Arbeiter:innenmacht

Russischer Krieg gegen die Ukraine – Teil 2: „Kampf um Demokratie“ oder „Entnazifizierung“?

Alex Zora, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), Infomail 1189, 23. Mai 2022

Der folgende Beitrag wurde zuerst im Magazin FLAMMENDE veröffentlicht, das von unserer österreichischen Schwestersektion Arbeiter*innenstandpunkt herausgegeben wird und dessen erste Nummer im Mai 2022 erschien. Wir publizieren den Text in drei Teilen. Der erste behandelte die Entwicklung vom Maidan zum Krieg, der hier folgende zweite beschäftigt sich mit dem Charakter des Krieges. Im dritten werden uns mit den Aufgaben der Linken beschäftigen.

Putins Krieg

Die Entscheidung Putins zum Angriff auf die Ukraine ist keineswegs vollkommen oder auch nur hauptsächlich dadurch zu erklären, dass er wahnsinnig geworden sei oder gegen Ende seines politischen Lebens auf seinen Platz in den Geschichtsbüchern bedacht wäre. Diese psychologistischen Erklärungsmuster westlicher Kommentator:innen sind alles andere als wissenschaftlich fundiert. Den Krieg durch die ideologische Rechtfertigung des Überfalls seitens des Präsidenten – dass die Ukraine eine künstliche Nation wäre und eigentlich Teil einer großen russischen Volksgemeinschaft – zu erklären, ist genauso unzureichend. Viel relevanter sind hier ökonomische wie geopolitische Faktoren. Es war in den letzten Jahren absehbar, dass sich die Ukraine und ihre Bevölkerung ideologisch sowie der Staatsapparat und die Armee auch praktisch einem NATO-Beitritt annäherten. Jahr für Jahr stieg dafür die Zustimmung in der Bevölkerung, schritt die Reform der Streitkräfte voran, gab es auch im Westen mehr Befürworter:innen. Wenn der russische Imperialismus also einem NATO-Betritt der Ukraine zuvorkommen wollte, musste er eher früher als später handeln. Die (geo)politische Situation nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan ermutigte Putin in seinem imperialistischen Abenteuer, denn sie ließ die Schlussfolgerung  zu, dass sich Letztere offenbar voll und ganz auf den Konflikt mit China konzentrieren wollten. Inwiefern es auch Fehlkalkulationen auf russischer Seite wegen einer Überschätzung der russischen Widerstandsfähigkeit gegen die massiven Wirtschaftssanktionen sowie eine Falscheinschätzung der politischen und militärische Lage in der Ukraine durch den russischen Geheimdienst gab, lässt sich nur spekulieren, erscheint aber durchaus realistisch.

Am 24. Februar startete die russische Armee eine großangelegte Offensive. Ziele im ganzen Land wurden getroffen und die Grenze im Osten, Süden und Norden des Landes überschritten. Erklärtes Ziel von Putin war die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine, eine dauerhafte Besatzung wurde am Anfang explizit ausgeschlossen. Der Plan war wohl, in mehreren schnellen Vorstößen die ukrainische Armee auf allen Fronten zu überwältigen, zentrale Städte zu nehmen, die Regierung Selenskyj zur Flucht außer Landes zu bewegen und eine schnelle Kapitulation zu erzwingen. Ergebnis davon sollte wohl sein, dass eine russische Marionettenregierung in Kiew installiert werden könnte.

Gekommen ist es dann doch anders. Das lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Einerseits wird in westlichen Medienberichten nahegelegt, dass es eine Falscheinschätzung des russischen Geheimdienstes gab. Er soll fehlerhafte bzw. geschönte Berichte über die Ukraine an Putin abgeliefert haben. Die Art und Weise, wie die Offensive in den ersten Tagen durchgeführt wurde (kein komplettes Ausschalten der ukrainischen Luftstreitkräfte, Vorstoß oft in kleinen Aufklärungsspezialtrupps, kein voller Einsatz der Streitkräfte, Information der Truppen erst am Vorabend der Invasion etc.), legt auch nahe, dass der Zustand der ukrainischen Streitkräfte unterschätzt wurde. Dazu kamen noch massive logistische Probleme rund um die Truppenkonzentration bei Kiew. Möglicherweise die entscheidendere Fehleinschätzung Putins bestand aber darin, dass er mit dem blutigen Angriffskrieg einen großen Teil der Ukrainer:innen – auch solcher, die Russland bisher positiv gegenübergestanden waren – hinter der Verteidigung der Ukraine versammelte.

Die ukrainischen Streitkräfte waren, wie weiter oben erwähnt, nach dem Maidan in einem katastrophalen Zustand. Sehr bald kamen deshalb die ersten westlichen Militärberater:innen ins Land. Hier wandte man sich von ukrainischer Seite explizit an die aggressivsten Teile der NATO – die USA, Großbritannien, Kanada, Polen, Dänemark und Litauen (zusätzlich war noch Schweden als Nicht-NATO Mitglied dabei). Gemeinsam mit milliardenschwerer militärischer Unterstützung sollten die ukrainischen Streitkräfte darauf vorbereitet werden, in die NATO-Militärstrukturen miteinbezogen zu werden.

Die russische Invasion kam deshalb schon sehr bald ins Stocken. Die einzige größere Stadt, die schnell eingenommen werden konnte, war Cherson im Süden. Die meisten anderen größeren Städte hatte man versucht zu umzingeln, darunter Charkow, Tschernihiw (russ.: Tschernigow) und Mariupol. Größeren offenen Gefechten ging die ukrainische Armee bewusst aus dem Weg und beschränkte sich vor allem darauf, die in Massen angelieferten Panzer- und Luftabwehrwaffen aus Hinterhalten einzusetzen.

Nachdem es nach mehreren Wochen blutiger Kämpfe nicht gelungen war, Kiew einzunehmen, gab es dann Ende März den Beschluss der russischen Armee, die Vorstöße rund um Kiew aufzugeben und sich vor allem auf die Offensive im Donbass (Donezbecken) zu konzentrieren. Nach dem Rückzug russischer Truppen aus den Kiewer Vororten wurde dort die massive Zerstörung sichtbar, inklusive wahrscheinlicher russischer Kriegsverbrechen, die prompt von Selenskyj als Genozid bezeichnet wurden. Eine klare Unterscheidung zwischen dem, was ein Kriegsverbrechen und einen Genozid darstellt, ist essenziell. Es ist nicht nur analytisch unbrauchbar, diese beiden Kategorien zu vermischen (immerhin wird dadurch ein Verstehen der Situation erschwert), sondern auch moralisch verwerflich. Die westlichen Medien zögerten bisher, Selenskyjs Propaganda des Genozids unkritisch aufzugreifen, würde das doch in letzter Konsequenz einen notwendigen Kriegsgrund gegen Russland darstellen.

„Kampf um Demokratie“ oder „Entnazifizierung“?

Von beiden Seiten des Konfliktes werden vordergründig ideologische Gründe für die Kriegsbeteiligung genannt. Von russischer Seite war von Anfang an eines der beiden zentralen Kriegsziele eine „Entnazifizierung“ der Ukraine. Hierbei ist es relevant, eine adäquate Einschätzung der wirklichen Lage der faschistischen Kräfte in der Ukraine vorzunehmen. Die Ukraine ist alles andere als, wie von Putin behauptet, ein von Nazis regiertes Land. Die aktuelle Regierung lässt sich wohl am besten als neoliberal-nationalistisch charakterisieren. Es gibt auch keine große faschistische Partei im Parlament. Diese Argumente sind weitgehend aus der westlichen Berichterstattung bekannt. Doch wer hier stehenbleibt, begeht den Fehler, entweder die wirklichen Kräfteverhältnisse und politischen Abläufe in der Ukraine nicht zu kennen oder sie bewusst zu verschleiern. Die faschistische Rechte in der Ukraine befindet sich seit dem Maidan in einem mehr oder weniger offenen Bündnis mit den neoliberalen Kräften. Dieses ist nicht unbedingt dauerhaft gesichert und in der Vergangenheit gab es immer wieder auch starke Straßenmobilisierungen der faschistischen Rechten gegen die Regierung, die genutzt wurden, um Erstere zu einem härteren Vorgehen gegen die „Volksrepubliken“ im Osten zu bewegen.

Im Großen und Ganzen gab es seit 2014 eine massive Rehabilitierung der nationalistischen Vergangenheit, insbesondere der faschistischen Kräfte der ehemaligen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) unter Stepan Bandera, der zum regelrechten Nationalheld wurde. Ihm wurde sogar mehrmals ein staatlicher Feiertag gewidmet (auch unter Selenskyj). Zur Rehabilitierung der ukrainisch-faschistischen Tradition kommt noch die massive Verstrickung faschistischer Kräfte in den Staatsapparat hinzu. Hier ist kein Platz, alle prominenten faschistischen Anführer:innen aufzuzählen, die wichtige Plätze im Sicherheitsapparat bekamen, wie der stellvertretende Asow-Kommandant Wadim Trojan, der mehrere Jahre lang Chef der nationalen Polizei und stellvertretender Innenminister war. Essenziell ist aber die Existenz eines gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen neoliberal-nationalistischem Politik-Establishment und faschistischer Bewegung.

Kann man also dem russischen Ziel der Entnazifizierung Glauben schenken? Die Antwort darauf kann nur ein klares Nein sein. Es lässt sich nicht behaupten, dass Putin ein besonders großes Problem mit Faschist:innen hätte. Gerne greift er selbst zum Beispiel auf die Söldnertruppe des offenen Neonazis Dmitri Utkin zurück. Die von ihm gegründete Wagner-Gruppe, benannt nach dem im Dritten Reich so beliebten Komponisten Richard Wagner, agiert unter anderem auch in der Ukraine. Als nicht regulärer Teil der russischen Armee kann die russische Regierung offizielle Verantwortung für sie leugnen. Putins Behauptung, für eine Entnazifizierung der Ukraine einzutreten, ist deshalb vor allem wichtig für eine gewisse historische Legitimierung seines Raubzugs. Besonders im russischsprachigen Teil der Ukraine hegen nahezu alle Familien ein tiefgehendes Verhältnis zum Kampf gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg. So gut wie alle haben Opfer zu beklagen und der blutige Kampf gegen den Nationalsozialismus hinterließ tiefe Wunden im kollektiven Gedächtnis.

Genauso wie die angebliche Entnazifizierung ist aber auch der Kampf für die Demokratie, wie er von den USA, der EU und ukrainischer Regierung geführt wird, in erster Linie eine Rechtfertigungsideologie und weniger Realität. Gerne wird die Ukraine als liberale Demokratie nach westlichem Muster bezeichnet. Natürlich ist sie im Vergleich zu Russland etwas demokratischer, aber auch alles andere als ein demokratisches Musterland. In erster Linie ist die ukrainische Demokratie eine Spielwiese für die Oligarch:innen. Insoweit unterscheidet sie sich aber nicht von den meisten westlichen Demokratien. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass in ihr alles, was den Anschein von Kommunismus oder Russlandnähe erweckt, unterdrückt und kriminalisiert wird.

Schon direkt nach dem Umsturz des Maidan begann die Repression gegen die viertgrößte Parlamentspartei, die Kommunistische Partei der Ukraine. Sie hatte 2012 mehr als 100.000 Mitglieder, bei den Parlamentswahl 13,2 % der Stimmen bekommen und war damit knapp hinter Vitali Klitschkos UDAR (Ukrainische demokratische Allianz für Reformen) auf Platz 4 gelandet. Schon im Frühling 2014 begann die Repression. Unterschiedliche Teile des ukrainischen Staatsapparates begannen der KPU vorzuwerfen, sie würde prorussischen Separatismus unterstützen. Nachdem die Geschäftsordnung des ukrainischen Parlaments im Sommer 2014 geändert wurde, wurde die Parlamentsfraktion der KPU aufgelöst. Doch das war nur der Anfang! Im Zuge des Antikommunismus wurde ihr 2015 verboten, an den Wahlen teilzunehmen, was auch bei denen 2019 der Fall war. Im Dezember 2015 wurden dann drei kommunistische Parteien verboten. Die KPU konnte gegen ihr Verbot zwar erfolgreich Einspruch einlegen, aber de facto verfügt sie über keine Möglichkeiten der legalen Betätigung mehr.

Doch nicht nur gegen Parteien wurde in der Ukraine autoritär vorgegangen. Immer wieder wurden oppositionelle Medien verboten. Es gibt eine Liste verbotener russischer Bücher, unter die sogar Exemplare für Kinder fallen. Erst kürzlich ist die Situation noch einmal eskaliert. Insgesamt wurden 11 Parteien, inklusive der größten Oppositionspartei und auch linker (wie der Union der linken Kräfte oder der Plattform Linke Opposition, die neben slawisch-nationalistischen auch linke Kräfte vereinigte), verboten. Gemeinsam mit der Tatsache, dass in vielen westlichen Ländern die wesentlichen russischen Medien Russia Today und Sputnik verbannt wurden, zeigt dies deutlich, dass es hier nicht um eine „Verteidigung der Demokratie“ geht. So wie die russische Legende der Entnazifizierung dient die der „Verteidigung der Demokratie“ zu einer ideologischen Mobilisierung für die eigene Seite des Konflikts.

Innerimperialistischer Konflikt

Der Krieg in der Ukraine ist nur als Teil eines globalen Konfliktes zwischen imperialistischen Großmächten wirklich zu verstehen. Wenn es Putin einzig und alleine darum gehen würde, die Ukraine zu unterjochen, hätte er das schon 2014 getan, als die ukrainischen Streitkräfte als reguläre Armee quasi aufhörten zu existieren. Der Konflikt lässt sich nur in einem größeren Kontext verstehen, dafür sind eine Reihe an Faktoren relevant.

Die USA haben, beginnend unter Trump und beschleunigt unter Biden, die Entscheidung getroffen, ihre globale militärische Schlagkraft auf China zu konzentrieren. Der Fokus liegt hierbei auf dem Indopazifik und militärisch wird auf eine Zusammenarbeit mit Ländern wie Japan, Indien, Australien und Großbritannien gesetzt. Das wichtigste Indiz dieser Politik war der rasche und kompromisslose Abzug aus Afghanistan, aber auch das vermehrte Drängen darauf,  Europa solle endlich seine Militärkapazitäten hin zu einer „strategischen Autonomie“ ausbauen, um nicht mehr auf die USA angewiesen zu sein.

Darauf basiert die Erkenntnis des russischen Imperialismus, dass jetzt ein guter Zeitpunkt sei, um Zugeständnisse zu erwirken. Schon Ende 2021 wurde von den westlichen Geheimdiensten eine massive Truppenbewegung Russlands im Grenzgebiet zur Ukraine wahrgenommen. Das ging einher mit Forderungen des Kreml an die NATO nach Sicherheitsgarantien und dem Rückzug der NATO aus Osteuropa. Wie ernst diese Forderungen wirklich zu nehmen waren, ist natürlich fraglich. Die Tatsache, dass der russische Angriff auf die Ukraine am Ende und nicht am Anfang des Winters stattfand, spricht aber durchaus dafür, dass sich der russische Imperialismus Zugeständnisse erhoffte. Der wirtschaftliche Spielraum für Moskau ist in den Wintermonaten, wenn Europa noch mehr als sonst auf russisches Gas angewiesen ist, nämlich am größten.

Seit geraumer Zeit nähern sich der russische und chinesische Imperialismus einander an. Historisch gesehen gab es nicht immer ein gutes Verhältnis zwischen beiden Staaten, aber in der aktuellen Situation und auch in geraumer Zukunft existieren große gemeinsame Interessen. Beides sind Länder, die an der globalen, „regelbasierten Weltordnung“ nur sekundär teilhaben. Sie würden die Regeln gerne neu schreiben, um die Welt anders aufzuteilen. Gleichzeitig sind beides Länder, die weder in die westlichen Militärbündnisse eingebunden sind noch an den Schalthebeln des globalen Finanzsystems sitzen. Damit ergeben sich logisch Interessenüberschneidungen. Drei Wochen vor dem Überfall auf die Ukraine besuchte Putin Chinas Staatschef Xi Jinping in Peking bei den Olympischen Spielen. Beide bestätigten dort, dass ihre Partnerschaft „keine Grenzen“ kenne. In welchem Ausmaß Putin damals schon Xi von seinen konkreten Plänen in Bezug auf die Ukraine informierte, ist unklar. Sehr enthusiastisch zeigte sich China darüber aber seither nicht.

Wie schon weiter oben erwähnt gab es im NATO-Lager immer sehr große Differenzen um das Vorgehen in der Ukraine. Die von Russland kaum wirtschaftlich abhängigen USA, aber auch Großbritannien oder Kanada vertraten traditionell einen aggressiven und konfrontativen Kurs. Deutschland und in geringerem Maße auch Frankreich verfolgten eher das Ziel, eine diplomatische Lösung mit Russland zu finden, und spielten dabei oft eine vermittelnde Rolle. Das war auch noch Anfang diesen Jahres der Fall, als sowohl Emmanuel Macron als auch Olaf Scholz Putin einen Besuch in Moskau abstatteten und versuchten, die Lage zu deeskalieren. Die Eskalation Putins und die darauffolgende Welle der Empörung, die sich durch die gesamte westliche mediale und politische Landschaft zog, führten erst einmal dazu, dass die Differenzen innerhalb des NATO-Lagers in den Hintergrund traten. Wie nachhaltig dieses Zusammenrücken mittelfristig sein wird, bleibt noch unklar und hängt vor allem von äußeren Faktoren wie dem Verhalten des russischen und chinesischen Imperialismus ab. Die Tatsache, dass Deutschland aber zusätzliche 100 Milliarden für sein größtes Rüstungsprojekt seit 1945 lockergemacht hat, wird – falls es wirklich schafft, die „schlagkräftigste Armee Europas“ aufzubauen – wohl mittelfristig als Grundlage für ein eigenständiges Agieren innerhalb der bisher von den USA dominierten NATO dienen können. China übt sich seit dem russischen Überfall in russlandfreundlicher Neutralität. In unterschiedlichen internationalen Abstimmungen über Fragen zum russischen Angriffskrieg (UN-Generalversammlung, Internationaler Gerichtshof, UN-Sicherheitsrat etc.) stimmte China entweder mit Russland oder enthielt sich. Auf wirtschaftlicher Ebene sieht die Bilanz aber durchwachsener aus: Unterschiedliche chinesische Banken und Konzerne haben, aus Angst, auch von den westlichen Sanktionen getroffen zu werden, Geschäfte mit Russland eingeschränkt. Nichtsdestotrotz ist China, als Russlands größter Handelspartner, essenziell für die russische Wirtschaft. Die Führung in Peking hat auch schon angekündigt, dass sie die Wirtschaftssanktionen nicht mittragen wird. China steht beim Konflikt rund um die Ukraine in einer widersprüchlichen Situation. Auf der einen Seite profitiert seine Wirtschaft von guten und stabilen globalen Verhältnissen und reibungslosem Welthandel. Das würde dafür sprechen, dass es auf eine rasche Beilegung des Konflikts und eine diplomatische Lösung setzt, was auch seine formale Position nach außen darstellt. Auf der anderen Seite könnte aber China bei einem länger ausgedehnten Konflikt zu einem noch viel wichtigeren Handels- und Wirtschaftspartner für Russland werden und es durch Kredite, Hochtechnologieprodukte und als Abnehmer von Öl und Gas in ein Abhängigkeitsverhältnis bringen. Dem US-amerikanischen Imperialismus nutzte der Erste Weltkrieg enorm als Mittel, um sich von Frankreich und Großbritannien zu emanzipieren und die beiden imperialistischen Großmächte finanziell abhängig zu machen. Eine ähnliche Strategie wird bestimmt auch in den Kreisen der chinesischen Führung diskutiert.

Militarisierung

Die ukrainische Armee hat bisher Militärhilfen in Milliardenhöhe von den USA und der EU bekommen. Innerhalb kürzester Zeit wurde sie zur größten Militärhilfeempfängerin der USA – noch vor Ägypten und Israel. Seit Beginn der Biden-Administration wurden 2 Milliarden US-Dollar an Militärgerät in die Ukraine geschickt und erst kürzlich dem Pentagon 6,5 Milliarden für die Ukraine gewährt. Eine Hälfte davon soll für den Aufbau der US-Militärpräsenz in Osteuropa verwendet werden, die andere als noch unspezifizierte Militärhilfen an die Ukraine gehen. Auch die EU hat schon eine Milliarde Euro davon für die Ukraine beschlossen. Kanada und Großbritannien beteiligen sich an der Unterstützung der Ukraine. Das sind keine unbeträchtlichen Zahlen und entsprechen in Summe ungefähr 10 % des gesamten russischen Militärbudgets (2020) – oder des gesamten der Ukraine im gleichen Jahr.

Mit dieser „Großzügigkeit“ zeigt sich einmal mehr der Charakter des Konflikts als innerimperialistischer. Es gab zwar in den letzten zehn Jahren immer wieder militärische Auseinandersetzungen, wo sich die westlichen Staaten positiv auf diverse Kriegsparteien (wie zum Beispiel auf kurdische und arabische Rebell:innen im syrischen Bürger:innenkrieg) bezogen hatten, doch einen nur annähernd vergleichbaren Grad militärischer Unterstützung gab es dabei nicht. Der ukrainische Staat ist aktuell militärisch und ökonomisch nahezu vollkommen abhängig von der Hilfe aus dem Westen und damit nicht zu einer unabhängigen Position fähig (außer es geht darum, noch mehr Militärhilfen einzufordern).

Darüber hinaus sind als unmittelbare Auswirkung des russischen Überfalls auf die Ukraine vor allem die massiven Aufrüstungspläne vieler europäischer Staaten ins Feld zu führen. An der Spitze steht hier Deutschland mit seinem 100-Milliarden-Rüstungsprogramm. Aber die Aufrüstungsstimmung ist bei weitem und nicht in erster Linie auf Deutschland beschränkt. Auch Präsident Macron hat eine Erhöhung der französischen Militärausgaben angekündigt, um Europa „weniger abhängig von anderen Kontinenten“ zu machen und eine „unabhängigere und souveränere Macht zu werden“. Zudem haben Italien, Polen, Norwegen, Litauen, Belgien, Rumänien und Schweden – teilweise massive – Erhöhungen ihrer Militärausgaben angekündigt. Andere Staaten werden wohl folgen.

Auch Österreich hat verlautbaren lassen, die Ausgaben für das Bundesheer massiv zu steigern. 10 Milliarden sollen in einen „Neutralitätsfonds“ investiert werden, mit dem über die nächsten 5 Jahre militärische Neuanschaffungen getätigt werden sollen. Außerdem soll der Anteil der Militärausgaben auf 1,5 % des BIP bis 2027 ansteigen, was ihn mehr als verdoppeln würde. Damit würden er sogar höher liegen als auf dem Gipfel des Kalten Krieges (1,2 %).

Wir sehen also eine massive Militarisierung auf dem europäischen Kontinent, vor allem die des deutschen Imperialismus bereitet hierbei massive Sorgen. Argumentiert wird das Ganze damit, dass man sich gegen die von Putin ausgehende Gefahr schützen müsse – mehr als lächerlich beim russischen Militärbudget von etwas mehr als 60 Milliarden. Die EU gab 2020 – also vor der erwarteten Erhöhung – schon fast 200 Milliarden für ihre Armeen aus. Zudem ist wohl kaum zu erwarten, dass Putin, der schon bei der militärisch und ökonomisch viel schwächeren Ukraine auf massive militärische Probleme stößt, eine reale Gefahr für Europa darstellt.

In den kommenden Monaten werden wir vor allem auch den Versuch sehen, eine effektive EU-Armee zu schaffen. Der größte Push dafür war in der Vergangenheit von Frankreich ausgegangen. Das neue politische Klima begünstigt dies aber zusätzlich noch einmal massiv. Wie an den oben erwähnten Zahlen erkennbar, besteht das Problem für den europäischen Imperialismus nämlich nicht unbedingt darin, dass zu wenig Geld fürs Militär ausgegeben wird, sondern die unterschiedlichen Länder ihre eigenen Armeen erhalten und kontrollieren und damit bisher keine zentralisierte europäische Streitmacht möglich ist. Die Schritte, die in der Vergangenheit in diese Richtung ergriffen worden sind wie die 2004 ins Leben gerufenen EU-Battlegroups, haben nicht die erhoffte Brücke zu einer echten EU-Armee geschlagen. Das Interesse der Herrschenden in der EU ist jetzt offenbar dazu übergegangen, dieses Projekt ernsthafter anzugehen, vor allem auch weil die öffentliche Stimmung dafür so günstig ist wie noch nie. Ein erster Schritt dafür ist die neu geschaffene EU-Eingreiftruppe, an der sich auch Österreich beteiligen wird.

Gemeinsam mit den finanziellen Grundlagen, die aktuell in fast allen Staaten gelegt wurden, hat der politische Wille für eine wirkliche EU-Armee auch deutlich zugenommen. Das bedeutet noch lange nicht, dass sich die Herrschenden der einzelnen Nationen darauf einigen werden können, wie eine solche Armee aussehen soll, ihre Finanzierung zustande käme, sie im Verhältnis zu den bestehenden Streitkräften stünde, welche Rolle die französischen Atomwaffen spielen würden oder – ganz entscheidend – wie die Befehlskette aussehen könnte. Die nächsten Jahre werden für alle fortschrittlichen Kräfte aber auf jeden Fall einen gesteigerten Kampf gegen Militarisierung und insbesondere eine EU-Armee auf die Tagesordnung setzen.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die Antwort der „internationalen Gemeinschaft“ (also der USA, Kanadas, der EU und Japans) auf den russischen Überfall auf die Ukraine war ein beispielloses Paket an wirtschaftlichen Sanktionen. Russische Banken wurde aus dem Interbankenkommunikationssystem SWIFT ausgeschlossen, der Großteil seiner ausländischen Währungsreserven wurde eingefroren, russische Importe wie Exporte wurden massiv eingeschränkt, russische Oligarch:innen sollen sanktioniert werden und vieles mehr. Die Sanktionen beschränken sich aber nicht nur auf die, die Regierungen gegen Russland verhängen, sondern umfassen auch relevante Teile des privaten Kapitals, das normalerweise bereit ist, für seine Profite so gut wie alles in Kauf zu nehmen, schränken ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in Russland massiv ein oder beenden sie komplett. Hieran lässt sich gut feststellen, dass große Teile des westlichen Kapitals bereit sind, kurzfristig eine Einschränkung ihres Profitrahmens in Kauf zu nehmen, um mittelfristig einen unliebsamen Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu verdrängen. Gleichzeitig soll es als Warnung an China dienen, nicht dem russischen Beispiel in Taiwan zu folgen.

Ihre mittelfristigen Auswirkungen sind noch nicht ganz abzuschätzen. Kurzfristig ist vor allem der Wert des Rubels massiv gefallen und die Moskauer Börse war fast einen Monat lang geschlossen, wurde doch ein massiver Kurssturz befürchtet. Der blieb dann aber erstmal unmittelbar aus und auch der Wechselkurs des Rubels hat sich bereits erholt. Russland hatte sich jahrelang auf massive wirtschaftliche Sanktionen vorbereitet und hunderte Milliarden an Auslandsdevisen und Gold angehäuft. Die Staatsschulden befanden sich mit nicht einmal 20 % auf einem Niveau, das sich europäische Staaten nicht einmal vorstellen können. Die Auslandsreserven, die in Europa, Japan oder Amerika angelegt waren, wurde eingefroren. In relevantem Ausmaß sind nur die Währungsreserven in China und das in der Zentralbank gelagerte Gold verfügbar. Dazu kommt aber noch der russische Energieexport. Insgesamt versucht der russische Staat, sich gegen die Sanktionen zu wehren. So hat er schon angekündigt, dass „unfreundliche Staaten“ zukünftig russisches Erdgas nur mehr gegen Rubel bekämen, was aber bisher nicht durchgesetzt wurde. Nur Ungarn hat sich bisher bereit erklärt, russisches Gas mit Rubeln zu kaufen. Außerdem werden große Exporteur:innen angewiesen, 80 Prozent ihrer Auslandsgelder bei der russischen Zentralbank in Rubel zu tauschen.

Nach und nach wird der Import von russischem Öl und Gas eingeschränkt. Es begann damit, dass westliche Ölkonzerne wie Shell oder BP sich freiwillig aus dem russischen Markt zurückzogen. Mittlerweile haben sich so gut wie alle westlichen Ölkonzerne (mit Ausnahme des französischen „Total“) aus dem Geschäft in Russland verabschiedet. Die USA legten dann Mitte März nach und verboten den Import von russischem/r Öl, Gas und Kohle. Die europäischen Staaten sind deutlich mehr angewiesen auf diese Importe als die USA, haben aber auch angekündigt, den Ausstieg zu beschleunigen. Mittlerweile wird kaum noch vom Westen russisches Öl gekauft, was zu einem massiven Anstieg der Weltmarktpreise geführt hat.

Da noch immer nahezu fast alle Produktionsketten irgendwann auf fossile Brennstoffe angewiesen sind, befeuert das natürlich die globale Inflation. Die war zwar schon vor den westlichen Sanktionen und dem massiven Anstieg der globalen Rohölpreise massiv im Steigen begriffen, aber so ist ihr Anstieg natürlich noch stärker vorprogrammiert. Insgesamt ist durch die Krise eine globale Rezession deutlich wahrscheinlicher geworden. Ende März schätzte Wells Fargo, die drittgrößte US-Bank, ihr Risiko bis Ende nächsten Jahres auf 50 % ein. Auch die Investment Bank Goldman Sachs taxierte Anfang April dieses in den nächsten 2 Jahren auf 38 %.

Insgesamt treffen die Wirtschaftssanktionen des Westens nicht in erster Linie die Weltwirtschaft, sondern Hauptleidtragende ist die große Mehrheit der russischen Bevölkerung. Ihr Lebensstandard wird massiv einbrechen. Die Sanktionen werden den Zugang zu medizinischer Versorgung und anderen lebenswichtigen Gütern erschweren und letztlich wohl auch zu einer relevanten, wenn auch schwer abschätzbaren Zahl an Todesopfern führen. Das muss allen Menschen bewusst sein, die im Kampf gegen den russischen Imperialismus nach Wirtschaftssanktionen gegen das Land rufen.

Ein letzter, wenn auch oft übersehener Punkt ist die globale Getreideversorgung und damit auch eine drohende Hungerkatastrophe in einer Reihe von afrikanischen und asiatischen Ländern. Russland und die Ukraine sind global sehr wichtige Exporteur:innen. Russland ist größter Weizenexporteur und die Ukraine steht auf Platz 5. Zusammen liefern sie ungefähr ein Viertel weltweit. Riesige afrikanische Länder wie der Sudan, die Demokratische Republik Kongo oder Ägypten sind für die übergroße Mehrheit ihrer Weizenimporte auf beide angewiesen, Benin und Somalia sogar zu 100 %. Dazu sind die Ukraine und Russland auch noch riesige Exporteur:innen von Sonnenblumen(öl) und Mais. Wie genau sich die Exporte Russlands entwickeln werden, steht noch nicht ganz fest, die aus der Ukraine werden aber wohl massiv einbrechen. Einerseits weil aktuell die meisten ukrainischen Bauern/Bäuerinnen andere Sorgen haben, als die Aussaat für dieses Jahr vorzubereiten, und andererseits, weil der Export selbst durch die mehr oder weniger effektive Seeblockade der russischen Marine vor allem über die sehr viel teureren Bahnverbindungen durchgeführt werden muss.

Insgesamt zeigt der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland – immerhin ist es nun das global und historisch am meisten sanktionierte Land –, dass der Konflikt eben nicht nur einer zwischen ihm und der Ukraine ist. Das Element der innerimperialistischen Konfrontation ist das zentrale. Die Tatsache, dass sich westliche Konzerne freiwillig an dieser beteiligten, zeigt ganz gut, dass der Drang zur nahezu totalen Isolierung der russischen Wirtschaft nicht einfach nur aus der kurzfristigen Empörung heraus entstand und bald wieder vorbei sein wird. Sie drückt die besorgniserregenden Entkopplungstendenzen in der Weltwirtschaft aus. Die Schaffung mehr oder weniger autarker Wirtschaftsblöcke ist eine der Grundvoraussetzungen für die direkte militärische Konfrontation von imperialistischen Großmächten.

Im ersten Teil der Reihe haben wir uns mit der Entwicklung vom Maidan zum Krieg beschäftigt.

Im dritten werden uns den Aufgaben der Linken widmen.

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