Arbeiter:innenmacht

Linksradikale Bündnispolitik zwischen Sektierertum und Pragmatismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 281, April 2024

Auf den ersten Blick scheint Bündnispolitik eine einfache Sache zu sein. Zwei oder mehr Gruppierungen, Parteien, Organisationen schließlich sich für einen bestimmen gemeinsamen Zweck zusammen. Doch welchen Zweck verfolgen diese Bündnisse eigentlich? Geht es darum, ein bestimmtes gemeinsames Ziel durchzusetzen? Oder darum, eine längerfristige Einheit von „Revolutionär:innen“ in Form eines „revolutionären Bündnisses“ zu schaffen? Mit wem können diese eingegangen werden? Nur mit „Linken“? Mit welchen Klassenkräften? Nur mit der Basis oder auch mit der Führung reformistischer (bürgerlicher) Arbeiter:innenorganisationen? Oder sind für bestimmte Aktivitäten – z. B. im Kampf gegen den Faschismus – für uns sogar alle „Demokrat:innen“ Bündnispartner:innen? Wie weit kann sich ein solches Bündnis erstrecken? Nur für bestimmte Aktionen oder auch den Eintritt in eine Regierung?

Auf diese Fragen geben die verschiedenen Organisationen der deutschen Linken fast ebenso viele Antworten. Auf sich alleine gestellt kann keine linke Kraft etwas durchsetzen. Diese Binsenweisheit betrifft nicht nur die radikale Linke, sondern auch die reformistischen Organisationen (z. B. die Linkspartei), populistische Kräfte wie BSW, linke Sozialdemokrat:innen. Kein Wunder also, dass die Frage nach gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit in der „radikalen“ Linken, die selbst politisch, programmatisch und hinsichtlich ihres Klassenstandpunktes überaus heterogen ist, eng an „Bündnispolitik“ gekoppelt ist.

Und das durchaus mit Recht. Schließlich erfordern die Abwehr grundlegender politischer und wirtschaftlicher Angriffe wie auch die Erringung von Verbesserungen (Reformen) Massenkräfte, über die die radikale Linke schlichtweg nicht verfügt. Ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit stellt im Grunde kein Rätsel dar – und die Lösung desselben besteht nicht darin, dass die „radikale“ Linke für sich stark genug wird, etwas „alleine“ durchzusetzen.

Keine Bündnispolitik ist auch keine Lösung

Der Charme dieser Vorstellung, sofern man davon überhaupt sprechen kann, besteht wohl darin, dass man sich damit sämtliche Fragen von Bündnispolitik mit „nicht-revolutionären“, nicht „antikapitalistischen“ Kräften spart, diese allenfalls auf episodische Aktionen beschränkt und ansonsten hofft, irgendwann einmal so stark zu sein, wenn schon nicht die Welt selbst aus den Angeln heben, so doch seinen eigenen „Freiraum“ oder „Space“ verteidigen zu können.

Ironischerweise ähnelt diese linksradikale Vorstellung dem sozialdemokratischen Gradualismus mehr, als ihr lieb sein kann. So gingen die Parteien der Zweiten Internationale vor dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass der Aufbau der eigenen, einheitlichen Arbeiter:innenbewegung schrittweise, aber faktisch unaufhaltsam so vorangehen würde, bis eine expandierende Gewerkschaftsbewegung, eine parlamentarisch und organisatorisch immer stärkere Partei sowie zahlreiche Vorfeldorganisationen dereinst so stark würden, dass  ihnen bei einer tiefen Krise der Gesellschaft die Macht als Mehrheit der Gesellschaft zufiele.

Die Vorstellung, sich selbst durch den Aufbau eigener „Gegenstrukturen“, durch eine „autonome“ Gegenwelt, Kiezarbeit oder den Aufbau „eigener“ Gewerkschaften, unabhängig von existierenden, wenn auch verbürokratisierten und sozialdemokratisch geprägten, aufzubauen und schließlich mehr und mehr „Gebiete“ für sich zu erringen, weiter zu expandieren, reproduziert im Grunde den sozialdemokratischen Gradualismus, wenn auch mit viel verbalradikalem Glitzern.

In beiden Fällen erscheint die Frage der Bündnispolitik und damit des Verhältnisses zu anderen Kräften der Arbeiter:innenbewegung, der gesellschaftlich Unterdrückten wie auch gegenüber klassenübergreifenden Bewegungen, die oft von kleinbürgerlichen oder gar bürgerlichen Kräften dominiert sind, allenfalls als Nebenfrage. „Revolutionäre“ oder „linksradikale“ Politik ist in diesem Kontext letztlich wesentlich selbstreferentiell, fokussiert sich im Grunde auf die Ausdehnung des eigenen Milieus, der eigenen Kiezstrukturen oder, im Falle des Anarchosyndikalismus, der eigenen Gewerkschaft.

Veränderte Lage und Fehler

Doch die Erfahrung zeigt, dass die Angriffe der herrschenden Klasse und der Rechtsruck diese „eigenen“ Strukturen mehr und mehr zurückdrängen. Dies führte dazu, dass viele linksradikale Gruppierungen einen Kurs auf eine „flexiblere“ Bündnispolitik eingeschlagen haben, wobei dann oft genug das selbstreferentielle Sektierertum in sein Gegenteil, nämlich Pragmatismus und Opportunismus, umschlägt. Häufig erleben wir zudem eine Mischung aus beiden Phänomenen.

So stellen sich gerade deutsche Linke, die Bündnisse schmieden wollen, oft nicht so sehr die Frage, welche Kräfte für eine bestimmte gemeinsame Aktion, eine Demonstration gewonnen werden können, sondern wer als möglicher Partner erst gar nicht infrage kommt. Andere wiederum gehen davon aus, dass Bündnisse beinhalten, dass die teilnehmenden Organisationen ihre Differenzen zumindest für dessen Dauer hintanstellen, ihre Partner:innen nicht öffentlich kritisieren.

Zumeist treten diese beiden Fehler kombiniert auf – und zwar nicht nur bei gesellschaftlich wenig relevanten Kleinstaktionen, sondern auch in den wenigen Fällen, wo die radikale Linke wirklich relevante Kampagnen auf die Beine stellt. So z. B. in Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Einerseits verteidigte die politisch maßgebliche Interventionistische Linke dort jahrelang eine Politik, die die Linkspartei nicht nur richtigerweise als Verbündete ins Boot holte, sondern zugleich auch vor jeder Kritik abschirmte. Sie verhielt sich opportunistisch gegenüber dem Reformismus. Gegenüber revolutionären Organisationen wie der Gruppe Arbeiter:innenmacht verhielt sie sich hingegen sektiererisch und führte einen regelrechten Kleinkrieg, um Diskussionen und demokratische Debatten über die Strategie von DWe abzuwürgen. Diese Politik war letztlich mitverantwortlich dafür, dass DWe trotz eines riesigen Abstimmungserfolges und einer breiten Aktivist:innenbasis keine Antwort auf die Taktik des rot-rot-grünen Senats (einschließlich der Linkspartei) hatte, die den Volksentscheid in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgte.

Bedeutung

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Frage einer korrekten Bündnispolitik keineswegs nur eine von theoretischen Diskussionen ist, sondern trotz der Marginalisierung und geringen Größe der „radikalen Linken“ eine aktuelle darstellt. Daraus folgt die Notwendigkeit, diesen Themenkomplex systematischer zu diskutieren und fassen.

Es zeigt sich dabei, dass der Begriff „Bündnispolitik“ selbst ein oberflächlicher ist. Die Frage nach einer revolutionären Politik gegenüber anderen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung kann letztlich nur beantwortet werden, wenn wir sie im Rahmen des Klassenkampfes, des Kampfes um die sozialistische Revolution und Transformation der Gesellschaft begreifen.

Für Revolutionär:innen folgen die Prinzipien einer korrekten Bündnispolitik aus dem Verständnis des Klassenkampfes sowie des Verhältnisses zu anderen Organisationen der Bewegung der Lohnabhängigen, zu Parteien und Gewerkschaften.

Klasse und revolutionäre Organisation

Die Arbeiter:innenklasse tritt in den Klassenkampf immer schon als historisch geformte. Sie ist nie einheitlich, sondern schon aufgrund der Kapitalbewegung, die ihrer eigenen Formierung den Stempel aufdrückt, in sich differenziert. Hinzu kommt, dass das gesellschaftlich grundlegende Klassenverhältnis immer mit anderen Unterdrückungsverhältnissen verwoben ist und mit diesen reproduziert wird.

Schließlich ist jede Klasse auch ideologisch, politisch und gewerkschaftlich sowie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Klassen geformt. In Deutschland z. B. prägten (und prägen bis heute) der Reformismus der Sozialdemokratie, den die Linkspartei letztlich nur „links“ kopiert, sowie die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter:innenklasse. Dies beinhaltet auch eine spezifische Form der Trennung zwischen ökonomischen und politischem Kampf. Die radikale Linke war gegenüber diesen Kräften über Jahrzehnte weitestgehend marginalisiert, was auch die relative Stärke kleinbürgerlicher Ideologien in ihren Organisationen erklärt.

Uns geht es an dieser Stelle jedoch nicht um eine detaillierte Analyse der deutschen Arbeiter:innenklasse, sondern vor allem um ein alle kapitalistischen Gesellschaften charakterisierendes Phänomen. Die Lohnabhängigen selbst sind politisch-ideologisch gespalten. Der Kampf gegen das Kapital und für politische Reformen (ganz zu schweigen von der Revolution) erfordert aber in allen seinen Formen eine größtmögliche Einheit. Das wird in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar nachvollziehbar. Kein Streik ist lange durchhaltbar, wenn ihm eine Mehrheit der Arbeiter:innen feindlich gegenübersteht.

Doch wie entsteht diese Einheit? Wären alle oder jedenfalls die überwiegende Mehrheit der Arbeiter:innen in einer revolutionären Partei vereinigt, so würde sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Organisationen nicht stellen. Aber diese Phase der alle Lohnabhängigen umfassenden Arbeiter:innenbewegung gab es allenfalls in Ansätzen in der vorimperialistischen Epoche. Mit der grundlegenden und historisch unwiderruflichen Trennung von revolutionär-kommunistischer Arbeiter:innenbewegung und Reformismus als bürgerlicher Kraft in der Arbeiter:innenbewegung, dessen Wurzeln selbst in der imperialistischen Ordnung liegen, ist diese Phase unwiederbringlich vorbei. Die langfristige, strategische Einheit von Revolutionär:innen und Reformist:innen ist in der imperialistischen Epoche utopisch und reaktionär, weil beide letztlich gegensätzliche Klassenstandpunkte vertreten – den Sturz des Kapitalismus oder dessen Verwaltung. Der Reformismus ist nicht einfach ein langsamerer Weg zum sozialistischen Ziel, sondern verteidigt vielmehr in allen entscheidenden großen Klassenkämpfen die bestehende Ordnung.

Doch revolutionäre Politik, also die kommunistischer Parteien (oder von Organisationen, die eine solche aufbauen wollen), kann ihr strategisches Ziel – die sozialistische Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats – letztlich nur erreichen, wenn sie die nicht-kommunistischen Arbeiter:innen für den gemeinsamen Kampf gegen das Kapital gewinnt, ihnen praktisch den bürgerlichen Charakter der Politik ihrer reformistischen Führungen vor Augen führt und so deren verräterische Praxis entlarvt.

Strategie und Taktik

Die Kommunistische Internationale hat diese Fragen der „Bündnispolitik“ unter Führung Lenins und Trotzkis beim Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale unter dem Begriff Arbeiter:inneneinheitsfront systematisiert. Dabei überwand sie zahlreiche linksradikale Fehler und Irrtümer, die sich jedoch mit der Degeneration der KI unter Sinowjew sowie unter Stalin wiederholten (z. B. in der sog. Dritten Periode), um schließlich durch die opportunistische Politik der Volksfront ersetzt zu werden.

Für das Verständnis der Einheitsfrontpolitik stellen die Debatten und Beschlüsse der ersten vier Kongresse der KI, Lenins Polemiken gegen den „Linksradikalismus“ sowie Trotzkis Arbeiten zur Einheitsfront (z. B. in den „Schriften über Deutschland“) einen unschätzbaren Fundus dar.

Dabei sind mehrere Punkte von entscheidender Bedeutung. In der KI wurden – anders als in der Zweiten Internationale – Fragen der Taktik im Rahmen der kommunistischen Strategie der Machteroberung des Proletariats systematisch behandelt. Dabei bleibt natürlich die Taktik immer der Strategie untergeordnet, was aber keineswegs bedeutet, dass taktische Fragen einen nebensächlichen Charakter trügen. Vielmehr bleibt das strategische Ziel unerreichbar, wenn der Weg dahin nicht durch eine korrekte Durchführung kommunistischer Taktiken beschritten wird. Ohne diese Konkretisierung und Vermittlung hängt die strategische Zielsetzung im luftleeren Raum, verkommt zu einem bloßen Bekenntnis.

Ziele der Einheitsfront

Für die KI verfolgt die Einheitsfronttaktik zwei Ziele. Einerseits die Herstellung der größtmöglichen Kampfeinheit aller Arbeiter:innenorganisationen. Andererseits die Entlarvung der reformistischen, kleinbürgerlichen, bürokratischen Führungen dieser Organisationen als Agent:innen der Bourgeoisie, die unfähig sind, das Proletariat zum Sieg zu führen.

Eine korrekte Anwendung der Einheitsfronttaktik darf dabei keines der beiden Ziele zum „eigentlichen“ oder gar alleinigen verklären. Eine Einheitsfronttaktik, die nur auf die Denunziation des Reformismus zielt, beispielsweise indem Forderungen zur Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf gemacht werden, die reformistische Arbeiter:innen und Führer:innen ablehnen, weil sie Reformist:innen sind, ist nutzlos und schadet mehr, als sie nützt. So macht es keinen Sinn, die reformistischen Führungen dadurch vorzuführen zu wollen, dass man den Kampf für die Diktatur des Proletariats oder sozialistische Revolution zum „Programm der Einheitsfront“ machen will. Dies wird vielmehr von Führung wie Basis des Reformismus als Ultimatum begriffen werden. Es macht das Ziel der Einheitsfronttaktik – nämlich die reformistischen Arbeiter:innen durch die gemeinsame Aktion oder das Angebot dafür von der Untauglichkeit des Reformismus zu überzeugen – letztlich zur Vorbedingung für die Einheitsfront.

Ein umgekehrter Fehler bestände jedoch darin, einen Einheitsfrontvorschlag immer nur darauf zu begrenzen, was für die reformistischen Führungen annehmbar ist. So wäre es z. B. ein schwerer Fehler gewesen, im Kampf gegen die Rentenreform Macrons, einen Generalangriff auf die gesamte Arbeiter:innenklasse, dessen Abwehr einen Generalstreik erfordert hätte, auf die Generalstreiklosung zu verzichten oder diese nicht an die Führungen der Gewerkschaften zu richten, weil diese ja ohnehin dagegen wären. Kommunist:innen müssen vielmehr einen Einheitsfrontvorschlag für ein bestimmtes Ziel – in diesem Fall die Abwehr der Rentenkürzungen – damit verbinden, Kampfmethoden vorzuschlagen, die für sein Erreichen notwendig sind.

Es geht also nicht darum, immer die radikalste Aktionsform vorzuschlagen, sondern eine, die einem bestimmten Ziel angemessen ist. So wäre es z. B. albern, in jedem Tarifkampf auch gleich den Generalstreik zu fordern. Damit würden nicht die Bürokrat:innen entlarvt. Vielmehr erschienen die Revolutionär:innen in den Augen der Arbeiter:innen nur als Maulheld:innen und unverantwortliche Abenteuer:innen.

Führung und Basis

In jedem Fall ist es aber von grundlegender Bedeutung, Einheitsfrontangebote und Forderungen nicht nur an die Führungen der reformistischen Arbeiter:innenorganisationen, sondern auch an deren Basis zu richten. Umgekehrt stellt ein Vorschlag, der sich nur an die Basis richtet, die sog. „Einheitsfront von unten“, selbst einen ultimatistischen Bruch mit der gesamten Taktik dar. Ähnlich wie rein denunziatorische „Angebote“ setzt die Forderung an die Mitglieder der Linkspartei oder der SPD oder jeder anderen bürgerlichen Arbeiter:innenorganisation, ohne ihre Führung, ohne ihre Partei in ein Bündnis einzutreten, im Grunde den Bruch mit ihrer Organisation voraus.

Schließlich geht es auch darum, der jeweiligen Einheitsfront angemessene Formen zur Organisierung des Kampfes vorzuschlagen. So wäre es z. B. bei Streikkämpfen immer notwendig, die Frage von Belegschafts- und Abteilungsversammlungen sowie der Wahl und Abwählbarkeit von Streikkomitees aufzuwerfen, gewissermaßen der Basisstrukturen der Einheitsfront.

Unterschiedliche Formen

Da die Arbeiter:inneneinheitsfront sehr viele Formen annehmen kann, von einmaligen Aktionen (z. B. eine Solidaritätsdemonstration) bis hin zu längerfristig angelegten Formen (z. B. die Arbeiter:inneneinheitsfront gegen Faschismus, Aufbau von Selbstverteidigungsorganen) und sie zudem in sehr verschiedenen Klassenkampfsituationen angewandt wird, gibt es kein festgelegtes Programm dafür. Um welche Forderungen eine solche gebildet werden soll und was dabei im Vordergrund steht, hängt vielmehr von der Klassenkampfsituation ab. In jedem Fall sollten Revolutionär:innen die Einheitsfront auf den Kampf um klar umrissene, konkrete Ziele und Forderungen konzentrieren, ja beschränken.

Das Ziel der Einheitsfront bzw. der Anwendung der Einheitsfronttaktik besteht nicht darin, einen möglichst langen Katalog gemeinsamer Ziele zu formulieren, sondern darin, eine verbindliche und überprüfbare Aktion durchzuführen. Weniger ist hier in der Regel besser. Lange Forderungskataloge, die neben den eigentlichen Aktionszielen zahlreiche andere an sich wünschenswerte, gar radikale, antikapitalistische Formulierungen enthalten, bringen die Aktion nicht weiter. Entweder liefern sie den Reformist:innen einen Vorwand, sich nicht zu beteiligen. Oder sie erlauben ihnen, sich durch verbale Bekenntnisse als linker hinzustellen, als sie sind. Hier schlägt die Absicht, einen radikalen Aufruf zu verbreiten, ungewollt in eine politische Hilfeleistung für den Reformismus um.

Massenorganisationen

Entscheidend bei der Einheitsfronttaktik ist schließlich auch, dass sie sich an Massenorganisationen richtet. Für die KI bezog sie sich vor allem auf die reformistischen, sozialchauvinistischen Parteien und die von ihnen geführten Gewerkschaften. Die Einheitsfront ist ausdrücklich kein Personenbündnis oder eine Sammlung möglichst vieler Individuen. Die Tatsache, dass die Einheitsfront auch erklärten Feind:innen der Revolution vorgeschlagen wird und mit ihnen eingegangen werden kann und soll, führte und führt immer wieder zu Vorbehalten gegenüber dieser Taktik. Schließlich hatte die deutsche Sozialdemokratie nicht nur den imperialistischen Krieg unterstützt, sondern maßgeblich zur Niederschlagung der Revolution samt der Ermordung von Luxemburg, Liebknecht und Tausender revolutionärer Arbeiter:innen beigetragen. Diese Kritik, so die KI, dürfen Revolutionär:innen natürlich nie verschweigen. Aber die Frage der Einheitsfront, die, so Lenin, auch mit des Teufels Großmutter möglich wäre, wenn sie eine verbürgerlichte, proimperialistische Arbeiter:innenpartei führen würde, bezieht sich letztlich darauf, wie Kommunist:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und vor allem ihren reformistischen Teil für ihre Programmatik gewinnen können. Wie lange die Taktik notwendig bleibt, hängt nicht davon ab, wie viele Verbrechen die reformistischen Führungen schon begangen haben, sondern davon, wie lange sie sich einen Einfluss über einen bedeutenden Teil der Arbeiter:innenklasse bewahren können.

Wenn wir diese historischen Lehren heute anwenden wollen, so müssen wir auch verstehen, dass die Grundprinzipien der Einheitsfrontmethode für kommunistische Parteien, nicht für Propagandagruppen entwickelt wurden. Eine Arbeiter:inneneinheitsfront im eigentlichen Sinn ist ein Abkommen zwischen revolutionären und reformistischen Massenorganisationen, nicht zwischen kleinen Gruppen. Denn nur Erstere sind in der Lage, auch wirklich die gemeinsamen Ziele gegenüber dem Klassenfeind durchzusetzen, weil sie – im Gegensatz zu kleinen Gruppen – über die dazu nötigen Machtmittel verfügen.

Der KI war darüber hinaus bewusst, dass die Reformist:innen in der großen Mehrzahl der Fälle eine Einheitsfront erst gar nicht eingehen würden, dass ihre Führungen es vorziehen, den Kampf zu hintertreiben oder mit offen bürgerlichen Kräften zu paktieren, statt mit den Kommunist:innen gemeinsame Sache zu machen. Darin drückt sich die vom reformistischen Standpunkt aus durchaus nachvollziehbare, antirevolutionäre Position aus, dass der gemeinsame Kampf mit Kommunist:innen die reformistischen Arbeiter:innen deren Argumenten stärker aussetzt, die Kommunist:innen den Unmut der reformistischen Arbeiter:innen aufgreifen. Daher antworteten sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaftsführungen in der Geschichte oft ablehnend auf kommunistische Einheitsfrontangebote. Doch dieses Nichtzustandekommen macht die Taktik keineswegs nutzlos, vielmehr erstreckt sie sich auch auf diesen vorbereitenden Weg. Lehnen nämlich die reformistischen Führer:innen einen in den Augen der reformistischen Arbeiter:innen vernünftigen und ernsthaften Vorschlag ab (oder gehen sie gar repressiv gegen Mitglieder vor, die für die Einheitsfront eintreten), so nützt auch das den Kommunist:innen.

Umgekehrt kann eine Einheitsfront von Kommunist:innen auf keinen Fall zurückgewiesen werden, weil die Reformist:innen bei einem erfolgreichen Kampf auch an Einfluss gewinnen könnten. In manchen Fällen mag das durchaus der Fall sein. Doch kommt dies einem klassenpolitischen Tunnelblick gleich, zumal in Krisenperioden. Nehmen wir einmal an, die Gewerkschaftsbürokratie würde unter dem Druck von unten und einer sich formierenden klassenkämpferischen Opposition einen erfolgreichen Streik führen müssen und echte Lohnzuwächse oder eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich erzielen. Das Prestige dieser Führung würde steigen, eventuell auch die Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems, weil man ja eine erfolgreiche Reform durchgesetzt hat.

Aber es würde auch das Selbstvertrauen und -bewusstsein der Arbeiter:innen in diesem Wirtschaftszweig sowie der gesamten Klasse heben. Gleichzeitig würde sich die herrschende Klasse, die ohnedies unter verschärfter globaler Konkurrenz steht, mit einem solchen Abkommen nicht abfinden wollen, sondern möglichst rasch versuchen, den Erfolg rückgängig zu machen und den Arbeiter:innen eine Niederlage beizufügen. Die reformistischen Führer:innen würden so von allen Seiten unter Druck geraten und die Aufgabe der Revolutionär:innen bestünde darin, diesen durch eine systematische Einheitsfrontpolitik zu verstärken und die Arbeiter:innen auf die nächste Runde des Kampfes vorzubereiten. Denn auch wenn reformistische und bürokratische Führungen durchaus an der Spitze erfolgreicher Teilkämpfe stehen können, so lässt die aktuelle Lage nicht zu, dass sich ein längerfristiges System des sozialpartnerschaftlichen „Klassenausgleichs“ wieder stabilisiert.

Und genau darin – diese Teilkämpfe als Teil eines längerfristigen Ringens um den Sozialismus zu begreifen und führen – unterscheidet sich die revolutionäre von der reformistischen Strategie. In diesem Kontext bildet die Einheitsfronttaktik historisch wie aktuell ein unerlässliches Mittel des Kampfes für die Revolution.

Zu Recht wurde die Einheitsfrontmethode oft mit der militärischen Metapher „Getrennt marschieren – vereint schlagen!“ zusammengefasst. Sie stellt eine flexible, sehr variantenreiche Taktik der gemeinsamen, einheitlichen Aktion gegen den Klassenfeind dar. Zugleich erfordert sie jedoch unbedingt, dass Revolutionär:innen in keiner Phase – auch nicht in der gemeinsamen Aktion – ihre eigentlichen Ziele vor den Massen verbergen und auf die notwendige und berechtigte Kritik an nicht-revolutionären Verbündeten verzichten. Einheitsfront und Propagandafreiheit müssen vielmehr Hand in Hand gehen. Nur so können die beiden Ziele dieser Taktik – größtmögliche Einheit gegen das Kapital und Entlarvung der reformistischen Führungen – erreicht werden. Nur so kann die Taktik als unerlässliches Werkzeug zum Aufbau einer revolutionären Partei fungieren.

Anhang: Einheitsfront und Propagandagruppen

Die Einheitsfronttaktik im eigentlichen Sinn ist die einer kommunistischen Partei gegenüber Massenorganisationen. In Deutschland befindet sich die radikale Linke seit Jahren in einem Zustand der Marginalisierung, der es ihr in der Regel verunmöglicht, Massenorganisationen unter Druck zu setzen oder gar zur Aktion zu zwingen. Dies ist allenfalls möglich, wenn es größere gesellschaftliche Bewegungen gibt und kleinere Gruppen ihre Kräfte bündeln, um Druck auf Massenorganisationen für bestimmte, spezifische Forderungen auszuüben.

Unabhängig davon besteht für Vorformen revolutionärer Organisationen auch immer die Pflicht zu skizzieren, welche Taktiken, welche Bündnisse, welche Forderungen und Aktionsformen notwendig wären, um zentrale gesellschaftliche Kämpfe zum Erfolg zu führen. Das schließt notwendigerweise die Propagierung der Einheitsfronttaktik ein, d. h. eine Skizze, welche Massenkräfte in Bewegung gesetzt, welche Forderungen gegenüber bestehenden Massenorganisationen erhoben werden müssen, um diese in Bewegung zu bringen. Ansonsten bleibt die Propaganda letztlich abstrakt. Die Erarbeitung und Herleitung eines richtigen Verständnisses der Einheitsfrontpolitik ist selbst ein unerlässlicher Bestandteil dieser Arbeit.

Die deutsche radikale Linke will davon in der Regel jedoch nichts wissen. Das spiegelt selbst die Isolierung von der Arbeiter:innenklasse wider, die sich nicht nur auf politischer, sondern auch auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene offenbart. Hinzu kommt, dass ein Teil der Linken dieses Problem durch Anpassung an die Apparate (Entrismus in DIE LINKE, Posten in den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, Versorgungsposten in der akademischen Welt) löst. Dies gilt anderen Teilen der Linken durchaus nachvollziehbar als abschreckendes Beispiel.

Daher verfällt ein anderer, scheinbar radikalerer Teil der deutschen Linken auf den ultralinken Fehler, am liebsten Bündnisse mit sich selbst zu machen, bis hin zu sog. „revolutionären Bündnissen“. Für die Tradition der KI stellen diese eigentlich ein Unding dar, bezieht sich doch das eigentliche Problem der gesamten Einheitsfrontpolitik auf das Verhältnis von revolutionären zu nicht-revolutionären, bürgerlichen, letztlich oft konterrevolutionären Arbeiter:innenorganisationen.

Nehmen wir das „revolutionäre“, „linksradikale“ Bündnis beim Wort, so handelt es sich um keine Einheitsfront. Sollte sich ein solches Bündnis als revolutionär bezeichnen, so wirft das unmittelbar die Frage auf, was eigentlich „revolutionär“ bedeutet. Sollte es wirklich so viele Gemeinsamkeiten geben, dass Übereinstimmung nicht nur bezüglich des allgemeinen Zieles, sondern auch zu vielen grundlegenden theoretischen Fragen, zur Einschätzung der Weltlage, zu programmatischen und taktischen Schlüsselfragen (Krieg, Krise, Taktik gegenüber Gewerkschaften und anderen Arbeiter:innenorganisationen, sozialer Unterdrückung, Übergangsmethode usw.) besteht, so müssten sich die in einem solchen Bündnis versammelten Gruppen nicht die Frage nach einem Bündnis, sondern nach einer programmatischen Diskussion mit den Ziel der revolutionären Vereinigung stellen.

Ein Blick auf die meisten „radikalen“ oder „antikapitalistischen“ Bündnisse zeigt aber, dass die Gruppen darin im Grund nur ein Bekenntnis zur „Revolution“ oder einer „anderen Gesellschaft“ eint, ansonsten aber grundlegende Differenzen vorherrschen. Es handelt sich um eine Pseudoeinheit, die weder für den konkreten Kampf hilfreich ist noch zur politischen Klärung beiträgt. Im schlimmsten Fall ist es ein politisches Stillhalteabkommen, bei dem falsche Programmatik und Politik der „Bündnispartner:innen“ nicht weiter kritisiert werden.

Im Grunde legen alle solche Bündnisse immer eine Tendenz zu einem Propagandablock und politischen Stillhalteabkommen politisch-ideologisch weit entfernter oder gar gegensätzlicher Gruppen an den Tag. Sie werden direkt kontraproduktiv für den Klassenkampf und daher für Kommunist:innen unzulässig, wenn sie sich als Alternative zur Gewinnung von Massenorganisationen für den Kampf betrachten.

Bündnisse und Initiativen auch kleiner linker Gruppen können jedoch eine fortschrittliche Rolle spielen, wenn sie nicht einfach das bleiben wollen, was sie sind. So waren verschiedene kleinere linke Gruppen und die Gewerkschaftslinke Anfang des Jahrhunderts im Anschluss an die Bewegung gegen Hartz IV in Aktionskonferenzen in der Lage, große Proteste gegen die Angriffe der Regierung Schröder/Fischer zu organisieren. Diese mündeten in einer bundesweiten Demo gegen Sozialabbau mit 100.000 Teilnehmer:innen, die ihrerseits den DGB zu regionalen Demonstrationen mit weit über eine halben Million Gewerkschafter:innen zwang, wenn auch nur einmalig. Auch die Bildungsstreikbewegung ging ursprünglich von kleineren Gruppen und Bündnissen aus, zwang aber Student:innenvertretungen und größere Organisationen zu Mobilisierungen, an denen sich bundesweit weit mehr als 100.000 Jugendliche beteiligten.

Ein weiteres, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel dafür sind klassenkämpferische Blöcke am Ersten Mai. Sie stellen Mittel dar, um einen gewissen Einfluss auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen zu nehmen und diese mit einer weitergehenden Perspektive zu konfrontieren. Daher arbeiten wir auch in der VKG, die selbst sowohl Züge eines linken Bündnisses trägt, zugleich aber den Keim einer klassenkämpferischen Basisbewegung, einer Art Einheitsfront gegen die Bürokratie in den Betrieben und Gewerkschaften darstellt. In dem Maße, in dem sie die Gewinnung der Massenorganisationen der Arbeiter:innen für die jeweiligen Ziele des Kampfes in den Vordergrund rücken und, wie im Falle der VKG, die klassenkämpferische, antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften, können auch Bündnisse von Propagandagruppen als Formen der Einheitsfront verstanden werden. Es muss aber immer bewusst sein, dass diese Miniaturfronten nur einen schwachen Keim dafür pflanzen können. Unter dieser Voraussetzung aber können sie zum wirklichen Mittel geraten, damit auch kleine Gruppierungen in der Lage sind, Massenkräfte in die Aktion zu zwingen, sodass die Keimform zum Mittel wird, wirkliche Einheitsfronten der Arbeiter:innen und Unterdrückten herzustellen. Dadurch können auch kämpfende Propagandagruppen einen Faktor bei größeren Mobilisierungen darstellen und eine aktive Rolle darin spielen.

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One thought on “Linksradikale Bündnispolitik zwischen Sektierertum und Pragmatismus”

  1. Hanns Graaf sagt:

    Guter Text! Ich stimme damit voll überein. RG Hanns Graaf

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