Martin Suchanek, Neue Internationale 256, Juni 2021
Die erzwungene Landung einer Boeing 737 am 23. Mai stellt einen weiteren, rücksichtslosen Schlag des belarussischen Präsidenten Lukaschenko dar. Wegen einer angeblichen Bombendrohung wurde die Maschine von einem MiG-29-Abfangjäger zur Umkehr und Notlandung in Minsk gezwungen – ein dreister und auch nur notdürftig verhüllter Akt staatlich organisierter Luftpiraterie. Anfänglich versuchte das Regime, die angebliche Bombendrohung der Hamas in die Schuhe zu schieben. Diese dementierte rasch und der verabscheuenswürdige Versuch Lukaschenkos, antiislamische westliche Ressentiments für seine Zwecke zu befeuern, ging ins Leere. Zu offensichtlich war die Lüge.
Der eigentliche Zweck des Manövers trat in kürzester Zeit offen zutage: Die Festnahme des Oppositionellen Roman Protassewitsch. Dieser lebt seit Jahren im Exil in Athen und betreibt von dort die Video- und Telegram-Plattformen Nexta und Nexta-Live. Bei den Massendemonstrationen gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen fungierten sie als wichtige, vom Regime unabhängige Informationsquellen und Instrumente zur Vernetzung. Deshalb wird ihnen vom belarussischen Geheimdienst KGB „Terrorismus“ und Anstiftung zum Aufruhr vorgeworfen.
Mit der Festnahme, erzwungenen Geständnissen, wie sie das Staatsfernsehen veröffentlichte, einem möglichen öffentlichen Schauprozess und einer drohenden langjährigen Haftstrafe sollen zwei wesentliche Botschaften vermittelt werden.
Erstens zeigt das Regime, dass ihm alle Mittel recht sind, die Opposition zu zerschlagen und mundtot zu machen. Erzwungene Geständnisse und Reue sollen andere demoralisieren, von der Hoffnungslosigkeit weiterer regimekritischer Tätigkeit überzeugen und so zur Aufgabe bewegen. Vor allem sollen sie signalisieren, dass niemand vor dem Regime sicher ist – selbst im Ausland und selbst ein junger 26-Jähriger, der keine bekannte Führungsfigur der Opposition war.
Zweitens soll mit der Festnahme auch den verbliebenen oppositionellen Nachrichtennetzwerken ein weiterer Schlag versetzt werden. Wenige Tage vor der erzwungenen Landung der Boing 737 wurden in Belarus das letzte, der Opposition zuzurechnende Nachrichtenportal TUT.by von Polizeieinheiten erstürmt und mehrere JournalistInnen festgenommen. Schließlich zielen die Festnahme und Verhöre von Protassewitsch auch darauf, KorrespondentInnennetzwerke und Verbindungsstrukturen in Belarus selbst auszuheben, um so das Land vorm Einfluss oppositioneller Medien und Strukturen abzuschotten.
Zur Zeit fühlt sich Lukaschenko offenkundig in einer Position der Stärke. So hatte die Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja noch vor kurzem in Wien den Wunsch nach Verhandlungen mit dem Regime geäußert. Dafür sieht Lukaschenko keinen Anlass. Nachdem die Massenbewegung selbst abgeflaut ist, versucht er, die Opposition endgültig zu zerschlagen, und stützt sich dabei auf einen überdimensionierten, schlagkräftigen und loyalen Staats- und Repressionsapparat. Eine Konfrontation mit den westlichen, imperialistischen Ländern – mit EU, Deutschland oder den USA – und Sanktionen nimmt er dafür in Kauf und setzt auf die Unterstützung durch Russland. Dieses wiederum versucht, die Situation zu nutzen, um Belarus als Halbkolonie noch enger an sich zu binden – freilich auch mit enormen finanziellen Kosten.
Propagandistisch versucht das belarussische Regime zudem, die Aktionen Lukaschenkos als Akt der Selbstverteidigung gegen wachsende westeuropäische oder US-amerikanische Einflussnahme hinzustellen. Die Opposition wird dabei auch zusätzlich dämonisiert, bis hin zur Unterstellung, dass Menschen wie Protassewitsch eigentlich „ExtremistInnen“ wären. So wird ihm vorgeworfen, im Alter von 16 Jahren Mitglied einer nationalistischen Organisation gewesen zu sein und mit 17 gegen als rechter Freiwilliger gegen die Republik Donbass auf Seiten der Ukraine gekämpft zu haben.
Diese Anschuldigungen gehen jedoch am Wesen der Sache vorbei. Erstens wird Protassewitsch, der selbst sicherlich kein Linker ist, seine Vergangenheit vorgeworfen, weil so von der eigentlichen Anschuldigung des Regimes, vom legitimen und fortschrittlichen, von den Massen getragenen Charakter der Bewegung gegen Lukaschenko abgelenkt werden soll. Dabei wird eine Parallele zwischen dem reaktionären Maidan und der Bewegung in Belarus konstruiert werden, die es nicht gibt.
Beim Regime Lukaschenko handelt es sich um ein reaktionäres, bonapartistisches System, das vor allem am eigenen Machterhalt interessiert ist. Die Oppositionsbewegung wiederum unterscheidet sich grundlegend vom Maidan und den faschistischen Milizen, die als dessen Sturmtruppen fungierten. Wir haben es in Belarus vielmehr mit einer demokratischen Massenbewegung gegen ein autoritäres Regime zu tun, das von der Masse der Bevölkerung, also auch der der Lohnabhängigen getragen wird.
Das Regime selbst fürchtet jede Form der Opposition, vor allem aber, dass die ArbeiterInnenklasse zu deren führender Kraft werden könnte. Daher wurden im März 2021 nicht nur Onlineportale wie Nexta zu „extremistischen“ und „terroristischen“ Organisationen erklärt. Zugleich wurden auch die Rechte der ArbeiterInnen weiter eingeschränkt. So dürfen Beschäftigte, die zu politischen Streiks oder Arbeitsniederlegungen aufrufen, fristlos entlassen werden. Im März 2021 wurden zudem AktivistInnen von Streikkomitees im Kalibergbau in Soligorsk oder beim Düngemittelwerk Grodno Asot festgenommen.
Die aktuellen Angriffe auf die Opposition, der Rückgang der Massenbewegung und deren fehlende Verankerung in der ArbeiterInnenklasse begünstigen freilich Lukaschenkos Absicht, diese zu brechen. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die ArbeiterInnenklasse in allen Ländern mit den Lohnabhängigen, den StudentInnen und Intellektuellen in Belarus in ihrem Kampf gegen das Regime solidarisiert.
Niemand sollte sich davon beirren lassen, dass der Diktator Lukaschenko demagogisch versucht, die Tatsache zu nutzen, dass etliche OppositionsführerInnen, die in den Westen flohen, die Nähe zur EU oder zu den USA suchen und politisch eine liberale oder konservative Ausrichtung verfolgen. So wie das belarussische Regime in seiner Krise mehr und mehr auf die Unterstützung Russlands und Putins angewiesen ist, besteht natürlich die reale Gefahr, dass liberale und konservative OppositionsführerInnen im Exil zum Spielball des westlichen Imperialismus werden. Doch dieser können wir nur wirksam begegnen, wenn wir uns mit den Opfern der Repression und mit den über 1.000 politischen Gefangenen solidarisieren, deren sofortige und bedingungslose Freilassung fordern und den Aufbau einer eigenständigen politischen Partei der ArbeiterInnenklasse unterstützen.
Die Regierungen der Nachbarländer von Belarus, aber auch Deutschland, die EU und die USA präsentieren sich seit Tagen als selbstlose UnterstützerInnen der Opposition und haben Sanktionen gegen das Regime verschärft. Diese tragen zwar wie schon in der Vergangenheit vor allem einen symbolischen Charakter, beginnen aber in einigen Bereichen – Einstellung von Flügen nach Belarus, drohendes Importverbot für Kali, sein wichtigstes Exportgut –, darüber hinauszugehen.
Die skandalöse, erzwungene Landung der Boing 737 und die Festnahme von PassagierInnen werden zwar zu Recht kritisiert. Geflissentlich wird aber verschwiegen, dass die Praxis von Kidnapping vermeintlicher GegnerInnen eine lange Tradition aller imperialistischen Mächte und etlicher reaktionärer halbkolonialer Regime verkörpert. Allen voran haben die USA seit Beginn des „Krieges gegen den Terror“ sog. „extraordinary renditions“ (außerordentliche Auslieferungen) in großem Umfang betrieben und die Ausgelieferten beispielsweise nach Guantánamo überstellt.
Auch Flugzeugentführungen oder erzwungene Routenänderungen sind nicht beispiellos. So wurde 2013 das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales zur Landung in Wien gezwungen, weil angeblich der von den US-Geheimdiensten gesuchte Whistleblower Edward Snowden an Bord gewesen sein soll.
Für Merkel, von der Leyen, Macron oder Biden geht es letztlich nie um Menschenrechte oder Demokratie. Diese müssen nur als Mittel zum Zweck herhalten in der größeren Konfrontation vor allem mit Russland. Die Sanktionen gegen Belarus und die westliche Politik gegenüber der Opposition verfolgen dabei mehrere Ziele. Das Land – eine der letzten, von Moskau beherrschten Halbkolonien in Europa – soll längerfristig dessen Einfluss entrissen werden. Bis dahin soll der Preis möglichst hochgetrieben werden, denn schließlich kostet Russland die Rettung des Regimes Lukaschenko auch Milliarden, um die Wirtschaft des Landes zu stützen und eine weitere ökonomische und soziale Destabilisierung zu verhindern. Die 500 Millionen Euro Soforthilfe, die Putin diesem Ende Mai in Sotschi zusagte, sind nur ein kleiner Teil der Unterstützungsgelder, die längerfristig notwendig werden.
Zugleich verschärft der Westen auch auf andere Weise den Druck. So mehren sich in der EU die Stimmen, die eine Aufrüstung der Ukraine fordern. Das jüngste Beispiel dafür ist der Vorsitzende der deutschen Grünen, Robert Habeck, der die rasche Lieferung von Defensivwaffen für Kiew forderte und damit die Bundesregierung rechts überholte.
Die Heuchelei und verlogene Kritik an Lukaschenko durch die westlichen imperialistischen Staaten darf uns keineswegs hindern, die ArbeiterInnenklasse, die StudentInnen und Intellektuellen in Belarus weiter zu unterstützen. Wir müssen aber dabei auch die heuchlerische Unterstützung der Opposition durch die westlichen Mächte als das entlarven und zurückweisen, was sie ist – ein Mittel, eigene geostrategische und ökonomische Interessen in der Konkurrenz mit Russland durchzusetzen.
Die ArbeiterInnenklasse und die Linke müssen daher die Solidarität mit der Bewegung in Belarus und die Unterstützung von ArbeiterInnenorganisationen, die vom Regime unabhängig sind, mit einer Ablehnung jeder imperialistischen Einmischung – ob vom Westen oder von Russland – verbinden.
Zur Zeit mag sich Lukaschenko relativ sicher wähnen. Längerfristig ist seine Herrschaft jedoch brüchig, auf Sand gebaut. Sozial stützt sich seine Regierung fast ausschließlich auf den Staat- und Sicherheitsapparat und die Unterstützung durch den russischen Imperialismus. Auf Dauer kann eine solche soziale Basis nicht ausreichen, um das Land zu stabilisieren. Im Gegenteil: Selbst die massive Repression, abenteuerliche Entführungs- und Einschüchterungsaktionen schüchtern die Menschen nicht nur ein. Sie enthüllen unfreiwillig auch die Schwäche eines Regimes, das einen 26-jährigen Blogger anscheinend so sehr fürchtet, dass ein Flugzeug entführt wird, um seiner habhaft zu werden.
Die kleine, aber aktive belarussische Linke und die ArbeiterInnenklasse müssen zwar davon ausgehen, dass ein neuer Ausbruch der Massenbewegung im Land nicht unmittelbar bevorsteht. Früher oder später ist dieser aber angesichts der ungebrochenen Legitimitätskrise des Regimes und der sozialen und ökonomischen Verwerfungen zu erwarten, ja geradezu unvermeidlich. Darauf müssen sich die Linke und die ArbeiterInnenklasse und ihre internationalen UnterstützerInnen vorbereiten, indem sie heute, unter Bedingungen der Halblegalität und Illegalität, oppositionelle betriebliche und gewerkschaftliche Strukturen, Jugend- und StudentInnenorganisationen und vor allem eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei aufbauen.