Stefan Katzer, Infomail 1111, 19. Juli 2020
Seit fast zwei Jahren verschicken Unbekannte Mord- und Anschlagsdrohungen und unterzeichnen diese mit „NSU 2.0“. Augenscheinlich gelang es einer Gruppe von rechtsextremen PolizistInnen, ein Netzwerk innerhalb der Behörde aufzubauen und durch Zugriff auf behördliche Datenbanken persönliche Daten von Personen abzugreifen, gegen die sich die Drohungen richten. Mit der Selbstbezeichnung als „NSU 2.0“ verorten sie sich ganz bewusst in der Tradition der neonazistischen Terrorgruppe NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), die zwischen 2000 und 2007 mindestens neun Menschen aus rassistischen Motiven sowie eine Polizistin ermordet hat. Die verantwortlichen bürgerlichen PolitikerInnen erwiesen sich bis dato als unfähig, diesem Treiben ein Ende zu setzen.
Der erste Drohbrief vom August 2018, der mit dem Kürzel „NSU 2.0“ unterzeichnet war, richtete sich gegen Seda Basay-Yildiz, die im NSU-Prozess als Anwältin der Nebenklage die Familie von Enver Simsek vertrat. Sie erhielt seitdem mehr als zwölf solcher Morddrohungen. Weitere Drohschreiben gingen an die Kabarettistin Idil Baydar, die LINKEN-Politikerin Janine Wissler und weitere VertreterInnen der Linkspartei sowie an Journalistinnen.
In drei Fällen (Basay-Yildiz, Baydar und Wissler) enthielten die Drohungen persönliche Daten, die zuvor aus Computern der Polizei Hessen abgerufen worden waren. Dies lässt vermuten, dass es innerhalb derer ein rechtsradikales Netzwerk gibt, das hinter dem Kürzel „NSU 2.0“ steckt.
Wer sich daran erinnert, welche Rolle andere staatliche Behörden wie etwa der „Verfassungsschutz“ im Zusammenhang mit dem NSU gespielt haben, wird über die Verbindung staatlicher Sicherheitsbehörden mit rechtsradikalen bzw. -terroristischen Netzwerken nicht mehr sonderlich verblüfft sein. Die Duldung und Unterstützung rechtsterroristischer Gruppen durch den „Verfassungsschutz“ führte aber bis heute nicht zu dessen Zerschlagung. Im Gegenteil. Nach mehreren Untersuchungsausschüssen, die trotz Behinderungen in der Ermittlung zahlreiche Ungereimtheiten aufdecken konnten, wurde die Behörde letztlich noch gestärkt und mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Die NSU-Akten sollen derweil für 120 Jahre verschlossen bleiben. An der Größe des Teppichs lässt sich erahnen, wie viel Dreck darunter gekehrt werden soll.
Ein anderes Beispiel ist das KSK (Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr). Auch dort haben sich vermutlich rechtsterroristische Strukturen herausgebildet, deren Mitglieder sich bereits Munition und Sprengstoff besorgt haben. Dass es dort rechtsextremistische Vorfälle gibt, ist seit Jahren bekannt. Erst seit Kurzem jedoch wird in Erwägung gezogen, dagegen konsequenter vorzugehen und Teile der Truppe aufzulösen – letztlich natürlich auch nur, um das Spezialkommando, „demokratisch“ gesäubert, weiterzuführen oder gar auszubauen.
Es sind zudem zahlreiche weitere Fälle bekannt, in denen hessische PolizistInnen rechtsextremistisches Verhalten an den Tag legten. In Chat-Gruppen wurde gegen Geflüchtete, gegen Menschen mit Behinderung sowie Jüdinnen und Juden gehetzt. Nachrichten mit Nazisymbolen wurden ebenso verschickt wie „Witze“ in Anspielung auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Bei zwei weiteren Polizisten wurden Waffen, Munition sowie zahlreiche NS-Devotionalien gefunden. Allein in Hessen gibt es über ein Dutzend Verdachtsfälle, bei denen aufgrund rechtsradikaler Einstellungen oder Handlungen von PolizistInnen ermittelt wird.
Wie all diese Fälle belegen, wird der „Kampf“ gegen Rechtsextremismus innerhalb des bürgerlichen Staatsapparates offensichtlich mit Samthandschuhen ausgetragen. Schon beim NSU schienen die politisch Verantwortlichen nicht so sehr an der Aufklärung und schonungslosen Bekämpfung rechter Netzwerke interessiert zu sein als vielmehr daran, das Ansehen der eigenen Behörden nicht gänzlich zu beschädigen. KritikerInnen rassistischer Handlungen durch staatliche Behörden wird häufig mit dem Vorwurf begegnet, die Polizei unter „Generalverdacht“ zu stellen. Statt von Strukturen redet man lieber von massenhaften Einzelfällen.
Hauptanliegen der staatlichen AkteurInnen im Fall NSU war es dann auch, diesen als isolierte Gruppe darzustellen und den Fall mit dem Schuldspruch für die letzte Überlebende des „Trios“, Beate Zschäpe, zu den Akten zu legen. Darauf, dass die These von der isolierten Kleingruppe ohne weitere Verbindungen in die rechtsradikale Szene hinein unhaltbar ist, hatten schon während des NSU-Prozesses zahlreiche Gruppen hingewiesen. Die Bedrohung durch ein weit größeres, rechtes Terrornetzwerk wurde seitens der Verantwortlichen in der Regierung jedoch nicht ernst genommen.
Auch als im August 2018 der Fall von Seda Basay-Yildiz bekannt wurde, deren Drohbrief mit „NSU 2.0“ unterzeichnet war – also in klarer Anspielung auf ein rechtsterroristisches Netzwerk –, sah der hessische Innenminister Beuth (CDU) keine Anhaltspunkte für die Existenz eines solchen innerhalb der hessischen Polizei und stellte sich schützend vor seine Behörde. Erst Anfang Juli 2020, als zahlreiche weitere Fälle mit gleichem Muster bekannt wurden und neben der Polizei Frankfurt auch eine Dienststelle in Wiesbaden damit in Verbindung gebracht werden konnte, änderte Beuth seine Einschätzung. Dieser ist nun selbst zum Empfänger ähnlicher Drohschreiben geworden.
Er ist allerdings nach wie vor nicht in der Lage, dafür zu sorgen, dass die von rechtsradikalen PolizistInnen wiederholt angewandte Methode des Abschöpfens persönlicher Daten durch den Zugriff auf behördliche Datenbanken beendet wird. Sein Versuch, diese Versäumnisse den ihm unterstehenden Behörden anzulasten, sowie der Rücktritt des hessischen Polizeipräsidenten Münch dienen Beuth offensichtlich dazu, seinen eigenen Posten zu retten. In der Zwischenzeit können die rechtsradikalen Bullen weiterhin ungehindert ihnen unliebsame Personen terrorisieren. Dass die Opfer dieser Drohungen vorwiegend Frauen sind, macht zudem deutlich, dass es sich dabei nicht nur um rassistische, sondern auch um sexistische, frauenfeindliche Angriffe handelt.
Die Ermittlungen, die zwischenzeitlich vom LKA geleitet und nun einem Sonderermittler übertragen wurden, ziehen sich derweil mehr oder weniger ergebnislos in die Länge. So ist nach wie vor nicht geklärt, wer die Daten von Seda Basay-Yildiz abgerufen hatte, kurz bevor diese im August 2018 ein Drohschreiben erhielt. Die verdächtigen PolizistInnen der Frankfurter Polizei sind lediglich vom Dienst suspendiert.
Der Polizist aus Wiesbaden, der eingeloggt war, als die Daten von Janine Wissler abgefragt wurden, gab während seiner Befragung an, von all dem nichts gewusst zu haben. Er wird seitdem nicht mehr als Verdächtiger, sondern nur noch als Zeuge geführt. Die Polizei hat es dabei nicht einmal für nötig befunden, seine persönlichen Datenträger zu durchsuchen, um etwaige rechtsextreme Einstellungen oder Verbindungen in die rechte Szene zu ermitteln.
Von den Grünen, die in Hessen immerhin schon seit acht Jahren gemeinsam mit der CDU regieren, ist indessen nicht viel zu hören. Ihr Vorschlag zur Lösung scheinbar aller Probleme bezüglich rechtsextremer Aktivitäten und Netzwerke in der Polizei besteht in der Schaffung der Stelle eines Polizeibeauftragten, der unabhängig von bestehenden polizeilichen Strukturen arbeiten soll. Das fordern die Grünen allerdings schon seit Jahren. So wichtig, dass sie dafür die Koalition mit der CDU platzen lassen und auf ihre liebgewonnenen MinisterInnenposten verzichten würden, scheint ihnen das Ganze offenbar nicht zu sein. Grundsätzliche Kritik an der Polizei, die mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zugleich eine strukturell rassistische Ordnung verteidigt, ist von diesen hippen Konservativen ohnehin nicht zu erwarten.
All dies macht eines deutlich: Die Linke und die gesamte ArbeiterInnenbewegung darf in diesen Staat kein Vertrauen hegen. Sie müssen sich mit den Opfern solidarisch zeigen und endlich daran arbeiten, dem rassistischen Treiben in Staat und Gesellschaft organisiert und entschlossen entgegenzutreten. Dessen Hauptaufgabe ist der Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, nicht der von MigrantInnen und AntifaschistInnen. Die bestehenden Verhältnisse, die von den staatlichen „Sicherheits“behörden verteidigt werden, sind durch und durch nationalistisch und rassistisch. Die Überwindung dieser Verhältnisse und der Kampf für eine von jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung freie Gesellschaft sind daher Aufgabe konsequenter antifaschistischer Politik. Es geht nicht nur um die Zerschlagung staatlicher Behörden, in deren Reihen sich Rechtsextreme scheinbar ungehindert entfalten können. Es geht darüber hinaus um die Überwindung rassistischer und sexistischer Formen der Arbeitsteilung und Unterdrückung weltweit, um die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen im Zuge einer globalen sozialistischen Revolution.
Hinsichtlich der Drohschreiben und rechten Netzwerke bei den Repressionsorganen sollten wir für die Veröffentlichung aller Unterlagen, aller Akten, aller Aufzeichnungen, allen Mail-Verkehrs … von Polizei und Verfassungsschutz eintreten. Der Verschluss solcher Materialien durch die Behörden selbst ist nichts anderes als der Ausschluss der Gesellschaftskenntnis von den Dateien und Aktivitäten jener, die offenbar unfähig und unwillig zum Kampf gegen Rassismus und Faschismus sind, die vielmehr selbst ständig jene rechten Umtriebe hervorbringen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Eine solche Untersuchung sollte nicht von einer weiteren staatlichen Behörde, sondern von VertreterInnen von MigrantInnenorganisationen, Flüchtlingen, Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien geführt werden – also von VertreterInnen jener gesellschaftlichen Gruppierungen und Organisationen, die im Visier der rechten Umtriebe stehen.
Um dem Rassismus seitens der staatlichen Behörden und von rechten Netzwerken in und außerhalb dieser Institutionen hier und heute etwas entgegenzusetzen, brauchen wir vor allem eine entschlossene antifaschistische Einheitsfront aus Gewerkschaften, der Linken und MigrantInnen, die perspektivisch auch in der Lage ist, für darüberhinausgehende gesellschaftliche Fortschritte zu kämpfen.
Die Forderung nach der Schaffung einer solchen Einheitsfront und von Selbstverteidigungsstrukturen gilt es, in die Bewegung gegen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus zu tragen, an der sich alle Linken in vorderster Reihe beteiligen sollten.
Montag, 20. Juli, 18.00, Frankfurt/Main, Konstabler Wache
Mehr Infos: https://frankfurter-info.org/termine/solidaritaet-mit-den-betroffenen-des-nsu2.0