern ist hoch, 67 % der Kinder in der Altersgruppe von sechs bis 59 Monaten sind unterernährt. Kurzum, das Wirtschaftswachstum schlägt sich nicht wirklich in einer Verbesserung des Lebensstandards der indischen Bevölkerung nieder.
Mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren hat Indien eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Dennoch sind laut ILO gebildete Inder:innen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren eher arbeitslos als solche ohne Schulbildung. Die Arbeitslosenquote junger Inder:innen mit Hochschulabschluss liegt bei über 29 % und ist damit fast neunmal so hoch wie die derjenigen, die weder lesen noch schreiben können, so der Bericht. Die Ungleichheit zwischen den Klassen ist extrem festgefügt. Einerseits leben etwa 60 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen in Indien von weniger als 3,10 USD pro Tag, der mittleren Armutsgrenze der Weltbank. Andererseits schenkte Mukesh Ambani seiner Frau zu ihrem 44. Geburtstag einen Airbus im Wert von 60 Millionen USD, der über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, Satellitenfernsehen, Wi-Fi, eine Skybar, Duschen und ein Büro verfügt.
Zwar hat Indien in den letzten Jahrzehnten ein massives Wachstum erlebt, doch muss man dies relativieren, wie es beispielsweise der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts in seinem Artikel „Modi and the rise of the billionaire Raj“ [3] tut. Er untersucht die offiziellen Wachstumsstatistiken und argumentiert, dass all das Gerede, Indien werde China irgendwann einholen, nur ein „Hype“ ist, und weist auf grobe Ungenauigkeiten in den Wachstumszahlen selbst hin: „Nehmen Sie die Wachstumszahlen. Wenn westliche Ökonom:innen die Wachstumszahlen für China erhalten, schreien sie immer, dass sie gefälscht sind. Doch in Wirklichkeit ist es Indiens nationales Statistikamt, das ,mit der Wahrheit sparsam umgeht’. Die BIP-Zahlen enthalten dubiose Kategorien wie ,Diskrepanzen’. Diese beziehen sich auf die Differenz zwischen dem realen BIP-Wachstum von etwa 7,5 % pro Jahr und dem realen Wachstum der Inlandsausgaben von nur 1,5 % pro Jahr.“
Darüber hinaus weist er auf zwei wichtige Unterschiede zwischen der indischen und der chinesischen Wirtschaft (und damit ganz allgemein zu den imperialistischen Staaten) hin:
Andererseits hat Indien auch einige hochqualifizierte Sektoren entwickelt, aber auch ein wucherndes Parasitentum im Immobilien- und Finanzsektor, die zu einem eher fiktiven Wachstum beitragen. Alles in allem ist die indische Wirtschaft ein Beispiel für eine ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung des Kapitalismus mit einer Regierung, die eindeutig das Ziel verfolgt, Indien zu einer „Weltmacht“ zu machen – allerdings auf der Grundlage der Wirtschafts- und Sozialstruktur eines halbkolonialen Landes mit enormen Disproportionen und inneren Widersprüchen.
Mit seiner stark zunehmenden Bevölkerung und einer rasch wachsenden Wirtschaft will Indien ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne werden. Das Land ist von Ölimporten abhängig und ist der drittgrößte Ölverbraucher der Welt. Für Investor:innen, Hersteller:innen und Konsumgütermarken wird Indien zunehmend als aufstrebende Alternative zu China gesehen. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Peking und dem größten Teil der westlichen Welt – insbesondere nach dem Wiedererstarken der US-Hegemonie im Gefolge der russischen Aggression gegen die Ukraine – erfreut sich Indien gesunder Beziehungen zu den meisten großen Volkswirtschaften und zieht Investitionen an.
Dies hat die Modi-Regierung auch dazu veranlasst, die traditionellen Positionen des indischen Kapitalismus zu ändern, einschließlich ihrer Haltung zur Besetzung Palästinas. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober hat sich die indische Regierung im Washingtoner Lager offen auf die Seite Israels gestellt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Adanis Rüstungsunternehmen Aero Defence seit 2016 einen Pakt mit dem israelischen Waffenhersteller Elbit geschlossen hat.
Doch ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene stehen auch die internationalen Ambitionen Indiens vor echten Herausforderungen. Während der globale Antagonismus zwischen den USA und China und ihren jeweiligen Verbündeten einen gewissen Handlungsspielraum zulässt, bedeuten die gleichen Spannungen, dass die „Partner:innen“ darauf drängen werden, Indien auf Linie zu bringen, was es zu einem wichtigen, aber dennoch untergeordneten Verbündeten macht.
Die widersprüchliche Lage, in der sich der indische Kapitalismus befindet, erklärt auch den Vorstoß zur bonapartistischen Herrschaft im Landesinneren und die Notwendigkeit, durch Populismus, Rassismus und Hinduchauvinismus eine soziale Massenbasis dafür zu schaffen.
Dieser Wandel ist nicht nur auf die Hinwendung der aufstrebenden Regionalmacht zum Westen zurückzuführen, sondern auch auf eine jahrzehntelange staatlich sanktionierte Politik der Unterdrückung der 200 Millionen Muslim:innen des Landes. Während der BJP-Regierung wurde Islamophobie als staatliche Politik normalisiert. Der Bau des Ram Mandir (hinduistischer Tempel in Ayodhya) an der Stelle, an der einst die Babri-Masjid-Moschee stand, ist der extremste Ausdruck des antimuslimischen Rassismus und Hasses in Indien. Dieser Rassismus äußert sich auch in der politischen Unterdrückung muslimischer Aktivist:innen wie Umar Khalid und Sharjeel Imam, die seit Jahren unter nicht kautionsfähiger Anklage inhaftiert sind.
Vor den diesjährigen Wahlen kündigte Innenminister und Modis rechte Hand Amit Shah Pläne zur Verabschiedung und Umsetzung des reaktionären Citizenship Amendment Act (CAA; Staatsbürger:innenschaftsänderungsgesetzes) an. Das Gesetz wurde im Dezember 2019 verabschiedet und löste Massenproteste aus, bei denen Dutzende von Menschen getötet und andere verhaftet wurden. Es erlaubt nur nicht-muslimischen religiösen Minderheiten aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, die Staatsbürger:innenschaft in Indien zu beantragen. Im selben Jahr entzog das Modi-Regime auch Dschammu und Kaschmir seinen Sonderstatus und annektierte das besetzte Gebiet effektiv. Darüber hinaus wurde im nordöstlichen Bundesstaat Assam das Nationale Bürger:innenregister (NRC) eingeführt, was dazu führte, dass etwa zwei Millionen Menschen, zumeist Muslim:innen, die indische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Amit Shah versprach die landesweite Umsetzung des NRC im November 2019, gefolgt von der Verabschiedung des CAA im Dezember. Die diskriminierende Absicht der Regierung wurde offensichtlich.
Die Gewalt, die im Anschluss an die CAA-NRC-Einführung in Delhi ausbrach, wurde zu Recht als Pogrom gegen Muslim:innen bezeichnet [4] [5]. Es handelte sich um systematische und organisierte Gewalt gegen Muslim:innen, und alles, was als Beweismittel gegen die Täter:innen verwendet werden konnte, wie etwa Überwachungskameras, wurde von den Polizist:innen zerstört. Geschäfte und Häuser, die Muslim:innen gehörten, wurden identifiziert und so gezielt angegriffen, dass alle anderen, die sich in der Nähe befanden, unversehrt blieben. Muslimischen Frauen wurden die Kopftücher heruntergerissen und sie wurden sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Es gab eine beunruhigende Ähnlichkeit mit den Pogromen gegen Juden und Jüdinnen in den 1930er Jahren in Deutschland, als Hindumobs Moscheen und islamische Schreine angriffen, religiöse Schriften verbrannten und verschiedene Waffen einsetzten, um die Minderheitengemeinschaft zu töten, zerstören und terrorisieren. Die Polizei weigerte sich entweder einzugreifen, oder in den Fällen, in denen Beamt:innen an den Schauplätzen der Gewalt eintrafen, unterstützte sie die Täter:innen, warf Steine auf die Muslim:innen oder stand als gleichgültige Zuschauer:innen da, während der Mob „Delhi Police Zindabad“ (Lang lebe die Polizei von Delhi) rief.
Eine Reihe von Muslim:innen war nach diesen Ereignissen gezwungen, ihre Häuser für immer zu verlassen. Die Polizei zwang einige von ihnen später, ihre Klagen gegen Angriffe auf ihr Leben und Eigentum zurückzuziehen. Die Gewalt des Mobs wurde von einer gezielten Dehumanisierung und Verunglimpfung der muslimischen Gemeinschaft in den Mainstream- und „sozialen“ Medien begleitet. Es ist kaum zu übersehen, dass der Versuch des Modi-Regimes, die Staatsbürger:innenschaft neu zu definieren, an die nationalsozialistischen Staatsbürger:innenschaftsgesetze von 1935 erinnert, die den ersten Schritt zum Völkermord an Juden und Jüdinnen markierten. Tatsächlich hat eine Reihe von BJP-Vertreter:innen sowie Führer:innen anderer rechter und faschistischer Hindutvaparteien der Sangh Parivar ausdrücklich die Absicht geäußert, einen solchen Völkermord an den Muslim:innen zu begehen. Kurz gesagt, muslimische Menschen werden gezwungen, aus gemischten Vierteln abzuwandern, was zu einer Ghettoisierung führt [6].
Der Ruf „Jai Shri Ram“ (Gegrüßet seist du, Herr Ram) ist nicht mehr nur ein religiöser Ausdruck. Er ist zu einem Mordaufruf geworden. Zahlreiche Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Hindumobs Muslim:innen angreifen und schikanieren und sie zwingen, den Gesang zu wiederholen. Muslim:innen werden häufig als „Ausländer:innen“ beschimpft, und muslimische Männer werden beschuldigt, einen „Liebesdschihad“ zu begehen, d. h. eine angebliche Verschwörung, um Hindu-Frauen „wegzustehlen“, indem man sie dazu bringt, sich in sie zu verlieben.
Ermutigte Hindumobs haben Muslim:innen gelyncht, weil sie Rindfleisch gegessen haben, und sind ungestraft davongekommen. Sie haben Journalist:innen getötet. Andere virale Videos zeigen, wie muslimische Frauen am hinduistischen Holi (Frühlingsfest) belästigt werden, indem sie mit farbigem Wasser bespritzt werden. Diese Täter:innen wurden von verschiedenen rechtsextremen und faschistischen Organisationen der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation), der Modi seit seinem achten Lebensjahr angehört, radikalisiert und indoktriniert. Der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, der fanatische Antimuslim Yogi Aditjanath, drohte, jede/n im Meer zu ertränken, die/der sich weigere, den yogischen Gruß an die Sonne zu sprechen. Seine inzwischen formell aufgelöste, aber immer noch existierende Privatarmee, die Hindu Yuva Vahini, mobilisierte junge Männer, um den Schutz der Kühe durchzusetzen, den „Liebesdschihad“ zu bekämpfen und „Ghar Wapsi“ (Heimkehr) durchzuführen, d. h. die „Rückbekehrung“ von Muslim:innen und Christ:innen zum Hinduismus und in geringerem Maße zum Sikhismus.
Ghar Wapsi ist ein Programm, das auch von der RSS und der Vishva Hindu Parishad (VHP; Welt-Hindu-Rat, einer weiteren rechtsextremen hindunationalistischen Organisation, die zu Sangh Parivar gehört) verfolgt wird und auf der irrigen Vorstellung beruht, dass alle Menschen in Indien von Haus aus Hindus sind. Das eigene Überlegenheitsgefühl als Wesen des Programms lässt sich daran ablesen, dass der Prozess der Konversion als „Shuddhi“ bezeichnet wird, was Reinigung bedeutet, und als Rückkehr zur „wahren“ Religion angesehen wird.
Trotz des überwältigenden Sieges im Jahr 2019 hat Modis Partei bei der letzten Wahl nur 37 Prozent der Stimmen erhalten. Die BJP dominiert im Hindi-Sprachgürtel in Nordindien, aber die östlichen und südlichen Bundesstaaten, insbesondere Kerala und Tamil Nadu, haben sich dem Hindumehrheitsrausch nicht angeschlossen. Die BJP hat sich bemüht, sich in diesen Gebieten populär zu machen. Der Erfolg dieser Bemühungen muss sich erst noch zeigen.
Der Kongress unter damaliger Führung von Rahul Gandhi hatte 2019 einen Stimmenanteil von 20 Prozent. Zu den zentralen Wahlkampfthemen der Partei, deren Anhänger:innenschaft sich aus säkularen Hindus, Muslim:innen und anderen Minderheiten zusammensetzt, gehören in diesem Jahr, Modi als Bedrohung für die Demokratie zu brandmarken und eine Politik gegen Ungleichheit vorzuschlagen, z. B. ein gesetzliches Recht auf einen Ausbildungsplatz, Mindestpreise für Landwirte, Bargeldtransfers in Höhe von 100.000 Rupien an arme Familien und ein Mindestlohn von 400 Rupien pro Tag. Trotz dieser Versprechen bleibt die Kongresspartei eine Partei des Kapitals, was sich in den Positionen der Parteiführung zu Schlüsselfragen wie der Einweihung des Ram Mandir in Ayodhya, der von der Partei vorgeschlagenen Kastenzählung für positive Maßnahmen und der Reaktion auf die Ereignisse vom 7. Oktober zeigt. Darüber hinaus ist das INDIA-Bündnis nach wie vor zersplittert, da eine Reihe von Parteiführer:innen zur BJP übergelaufen ist und andere sich untereinander über verschiedene Themen streiten.
Im letzten Wahlkampf hat die BJP versprochen, Arbeitsplätze für die Millionen von arbeitslosen Inder:innen zu schaffen und das Leben der Massen durch Wohlfahrt zu verbessern. Das hat sie nicht gehalten. Die chronische Arbeitslosigkeit, insbesondere bei jungen Menschen, und die hohe Inflation könnten sich bei den Wahlen gegen die BJP auswirken.
Kommunistische Parteien und Gewerkschaften haben in einigen Teilen Indiens immer noch eine gesellschaftliche Basis und hätten mit einem sozialistischen Programm eine Alternative zum Aufstieg der Rechten bieten können. Sie sind jedoch ihrer stalinistischen Tradition der Klassenkollaboration treu geblieben und haben sich dem von der Kongresspartei angeführten Bündnis INDIA angeschlossen. Die Kandidat:innen von INDIA, einschließlich der Stalinist:innen, sind mit der Idee hausieren gegangen, dass die einzige Möglichkeit, die hinduistische NDA-Allianz an der „Zerstörung der Demokratie“ zu hindern, darin besteht, eine INDIA-Regierung zu wählen.
Angesichts der Stärke der Modi-Regierung, ihrer Kontrolle über die repressiven staatlichen Kräfte und des Einsatzes hinduchauvinistischer und halbfaschistischer Kräfte, um die Arbeiter:innenklasse und die Bauern- und Bäuerinnenschaft, religiöse und ethnische Minderheiten, Student:innen und Frauen anzugreifen, sehen viele von ihnen ein solches Bündnis als kleineres Übel gegenüber Modi und als einzige Möglichkeit, die Macht der BJP zu stoppen oder zumindest einzudämmen.
Auf den ersten Blick scheint ein solches klassenübergreifendes Bündnis, das Parteien, die Teile der indischen Bourgeoisie vertreten, und Parteien wie die kommunistischen Parteien, die organisch mit der Arbeiter:innenklasse und den Gewerkschaften verbunden sind, umfasst, die Kräfte gegen den hindunationalistischen Feind zu verstärken. Aber in Wirklichkeit summieren sich die Kräfte der antagonistischen Klassen nicht zu einer stärkeren Kraft, sondern lähmen sich gegenseitig. Genauer gesagt werden sie die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft lähmen. Der Kongress als Partei der indischen Bourgeoisie wird einem solchen Bündnis nur zustimmen, wenn die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sich den bürgerlichen Interessen unterordnen. Eine Kongressregierung würde den Kampf in ihrem eigenen Interesse eindämmen und dadurch die Massenbasis schwächen und demoralisieren. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass INDIA gewinnt, wäre dies also eine Katastrophe für die Arbeiter:innenorganisationen.
Deshalb lehnen wir ein solches Bündnis entschieden ab. Sollte eine INDIA-Regierung an die Macht kommen, wäre es immer noch ein rechtskapitalistisches Regime, das die langjährige Tradition der Kongresspartei fortsetzen würde, neoliberale kapitalistische Politik einzuführen und umzusetzen.
Das Großkapital unterstützt Modi, weil er alle seine Wünsche in Bezug auf die Privatisierung und Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte erfüllt hat und das aggressive Ziel verfolgt, Indien als eine Kraft zu etablieren, mit der auf der Weltbühne gerechnet werden muss. Modi würde dieses politische Programm nach seiner Rückkehr an die Macht sicherlich fortsetzen. Das würde auch Rahul Gandhi tun, nur dass er das gleiche Programm in einem sozialdemokratischen Jargon verkaufen würde. Die indische Wirtschaft ist unter diesem Programm gewachsen und das Land ist zu einer Weltmacht aufgestiegen, aber es ist ein „arbeitsloses Wachstum“ geblieben. Nichts davon würde sich unter einer von Gandhi oder Kejriwal geführten Regierung ändern, denn trotz der populistischen Rhetorik über die Beschäftigungskrise und die Inflation teilen die wichtigsten bürgerlichen Oppositionsparteien Modis Abscheu vor den arbeitenden Massen und demokratischen Rechten für die Massen und Minderheiten. Die Anti-Pakistan-Rhetorik, Kejriwals Untätigkeit während des Pogroms in Delhi und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel durch die Kongresspartei in den 1990er Jahren sowie die Tatsache, dass die rechtsextreme Shiv Sena (SHS; Shivajis Armee) Teil dieser Allianz ist, sind nur einige Merkmale dieser „säkularen“ Front. Daher weisen wir die Illusion zurück, dass die indischen Massen für diese Volksfront namens INDIA stimmen sollten, um das Land durch ein kleineres Übel zu schützen.
Stattdessen rufen wir die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und alle sozialen Bewegungen der Student:innen, Frauen, Bauern und Bäuerinnen, der Dalits, der national und religiös Unterdrückten auf, mit ihren bürgerlichen „Verbündeten“ zu brechen und sich auf die kommenden, unvermeidlichen Kämpfe vorzubereiten.
Bei den indischen Wahlen können Koalitionen in jedem Wahlkreis nur eine/n Kandidat:in aufstellen. Wir rufen die Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und alle unterdrückten Menschen Indiens, wie Frauen, sexuelle, religiöse und nationale Minderheiten auf, in Wahlkreisen, in denen ein/e bürgerliche/r Kandidat:in der INDIA-Allianz kandidiert, ungültig zu wählen. In den Wahlkreisen, in denen Kandidat:innen der kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften kandidieren, rufen wir die ausgebeuteten und unterdrückten Massen auf, zu ihren Gunsten zu stimmen, und fordern sie auf, sich auf den kommenden Kampf vorzubereiten.
Eine solcher Aufruf wäre jedoch äußerst kritisch. Das heißt, wir rufen dazu auf, für sie zu stimmen, weil sie sich auf die Unterstützung der Massen der Arbeiter:innenklasse berufen können, zumindest in einer Reihe von Wahlbezirken. Aber gleichzeitig lehnen wir ihre klassenkollaborationistische Politik und ihr reformistisches Programm ab. Die verschiedenen kommunistischen Parteien Indiens haben die Erfahrung gebracht, dass sie arbeiter:innenfreundliche Versprechungen machen, wenn sie nicht an der Macht sind, und dann eine investor:innenfreundliche Politik betreiben, wenn sie durch die Stimmen der Arbeiter:innenklasse an die Macht kommen. Sie waren ihrer Basis gegenüber nie rechenschaftspflichtig und haben wenig getan, um sicherzustellen, dass die Macht den ausgebeuteten und unterdrückten Massen gehört. Das muss sich ändern.
Deshalb rufen wir diese Kandidat:innen und ihre Parteien auf, eine Einheitsfront gegen Angriffe auf demokratische und soziale Rechte zu bilden, die alle unterdrückten Schichten einschließt. In Zeiten zunehmenden rechten Terrors müssen wie Selbstverteidigungsmilizen gegen organisierte faschistische Mobs, Streikbrecher :innen oder staatliche Repression aufbauen. Diese Aufgaben sind notwendig, auch wenn die Führer:innen der reformistischen Arbeiter:innenparteien sie ablehnen. Wir rufen die arbeitenden und unterdrückten Massen auf, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mit Hilfe der folgenden Forderungen eine Einheitsfront und Selbstverteidigungsmilizen aufzubauen:
Solche Forderungen würden zentrale Probleme der Massen ansprechen. Aber sie würden von einer neuen Modi-Regierung und der Kapitalist:innenklasse (und in der Tat auch von einer Kongress-geführten Regierung) als Kriegserklärung angesehen werden. Sie können nur durch entschlossenen Kampf durchgesetzt werden.
In den letzten zehn Jahren haben die Gewerkschaften, die Bauer:innenorganisationen, die Frauen- und Student:innenbewegungen oder der Kampf gegen die CAA und NRC mit mehreren eintägigen Streiks, an denen mehr als 100 Millionen Arbeiter:innen beteiligt waren, gezeigt, dass die sozialen Kräfte, die eine Modi-Regierung letztendlich besiegen könnten, existieren und bereit sind, in großer Zahl auf die Straße zu gehen.
Aber eine solche Bewegung müsste über eintägige, symbolische Streiks oder Massendemonstrationen hinausgehen. Sie müsste eine Bewegung sein, die den indischen Kapitalismus durch Massenstreiks – bis hin zum Generalstreik – durch Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen des Massenkampfes zum Stillstand bringen könnte. Eine solche Bewegung müsste nicht nur eine Einheitsfront der Führungen der KPen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sein. Sie müsste vor allem eine Einheitsfront der Massen selbst sein, die sich auf kämpferische Organisationen in den Betrieben, an Schulen und Universitäten stützt. Sie muss auf Aktionsräten in den Fabriken und Büros, in der Stadt und auf dem Land fußen.
Ein solcher Kampf, auch wenn er mit wirtschaftlichen und demokratischen „unmittelbaren“ Forderungen beginnt, könnte sich zu einem Kampf um die Macht entwickeln – zum Teil wegen seiner inneren Dynamik, aber auch wegen der Reaktion, die ihm von einer Modi-Regierung entgegengebracht würde. Daher müsste er auch Selbstverteidigungsorgane schaffen und dafür kämpfen, den Repressionsapparat zu lähmen und schließlich zu zerschlagen, indem er die einfachen Soldat:innen aufruft, Soldat:innenkomitees zu bilden.
Der Traum der Rechtsextremen von der Errichtung eines Ethnostaats, der von einer Hindutvadiktatur geführt wird, kann durch den Kampf der Arbeiter:innenklasse zerschlagen werden, der die Notwendigkeit aufwirft, eine Arbeiter:innenregierung zu schaffen, die sich nicht auf die Institutionen des bürgerlichen Staates stützt, sondern auf die durch den Kampf geschaffenen und entwickelten Organe, d. h. auf die Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine bewaffnete Volksmiliz. Eine solche Regierung würde das Großkapital enteignen und einen Notfallplan einführen, um die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen, und sich zu einer zentralen Planwirtschaft entwickeln. Sie würde echte Gleichberechtigung und Chancengleichheit für alle ausgebeuteten und unterdrückten Massen einführen. Um diese Regierung zu bilden, brauchen wir die Arbeiter:innenklasse, die die Führung für eine solche Revolution übernimmt.
Die Führungskrise, die jahrzehntelang unbewältigt blieb, muss durch den Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf einem revolutionären Programm gelöst werden. Wahrer Frieden und Gleichheit für alle können nur durch eine Arbeiter:innenregierung erreicht werden, die den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Südasien aufnimmt. Wir rufen alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Sozialist:innen und Unterdrückten auf, sich uns in dieser Mission anzuschließen und Teil des Aufbaus einer Fünften Internationale zu sein!
[1] https://www.investopedia.com/articles/investing/043015/fundamentals-how-india-makes-its-money.asp
[2] www.imf.org
[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/19/india-modi-and-the-rise-of-the-billionaire-raj/
[4] https://www.aljazeera.com/opinions/2021/2/24/why-the-2020-violence-in-delhi-was-a-pogrom
[5] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/02/what-happened-delhi-was-pogrom/607198/
[6] https://www.aljazeera.com/news/2021/2/23/fear-migration-a-year-after-anti-muslim-violence-in
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