Dilara Lorin, Gruppe Arbeiter:innenmacht, Revolution Deutschland, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 13, März 2025
Syrien – ein Land, das mehr als 50 Jahre lang vom Assad-Regime tyrannisiert wurde – konnte nach dem Sturz von Baschar al-Assad am 8. Dezember 2024 endlich aufatmen. Tausende Syrer:innen feierten den Erfolg – zu Recht, denn er verändert die Lage grundlegend nach Jahren der Folter, Vertreibung und des Todes. Diesen Erfolg kann sich die von der HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham; Komitee zur Befreiung der Levante bzw. auch Organisation zur Befreiung Syriens) geführte Koalition nicht allein zuschreiben, denn er ist auch einer der syrischen Massen. Doch auch Sorge mischt sich in den Jubel. Wir sollten keine Illusionen in die islamistischen Kräfte setzen, die derzeit die Übergangsregierung stellen, und nicht glauben, dass sie ihre reaktionären politischen Ziele nicht in die Realität umsetzen werden. Doch jetzt besteht die Chance, die Arbeitenden und Unterdrückten zu vereinen, um eine Gegenmacht aufzubauen. Politische Debatten und Arbeit sind heute eher möglich als vor dem „Arabischen Frühling” 2011. Dieses revolutionäre Erbe muss vollendet werden, um ein Land zu schaffen, das den Menschen dient, nicht den Profiten der Herrschenden oder imperialistischen Mächten. Besonders betrachten wir die Lage der Frauen in Syrien – ihre Rolle im Kampf für ein freies, sozialistisches und demokratisches Syrien ist entscheidend.
Möchte man sich die Lage von Frauen in Syrien anschauen, kommt man nicht drum herum, die Lage der Bevölkerung zu beleuchten: Seit 2011 sind mehr als 231.278 getötete syrische Zivilist:innen dokumentiert, darunter 15.334 durch Folter. 156.757 wurden verhaftet und/oder sind gewaltsam verschwunden, während 14 Millionen weiterhin zwangsweise vertrieben sind.1
Die Dunkelziffer ist hierbei jedoch höher. Die Zahl der Inhaftierten und Getöteten liegt bei Männern höher als bei Frauen, da es auf der einen Seite eine gezielte Verfolgung von Männern gab aufgrund der Wehrpflicht. Dies liegt vor allem daran, dass Frauen in patriarchalen Strukturen häufiger ins Haus zurückgedrängt wurden und ihnen die Teilnahme an Protesten eher verwehrt oder diese missbilligt wurde. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Frauen nicht ebenfalls unter dem Assad-Regime gekämpft haben und ihm zum Opfer gefallen sind. Mehr als 29.064 Frauen wurden seit März 2011 vom Regime ermordet, darunter 117, die durch Folter starben. Bis zum Sturz Assads waren noch mehr als 11.268 Frauen inhaftiert oder in den Gefängnissen des Regimes spurlos verschwunden. Zudem wurden über 11.533 Fälle sexueller Gewalt dokumentiert.2 Diese Zahlen müssen auch hier jedoch auch nach dem 08.12.24 neu evaluiert werden.
Recherchen und Belege aus der Datenbank des Syrian Network for Human Rights (SNHR) zeigen, dass Frauen aus unterschiedlichen Gründen ins Visier genommen wurden: aufgrund geschlechtsspezifischer, konfessioneller und regionaler Gewalt sowie wegen ihrer Rolle in den Medien, ihrer menschenrechtlichen Aktivitäten, ihrer Teilnahme an Protesten oder ihres humanitären Engagements. Viele Frauen müssen auch nach der Inhaftierung, sofern sie das Gefängnis lebend verlassen, mit Stigmata kämpfen. Die Angst vor Vergewaltigungen war einer der Hauptgründe, warum Familien eher ihre Söhne ermutigten, an den Protesten teilzunehmen, und nicht ihre Töchter. Doch auch das hielt Tausende Frauen nicht davon ab, an vorderster Front in Homs, Hama, Darʿā oder Damaskus während der Revolution in Syrien zu stehen.
Bereits während der französischen Kolonialherrschaft organisierten sich Frauen. Eine der bekanntesten war Nazik al-Abid, die bis 1959 die Frauenbewegung anführte und für politische Rechte kämpfte. Sie spielte eine führende Rolle bei der Gründung mehrerer feministischer Vereine und war in der Maysalun-Schlacht (24.7.1920) gegen die französische Besatzung als Vorsitzende der „Red Star Society“ (Rote-Stern-Gesellschaft; Vorläuferin des Roten Halbmonds) aktiv. 1933 gründete sie die Niqâbat al-Mar’a al-‚Amila (Gesellschaft der berufstätigen Frauen), in der sie und ihre Mitstreiter:innen sich für die Belange der Frauen in Syrien einsetzten und insbesondere die wirtschaftliche Unabhängigkeit als Mittel zur politischen Befreiung der Frau propagierten. Viele weitere Frauen erreichten während des Kampfes gegen die französische Besatzung eine starke Präsenz und forderten das Wahlrecht, das nach langen Kämpfen 1949 eingeführt wurde.
Mit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad wurde formal die Gleichstellung der Frau vor dem Gesetz festgeschrieben (das „Parlament“ hatte zeitweise einen Frauenanteil von 12 %), doch die Realität vieler Frauen sah anders aus. Wirtschaftliche Unabhängigkeit war durch die patriarchalen Strukturen innerhalb der Gesellschaft nicht akzeptiert, da Frauen zu Hause bleiben und für Erziehung sowie Haushalt verantwortlich sein sollten. Zudem war die politische Teilhabe bereits unter Hafiz al-Assad stark an den Baathismus (Baath-Partei in Syrien, offizieller Name: Arabische Sozialistische Baath-Partei; panarabisch-populistisch) und die Herrschaft der Assads gebunden. Kritiker:innen des Regimes wurden oft inhaftiert und mussten mehrere Jahrzehnte in den Gefängnissen verharren.
Nach der Machtübernahme seines Sohnes Baschar al-Assad wurde immer deutlicher, dass Gleichstellung und politische Teilhabe von Frauen nur oberflächlich existierten und keine reale Veränderung der Unterdrückung mit sich brachten. Während Asma al-Assad, dessen Ehefrau, insbesondere vor Kameras der westlichen imperialistischen Berichterstattung sich als weltoffen und engagiert präsentierte und Frauenvereine gründete, um Förderung von Bildung und Arbeit für Frauen zu suggerieren, waren nur etwa 13 % der Frauen erwerbstätig und Hunderte wurden in den Gefängnissen des Regimes gefoltert und ermordet.
Trotz der Tatsache, dass die Analphabetenrate unter Frauen niedriger ist und sie häufiger einen Abschluss absolvieren als Männer, bleibt vielen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Dabei ist zu beachten, dass die offiziell erfasste Erwerbsquote von nur 13 % bis zur Revolution 2011 eine erhebliche Dunkelziffer aufweist. Besonders in ländlichen Gebieten arbeiteten viele Frauen auf Äckern und Weiden oder in familiengeführten Betrieben, während in den Städten zahlreiche in kleinen Familiengeschäften tätig waren – oft ohne offizielle Registrierung. Mit dem „Arabischen Frühling” stieg die Zahl der arbeitenden Frauen kontinuierlich an. Dies war einerseits auf die Errungenschaften der Protestbewegungen und die aktive Teilnahme Tausender Frauen zurückzuführen, die ihnen mehr Anerkennung und Legitimität verschafften. Andererseits führte die massenhafte Vernichtung der männlichen Arbeitskraft durch den Krieg sowie die millionenfache Vertreibung dazu, dass viele Stellen mit weiblichen Arbeitskräften besetzt werden mussten. Im Jahr 2021 lag der Anteil der erwerbstätigen Frauen bei 26 %.3
Im Jahr 2011 erreichte der Funke des „Arabischen Frühlings” auch Syrien. Die Journalistin Maha al-Khatib beteiligte sich früh an den ersten Demonstrationen, wurde dafür inhaftiert und misshandelt. Doch wie Tausende andere Frauen gab sie trotz allem nie ihren Kampfgeist auf. Nach ihrer Freilassung formulierte sie in einem Interview den Satz: „Die Stimme der Frau ist Revolution, das Schweigen des Mannes ist Schande!“ Dieser Satz kann sinnbildlich betrachtet werden für die Rolle, die sich Frauen innerhalb der Revolution selbst zuschrieben. Sie betrachteten sich als essenziellen Teil des Aufstands und machten deutlich, dass das Eintreten für ihre Rechte nicht nur legitim, sondern unabdingbar sei.
Es waren Frauen wie Maha, die nicht nur an vorderster Front Schulter an Schulter mit vielen anderen demonstrierten. Viele spielten zudem eine führende Rolle in der Medienarbeit, der Organisation von Protesten, der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen sowie in der medizinischen Versorgung und humanitären Hilfe. Einige beschränkten sich nicht nur auf diese Bereiche, sondern schlossen sich auch der Freien Syrischen Armee (FSA) an, darunter die Ingenieurin Thwaiba Kanafani, die durch ihren Beitritt konservative gesellschaftliche Normen in Frage stellte. Sie war die erste Frau in der FSA und sagte in einem Interview: „Derzeit gibt es keine weiblichen Kämpfer an der Front, aber viele Frauen unterstützen den Widerstand durch nachrichtendienstliche und logistische Arbeit.“ Sie locken Milizionär:innen in Hinterhalte oder helfen bei der Beschaffung von Waffen. „Außerdem begleiten viele Krankenschwestern die Freie Syrische Armee, um verwundete Kämpfer:innen zu versorgen.“ Dass Frauen eine zentrale Rolle in der Berichterstattung und innerhalb der Koordinationskomitees spielten, zeigen Persönlichkeiten wie Fadwa Suleiman (Soliman) und Razan Zaitouneh. Aufgrund ihres Engagements wurden sie sowohl vom Assad-Regime als auch später von extremistischen Gruppen als Feindinnen angesehen.
Die Revolution eröffnete neue politische und gesellschaftliche Räume, die es unter dem Assad-Regime so nicht gegeben hatte, da jegliche politische Teilhabe oder Betätigung direkt untersagt wurde. Doch 2011 schuf auch Möglichkeiten für Frauen, ihre Stimme zu erheben und Gehör zu finden. Eines ist dabei klar: Während des „Arabischen Frühlings” waren es die Forderungen nach Demokratie, Mitbestimmung, dem Ende der Diktatur und einem würdevollen Leben, die die Menschen gemeinsam auf die Straßen brachten – ohne genderspezifische Forderungen, da alle gleichermaßen vom repressiven System betroffen waren. Mit der Entwicklung der Revolution zu einem immer stärker bewaffneten Konflikt, in dem islamistische und konservative Kräfte zunehmend die Oberhand gewannen, wurden mit der Ausbreitung des IS (Islamischer Staat, auch ISIS oder Daesch; terroristisch agierende dschihadistische Miliz) in Syrien Frauen zu Hauptfeindinnen erklärt, was zu Entführungen, Folter, Morden und Massenvertreibungen vieler führte.
Die verbliebenen Aktivistinnen gründeten nach 2013 vermehrt NGOs wie das Frauenbildungszentrum in Kafranbel (Kafr Nabi, Gouvernement Idlib) sowie Zentren, die soziale und psychologische Unterstützung anboten. Viele dieser Zentren waren ein Versuch, Unterstützung an den Orten, an denen staatliche Strukturen kollabierten oder als nicht vertrauenswürdig galten, und aus eigener Kraft zu bieten. Auch in der autonomen, selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyriens (Rojava) wurden viele dieser Zentren gegründet.
Jedoch ist die „NGOisierung” von Teilen der Bewegung des „Arabischen Frühlings” zu kritisieren, da sie einerseits eine Abhängigkeit von Geldgeber:innen schafft, wodurch man sich bestimmten Bedingungen unterwerfen muss. Dies ermöglicht keinen Kampf, der außerhalb des kapitalistischen Systems stattfindet, um die endgültige Befreiung der Frauen voranzutreiben, sondern bleibt lediglich in der Symptombekämpfung der Unterdrückung stecken.
In Rojava wurden in dieser Zeit viele Fortschritte in Bezug auf Frauenrechte gemacht. So gab es Frauenhäuser und -dörfer, in die sich Frauen, die vor patriarchaler Gewalt fliehen mussten, zurückziehen konnten. Auch die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und Debatten wurde für sie geöffnet und ermöglicht. Außerdem wurden selbstverwaltete Frauenverteidigungseinheiten, wie die YPJ (Yekîneyên Parastina Jin, Frauenkampfverbände der Volksverteidigungseinheiten YPG) gegründet, in denen sie an der Waffe trainiert wurden und im Kampf, vor allem gegen den IS, heroische Arbeit leisteten. Obwohl es Verbesserungen und Errungenschaften gab, blieben jedoch die gesellschaftlichen patriarchalen Strukturen unverändert, sodass in vielen Teilen der Gesellschaft die Unterdrückung der Frauen nicht nachgelassen hat. Auch hier ist der Kampf noch nicht zu Ende. Unvergessen sind auch die Tausenden Frauen und ihre Familien, die aufgrund der staatlichen massiven Bombardements ihre Häuser verloren und gezwungenermaßen vertrieben wurden. In den Geflüchtetenlagern im Libanon sowie in der Türkei oder in Griechenland war die Lebensqualität unvorstellbar. Die Flucht führte Frauen in noch prekärere Lebensumstände, da sie oftmals für ihre Familie aufkommen mussten, während Männer seitens des Assad-Regimes inhaftiert oder ermordet wurden.
Nach dem Sturz des Assad-Regimes gilt es, die syrische Revolution von 2011 zu vollenden. Es gibt nicht nur Raum für politische Organisierung, sondern auch die Notwendigkeit, den Kampf gegen die Übergangsregierung der HTS zu führen und für ein Syrien zu kämpfen, in dem Frauen, Unterdrückte und Arbeiter:innen für ihre Interessen eintreten. Dabei sind es aktuell Frauen, die das Land aufbauen sowie nach Überlebenden suchen, Inhaftierte versorgen und pflegen.
Es ist klar, dass kein Vertrauen in die von der HTS mehrheitlich geführte Regierung gesetzt werden kann. Die wirtschaftliche Lage vieler Menschen ist miserabel: Mehr als 90 % leben unterhalb der Armutsgrenze, wobei Frauen davon noch härter betroffen sind. Viele sind vertrieben und leben in Zelten. Ohne ein männliches Oberhaupt wird das Überleben in Flüchtlingslagern für Familien noch schwieriger. Frauen haben oft erhebliche Hürden zu überwinden, um in dieser Situation arbeiten zu gehen, die familiäre Versorgung aufrechtzuerhalten oder humanitäre Hilfe zu bekommen.
Gleichzeitig hat der neue Präsident Ahmaed al-Scharaa vor seiner „Amtsernennung“ bereits begonnen, einen Großteil der in staatlicher Hand befindlichen Industrie zu privatisieren und den Markt für eine liberale Wirtschaft zu öffnen. Laut dem Finanzministerium Syriens (Assads Zahlen) waren rund 1,2 Millionen Menschen im öffentlichen Sektor angestellt. Zwar war ein Teil davon nicht produktiv, nichtsdestotrotz sind immer noch mehrere Hunderttausend Menschen im Staatsdienst tätig und verdienen nicht mehr als den Mindestlohn. Auch hier hat al-Scharaa angekündigt, in einigen Bereichen die Entlassung von Hunderttausenden vorzunehmen. Schon jetzt häufen sich Berichte über willkürliche Entlassungen sowie zeitweilig bezahlten und unbezahlten Verwaltungsurlaub, auf den Entlassungen folgen.
Dies sind direkte Angriffe auf die Arbeiter:innen, die Armut, Arbeitslosigkeit und die Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter verschärfen. Doch es gibt Widerstand an verschiedenen Orten: So hat Krankenhauspersonal in Damaskus und Aleppo gestreikt. Laut Al-Jumhuriya (syrische Medienplattform) gab es erste Aufmärsche von Arbeiter:innen vor dem Ministerium für Arbeit in Damaskus. Diese gilt es zu stärken und die Gewerkschaften, die über Jahrzehnte in den Händen des Regimes zu einem repressiven Instrument wurden, unabhängig vom Staat aufzubauen – so wie es die Gewerkschaften für Journalist:innen bereits getan haben.
Des Weiteren werden erste Arbeiterkoordinationskomitees in allen Provinzen gegründet, um eine breite Arbeiter:innenbewegung zu organisieren, die die Proteste vereinheitlichen und gemeinsame Forderungen aufstellen möchte. Im Kampf dafür ist entscheidend, nicht nur bei ökonomischen Forderungen zu bleiben, sondern auch politische Fragen aufzuwerfen. Denn es sind letztendlich die Arbeiter:innen, die Hand in Hand mit den Unterdrückten und Geflüchteten für eine Verbesserung im Land kämpfen können – und für eine klassenlose Gesellschaft.
Der „Arabische Frühling” zeigte, wozu die kämpfende Masse der Arbeiter:innen und Unterdrückten fähig ist, und bewies, dass Menschen für ein besseres Leben kämpfen wollen. Doch als das Regime brutal reagierte, wurden zwei Schwächen offensichtlich: die fehlende Zentralisierung und kein klares Programm für die Zukunft. Zwar trug die Arbeiter:innenklasse die Bewegung, hatte aber keine eigene, klassenbewusste Vorhut. Nun heißt es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die aktuellen Chancen zu nutzen!
Für ein freies Syrien müssen demokratische und sozialistische Aufgaben verbunden werden: Die Rückkehrrechte aller Vertriebenen und Geflüchteten müssen gesichert, ihre Unterbringung und ihr Mindesteinkommen gewährleistet werden. Trennung von Staat und Religion, demokratische Rechte sowie Gleichheit für Frauen und Queers sind unverzichtbar. Ebenso wichtig ist es, für alle die aufgrund von sexualisierter Gewalt durch das Regime sowie Folter psychologische Hilfe benötigen, diese zu gewähren. An den Hoffnungen der Massen anknüpfend braucht es eine unabhängige konstituierende Versammlung statt einer Übergangsregierung, die über Syriens Zukunft entscheidet. Auch Geflüchtete müssen Wahlrecht erhalten. Wahlen müssen durch Komitees der Arbeiter:innen, Jugend, Frauen und Bäuer:innen kontrolliert werden. Doch selbst eine solche Versammlung bliebe eine bürgerlich-demokratische Institution. Deswegen muss diese Agitation und Propaganda von Beginn an mit dem Kampf für eine sozialistische Umwälzung verbunden werden. Auf kapitalistischer Profitgrundlage können Not, Zerstörung und Verarmung von Millionen nicht rasch überwunden werden. Ein kapitalistisches Regime – ob mehr oder weniger islamistisch – sorgt nicht für Gerechtigkeit und soziale Entwicklung. Um die unmittelbaren Bedürfnisse der Massen nach Lebensmitteln, Wohnraum und Medizin zu sichern und den Wiederaufbau zu beginnen, braucht es einen Notplan, dessen Umsetzung die Arbeiter:innen kontrollieren müssen.
Die Mittel dafür müssen aus den Reichtümern der Stützen des Assad-Regimes kommen, deren Besitz und Vermögen konfisziert werden. Ebenso muss das Eigentum der herrschenden Kapitalist:innen und Großgrundbesitzer:innen beschlagnahmt und für diesen Notplan genutzt werden. Schließlich kämpfen wir für internationale Hilfe durch imperialistische Staaten – ohne Bedingungen, deren Verteilung und Verwendung von Komitees der Arbeiter:innenklasse kontrolliert wird. Hier spielen Frauen eine entscheidende Rolle. Viele sind auf Hilfsgüter angewiesen, da ein Großteil der Infrastruktur durch die Bombardements des Regimes und seiner Unterstützer:innen zerstört wurde. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu gestalten, treten wir ein für: Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein! Dabei gilt es dann, nicht stehenzubleiben, sondern auch aufzuzeigen, dass nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also die Aufteilung der Sorge- und Care-Arbeit auf alle Hände – die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden können. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.
Doch eines ist auch klar: Solange Regionalmächte wie die Türkei oder Israel willkürlich in Syrien militärisch eingreifen und Großmächte wie die USA und Russland dort weiter Militärbasen unterhalten sowie in die syrische Politik intervenieren, kann von einem freien Syrien keine Rede sein. Daher treten wir für den bedingungslosen Abzug aller ausländischen Truppen ein und lehnen jede Intervention von Israel, der Türkei, den USA, der EU, Russland oder dem Iran ab!
Des Weiteren muss klar sein: Das Selbstbestimmungsrecht der Kurd:innen muss respektiert werden – sei es als autonome Region oder als eigener Staat. Während die Türkei und die von ihr unterstützte SNA (Syrische Nationalarmee) diese kurdische Selbstverwaltung abschaffen wollen, bleiben die USA ein unzuverlässiger Partner. Auch die HTS-Regierung will die kurdische Autonomie beenden, ihre Milizen entwaffnen und durch eine syrische Armee ersetzen. Trotz notwendiger Kritik an der PYD-Führung (Partiya Yekîtiya Demokrat; Partei der Demokratischen Union), ihrer illusorischen Politik des dritten Wegs und problematischen Haltung gegenüber den USA, Russland und dem Assad-Regime ist Ostrojava eine indirekte Folge der syrischen Revolution und eine Form der kurdischen Selbstbestimmung.
Revolutionär:innen müssen diese Errungenschaft gegen die Türkei, ihre Verbündeten und den syrischen Nationalismus der HTS verteidigen. Bisher ist unklar, ob diese das Selbstbestimmungsrecht der Kurd:innen und anderer Minderheiten wie der Drus:innen nicht anerkennen – Revolutionär:innen müssen dies jetzt offen verteidigen! Denn wer eine sozialistische Alternative zur HTS aufbauen will, muss das Selbstbestimmungsrecht der Kurd:innen – einschließlich dessen auf einen eigenen Staat – akzeptieren. Andernfalls bleibt eine unabhängige politische Kraft unmöglich, nur so kann ein freies Syrien möglich sein!
Das kann jedoch nur verwirklicht werden, wenn eine Arbeiter:innenregierung den alten Staatsapparat zerschlägt und sich auf Räte der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Volksmassen sowie eine bewaffnete Arbeiter:innenmiliz stützt. Die Frauenstrukturen der Kurd:innen können hier als Vorbild dienen. Denn es braucht demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees, die die Bevölkerung vor Gewalt, Folter und Vergewaltigung schützen. Ebenso zeigt es auf, dass eine solche Perspektive der permanenten Revolution nicht auf Syrien beschränkt werden kann. Sie erfordert den Kampf für einen neuen „Arabischen Frühling”, der es schafft, die Militärdiktaturen und despotischen Regime durch eine sozialistische Föderation im Nahen Osten zu ersetzen, die die Vertreibung aller imperialistischen Mächte bedeutet – und die Beendigung der Unterdrückung des palästinensischen Volkes!
1 https://snhr.org/blog/2024/03/18/on-the-13th-anniversary-of-the-start-of-the-popular-uprising-231278-syrian-civilians-have-been-documented-killed-including-15334-due-to-torture-156757-have-been-arrested-and-or-forcibly-disappea/
2 https://snhr.org/blog/2024/11/25/on-the-international-day-for-the-elimination-of-violence-against-women-snhrs-13th-annual-report-on-violations-against-females-in-syria/
3 https://www.theglobaleconomy.com/Syria/Female_labor_force_participation/