Bruno Tesch, Neue Internationale 282, Mai 2024
In seiner berühmten Schrift „Staat und Revolution“ fasst Lenin prägnant den wesentlichen Unterschied zwischen revolutionären und bürgerlicher, reformistischer Arbeiter:innenpolitik zusammen:
„Das Wesentliche der Lehre von Marx sei der Klassenkampf. Das wird sehr oft gesagt und geschrieben. Doch das ist unrichtig, und aus dieser Unrichtigkeit ergibt sich auf Schritt und Tritt eine opportunistische Entstellung des Marxismus, seine Verfälschung in einem Geiste, der ihn für die Bourgeoisie annehmbar macht. Denn die Lehre vom Klassenkampf ist nicht von Marx, sondern vor ihm von der Bourgeoisie geschaffen worden und ist, allgemein gesprochen, für die Bourgeoisie annehmbar. Wer nur den Klassenkampf anerkennt, ist noch kein Marxist, er kann noch in den Grenzen bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Politik geblieben sein. Den Marxismus auf die Lehre vom Klassenkampf beschränken heißt den Marxismus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzieren, was für die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt.“ (Lenin, Staat und Revolution, Lenin, Werke, Bd. 25, S. 424)
Dies Passagen verdeutlichen, worin der Wesenskern einer wahrhaft kommunistischen, revolutionären Arbeiter:innenpartei besteht. Sie umfasst all jene Teile der Arbeiter:innenklasse, die die Notwendigkeit des revolutionären Sturzes des Kapitalismus und der Errichtung einer vorübergehenden, staatlich organisierten Herrschaft der Arbeiter:innenklasse – der Diktatur des Proletariats – anerkennen. Die revolutionäre Partei muss daher als Strategin agieren, diesen Sturz herbeizuführen, sämtliche Teilkämpfe, alle Formen des Klassenkampfes zu bündeln mit dem Ziel, die Herrschaft der Arbeiter:innenräte zu errichten.
Natürlich hängen die konkreten Ausformungen einer solchen Partei von geschichtlichen Rahmenbedingungen ab. Ihr Aufbau kann daher nicht in ein starres Schema gepresst werden. Dennoch gilt es, in all ihren Stadien vom Zirkel über kämpfende Propagandagruppe, Kaderpartei bis hin zur revolutionären Massenpartei bestimmte Leitsätze zu befolgen.
Unverrückbar steht die Erkenntnis und Notwendigkeit, als organisierte politische Kraft in Erscheinung zu treten, deren Ziel die Orientierung auf die Arbeiter:innenklasse darstellt, um sie zum revolutionären Sturz des Kapitalismus und zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu führen.
Da das Bewusstsein von sich selbst als geschichtlich handelndes Klassensubjekt jedoch nicht von Grund auf revolutionär, sondern organisatorisch und ideologisch von der herrschenden bürgerlichen Klasse bzw. deren reformistischen Agent:innen in ihren Reihen geprägt ist, sind Revolutionär:innen gezwungen, Instrumentarien zu entwickeln, um Zugang zu den unterdrückten Massen zu finden.
Das wichtigste Werkzeug für den Aufbau der Partei und Voraussetzung für das Eingreifen in Klassenkämpfe stellt die Ausarbeitung eines revolutionären Programms dar. Dieses Programm soll die Erfahrungen von Klassenkämpfen zusammenfassen und in wegweisenden Forderungen auf den Punkt bringen.
Ein revolutionäres Programm muss sich dabei in der imperialistischen Epoche der schon von Marx, Engels, Lenin und Luxemburg verwandten, von Trotzki jedoch verallgemeinerten und systematisierten Methode des Übergangsprogramms bedienen. Sie verbindet die Alltagskämpfe der Lohnabhängigen mit einer notwendigen Steigerung des Kampfniveaus auf breitere und höhere politische Grundlage bis hin zur Frage der Machteroberung.
Das Programm darf nicht als unveränderliche Größe verstanden werden, sondern muss sich einem ständigen Abgleich mit der Praxis unterziehen, stetig verfeinert werden und sich neuen Herausforderungen und Politikfeldern – z. B. der ökologischen Frage – stellen, die revolutionäre Antworten erheischen.
Dies kann nur gelingen, wenn auch die theoretischen Erkenntnisse wissenschaftlich vertieft und erweitert werden. Deshalb sollte das Programm nicht nur vor sich gehende politische Konfliktlinien aufzeigen, sondern unbedingt die Weltlage klassenanalytisch in den Blick nehmen.
Die Partei sollte auch dafür sorgen, dass theoretische Forschungen über die Wirkweisen, Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und deren politischen Auswirkungen als Druckpunkte, an denen Hebel zur Förderung und Beschleunigung in den Klassenkämpfen angesetzt werden können, vorangetrieben werden.
Zugleich erfüllt das Programm die Funktion zur politischen Vereinheitlichung der Organisation. Jedes Mitglied erhält damit einen Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem revolutionären Gedankengut und eine Anleitung für sein politisches Handeln. Darüber hinaus obliegt der Partei die Pflicht, ihre Mitgliedschaft, v. a. die nachwachsende, zu schulen, ihren Wissenskreis zu weiten und neue fähige Kader heranzubilden.
Grundsätzlich stellt für den Marxismus das Programm keine Sammlung allgemeiner Wahrheiten, sondern eine Anleitung zum Handeln, ein System von Forderungen, Vorschlägen, Taktiken dar, das vom aktuellen Kampf um soziale oder demokratische Rechte zu dem um die Macht führt.
Ausgestattet mit dem Rüstzeug des Programms muss v. a. in der Frühphase der revolutionären Organisierung Propaganda betrieben werden. Sie muss mit vielen Antworten aufwarten, die zunächst für eine anfängliche Minderheit mit fortgeschrittenem politischem Bewusstsein bestimmt sind, die sich als Einzelelemente in Arbeiter:innenmassenorganisationen oder in kleineren eigenständigen linken Formierungen verorten.
Revolutionär:innen sind bestrebt, jede Gelegenheit wahrzunehmen, Diskussionen mit solchen Kräften anzuregen und besonders dort, wo sich Umgruppierungsprozesse abzeichnen, sich einzuschalten, um sie für die eigenen Reihen und die Umsetzung des revolutionären Programms zu gewinnen.
In den Diskussionsprozessen darf es keine Verkürzungen oder Ausklammerungen von prinzipiellen oder programmatischen Punkten, etwa dem Parteiaufbau oder der Frage der Machteroberung, geben.
Als zentrale Mittel der Propaganda kommen regelmäßige Publikationen der Partei zum Einsatz, die über verschiedene Medienkanäle Verbreitung finden. Sie dienen der Vervielfältigung der revolutionären Standpunkte und zur argumentativen Ertüchtigung der Mitgliedschaft. Schließlich muss eine revolutionäre Organisation nicht nur in aktuelle Kampagnen eingreifen oder solche initiieren, sondern auch in Massenkämpfen und Massenorganisationen der Lohnabhängigen wie den Gewerkschaften sowie in den Betrieben systematische Arbeit beginnen und entwickeln.
Hat die Partei immer recht? Entgegen der Hymne der Sozialistischen Einheitspartei in der DDR, die nur die Herrschaft einer konterrevolutionären Parteibürokratie verklären sollte, kann selbst eine revolutionäre Partei auch irren, z. B. beim Fraktionsverbot in der russischen KP 1921. Aber sie muss die Fähigkeit zur Korrektur von Fehlern unter Beweis stellen. Tut sie dies nicht, verliert eine Partei ihre innere Lebendigkeit und erlischt ihre Glaubwürdigkeit im Spiegel der Geschichte.
Sie muss das Gebot des demokratischen Zentralismus beachten. Dieser oft falsch verstandene und missbräuchlich angewendete Grundsatz besagt, dass die Partei nach außen mit einer Stimme spricht, einheitlich handelt. Das nach eingehender Diskussion angenommene Programm und die auf den Parteikonferenzen gefällten Beschlüsse sind von allen Mitgliedern zu befolgen und nach außen zu vertreten. Innerhalb der Organisation allerdings herrscht Freizügigkeit der Diskussion und Antragsrecht auf allen Ebenen.
Die Partei muss auch die Bildung von Tendenzen und Fraktionen zulassen, wenn wichtige Entscheidungen oder der Gesamtkurs der Partei angefochten werden. Wenn solche Differenzen auftauchen, müssen sie unter Vorlage von Positionspapieren ausgetragen und innerhalb einer bestimmten Frist in für die Gesamtorganisation offener Diskussion geklärt oder bei anhaltender Unvereinbarkeit von Auffassungen mit der organisatorischen Trennung von oppositionellen Gruppierungen beendet werden, um zu verhindern, dass die Parteiarbeit gelähmt wird.
Alle politischen Vorgänge in der Partei bedürfen einer transparenten und nachvollziehbaren Dokumentation, in Form von Protokollen, Bulletins usw. Sie sind der wirksamste Mechanismus, um Gliederungen auch von unten nach oben kontrollieren und beeinflussen zu können. Auf diese Weise kann die Partei der Gefahr entgehen, bürokratisch zu verknöchern, und stattdessen ein lebendiger Organismus bleiben.
Erst mit ausreichend angewachsener Organisation kann die Partei in allen Bereichen arbeiten. Bis dahin muss sie sich auf schwerpunktmäßig ausgewählte Felder beschränken. Die Verankerung in der Arbeiter:innenklasse genießt Vorrang.
Dies inkludiert nicht nur den Aufbau eigener Strukturen, sondern auch eine Bündnispolitik, die gemeinsame Aktion mit anderen Organisationen der Lohnabhängigen und der Linken. Eine korrekte Anwendung der Taktik der Arbeiter:inneneinheitsfront ist dabei unerlässlich, indem ein Angebot an die proletarischen Massenorganisationen gemacht wird, gemeinsame Schritte im Kampf gegen den Klassenfeind zu unternehmen und sich dort als entschlossenste Kraft zu beweisen – auch wenn diese Taktik von kleinen Gruppen oft nur propagiert und nur bedingt real umgesetzt werden kann.
Unerlässlich ist es, diese Taktik v. a. auch gegen die verräterische reformistische Bürokratie zu wenden, denn sie tritt die Tugenden der Arbeiter:innendemokratie mit Füßen, vertritt die Ideologie der Klassenkollaboration und bindet die Massen an den bürgerlichen Staat. Diese falsche Führung stellt sich als Haupthindernis der Revolutionierung der Massen in den Weg.
Lenins Konzeption von der führenden Rolle einer Partei auf dem Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verneint entschieden jegliche Vorstellung von einer friedlichen parlamentarischen Machtübernahme und Beibehaltung des bürgerlichen Staatsapparats.
Auf dem Weg zur Arbeiter:innenrevolution muss sich die Partei stärken und eigene Organe aufbauen, kommunistische Gewerkschaftsfraktionen bilden, eine Jugendorganisation schaffen bzw. am Aufbau von Kampforganen für die Gesamtklasse aufs Engste teilnehmen, Verteidigungsmilizen gegen die unvermeidlichen Attacken der Klassenfeind:innen und Arbeiter:innenräte als politische Vollzugs- und Kontrollorgane ins Gefecht werfen.
Zwar soll sich die Partei unterschiedlichen Klassenkampfbedingungen in verschiedenen Ländern und Regionen anpassen, aber sie muss sich von Beginn international, gegliedert nach Sektionen in ständiger Verbindung miteinander aufbauen und sich auf ein gemeinsames Programm verständigen: das einer revolutionären Weltpartei des Proletariats.
Der Kampf für den Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale stellt daher von Beginn an eine unerlässliche Aufgabe jeder Organisation dar, die revolutionären Anspruch hat. Nur so kann proletarischer Internationalismus zur Realität werden.