Ali Raza, Infomail 1263, 4. September 2024
Die studentische Protestbewegung in Bangladesch hat Premierministerin Hasina Wajed zum Rücktritt und zur Flucht mit einem Hubschrauber nach Indien gezwungen. Dies ist ein großer Sieg des Kampfes der Student:innen, die sich den Massakern, Folterungen und Verhaftungen der Regierung widersetzt haben. Die Bewegung entstand aus Protest gegen das Quotensystem, das Anhänger:innen von Hasinas Awami League, die seit 2009 im Amt war, einen privilegierten Zugang zu Stellen in der öffentlichen Verwaltung gewährte.
Von Juni bis August entwickelte sich der Protest zu einer Massenbewegung gegen die autoritäre Herrschaft der Awami League und Hasina. Hunderte von Student:innen wurden bei den Demonstrationen getötet, aber sie kämpften weiter und gewannen massenhafte Unterstützung in der Bevölkerung, unter anderem durch Betriebsschließungsstreiks, die Anfang August in vielen Städten entstanden. Die Lage drohte, sich zu einer allgemeinen Revolte gegen das gesamte politische System auszuweiten.
In dieser Situation schaltete sich das militärische Oberkommando ein. Der Armeechef, General Waker-us-Zaman, setzte sich mit den verschiedenen politischen Parteien in Verbindung und erklärte, dass der soziale Frieden wiederhergestellt werden sollte, da ihre Wünsche nun umgesetzt würden.
Der zentrale Sprecher der 158-köpfigen Studentenführung, Nahid Islam, antwortete jedoch: „Wir werden keine andere Regierung akzeptieren als die, die wir vorschlagen. Wir werden das Blut unserer Märtyrer:innen nicht verraten. Wir werden ein neues demokratisches Bangladesch aufbauen, indem wir uns für die Sicherheit des Lebens, soziale Gerechtigkeit und eine neue politische Landschaft einsetzen“.
Die Student:innen forderten die Auflösung des alten Parlaments und eine neue Regierung unter der Leitung des Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus, dem Begründer der Mikrokreditbewegung und Förderer des „sozialen Unternehmer:innentums“. Da das Militär diese Forderungen akzeptierte, wird die neue Regierung von vielen in der Student:innenbewegung und sicherlich auch von ihren Führer:innen als vollständiger Sieg angesehen. Doch wofür steht sie wirklich?
Yunus genießt zweifellos große politische Glaubwürdigkeit, wenn man bedenkt, dass das Hasina-Wajed-Regime in den letzten zehn Jahren einen ständigen politischen Rachefeldzug gegen ihn geführt hat. Seine öffentliche Unterstützung für die Student:innenbewegung hat ihn zu einem Schutzpatron der Demonstrant:innen gemacht. Die Student:innen sehen in ihm eine ehrliche Persönlichkeit, auch wenn seine Wirtschaftspolitik im Widerspruch zur Hauptforderung der Student:innen steht, nämlich der nach Arbeitsplätzen für Akademiker:innen – und mehr noch zu den Forderungen der bangladeschischen Arbeiter:innenklasse.
Während Yunus als Bruch mit der Vergangenheit dargestellt werden kann, ist dies bei seiner Regierung nicht der Fall. Ein Teil des Kabinetts setzt sich aus neoliberalen Beamt:innen aus der bangladeschischen Bürokratie, der akademischen Welt und dem Sektor von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zusammen. Das Finanzministerium liegt in den Händen des ehemaligen Gouverneurs der Bangladesh Bank, Salehuddin Ahmed, der ein Anhänger der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist. Von ihm ist keine sozialpolitische Agenda zu erwarten.
Auf wirtschaftlicher Ebene soll das Kabinett den Textilhersteller:innen und anderen Kapitalist:innen versichern, dass ihr neoliberales Programm fortgesetzt wird, auch wenn Hasina weg ist. Für die Übergangsregierung, die Kapitalist:innenklasse und das Militär ist die wichtigste Frage für das Land die Stabilität, d. h. die Demobilisierung der Arbeiter:innen- und Student:innenbewegung.
Die Übergangsregierung setzt sich im Allgemeinen aus Staatsbeamt:innen, ehemaligen Minister:innen und Diplomat:innen, ehemaligen Armeeoffizier:innen, Führungskräften aus Wirtschaft und Bankwesen, von NGOs und zwei Mitgliedern der Student:innenbewegung, Nahid Islam und Asif Mahmud, zusammen. Ihr gehören auch Anhänger:innen der Oppositionsparteien an, insbesondere der Bangladesh Nationalist Party, aber auch Islamist:innen.
Kurzfristig wird sich die neue Regierung auf die „Stabilisierung“ und die Vorbereitung neuer Parlamentswahlen konzentrieren. Letztere hängen jedoch vom Erreichen erster ab. Die Regierung wird zwar von Yunus angeführt, aber es ist auch klar, dass die stärkste Kraft, die hinter ihr steht, de facto das Militär ist. Zweitens gehören ihr die staatliche Verwaltung, die Wirtschaft, die bürgerlichen und islamistischen Oppositionsparteien an. Die Vertreter:innen der Student:innenbewegung sollen dafür sorgen, dass Desillusionierung und Protest gegen die Regierung abgewendet und notfalls durch eine breite bürgerliche Koalition abgewehrt werden können.
Derzeit hegen die Massen Illusionen in die neue Regierung. Revolutionär:innen müssen davor warnen. Sie müssen die Massen auffordern, der Regierung nicht zu vertrauen oder ihre kapitalistische Politik oder die bürgerlichen und sogar reaktionären Parteien, die hinter ihnen stehen, oder das Militär zu unterstützen. Wie das Beispiel von Myanmar und Aung San Suu Kyi zeigt, ist es eine tragische Illusion, die „Demokratisierung“ Nobelpreisträger:innen anzuvertrauen, die letztlich die Massen täuschen.
Die Regierung wird von verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Kräften herausgefordert werden. Erstens werden in den nächsten Monaten die inneren Spaltungen im neuen Kabinett zum Vorschein kommen. Während das Militär und das bangladeschische Kapital einen sicheren Übergang zu einer neuen Regierung wünschen, drängt vor allem die Nationalistische Partei auf vorgezogene Wahlen, die sie mit ziemlicher Sicherheit gewinnen würde, da die Awami League diskreditiert ist und die islamistischen Parteien auf nationaler Ebene noch viel weniger organisiert sind.
Dann gibt es Druck von unten für eine gründliche demokratische Reform des Staates und nicht nur für einen Übergang von einer politischen Partei zur anderen. Auch wenn die Regierung versuchen wird, die studentischen Führer:innen einzubinden, um der Bewegung Verzögerungen und faule Kompromisse zu verkaufen, könnte eine wichtige Herausforderung von der Bewegung und den Strukturen der Selbstorganisation ausgehen, die im Kampf gegen das Quotensystem und die Hasina-Regierung entwickelt wurden.
Angesichts der Angriffe von Polizei und paramilitärischen Kräften aus den Reihen der Awami League haben die Student:innen Aktionskomitees und Selbstverteidigungsorgane gegründet. Darüber hinaus haben einige von ihnen auch andere Aufgaben übernommen, wie die Organisation von Basishilfe und die Verteidigung von Hindutempeln, die während der Proteste von reaktionären Mobs bedroht worden waren. Einige von ihnen beschränken sich nicht auf Student:innen und sind auch auf Bezirksebene organisiert.
Drittens, und das ist vielleicht das Wichtigste, hat sich die wirtschaftliche Lage in den letzten Jahren verschlechtert. Millionen und Abermillionen sind von Inflation und wachsender Arbeitslosigkeit betroffen. Die Student:innenproteste werden ihrerseits durch die einfache Tatsache ausgelöst, dass der halbkoloniale Kapitalismus in Bangladesch nicht in der Lage ist, qualifizierte Arbeitsplätze für seine 4 Millionen Student:innen bereitzustellen, mit oder ohne Quotensystem.
Dies lieferte die soziale Grundlage für die Proteste, die im Juli und August vorrevolutionäre Ausmaße annahmen. Aufgrund der Krise des bangladeschischen Wirtschaftsmodells wandten sich Millionen gegen das Regime. Doch auch wenn Hasina weg ist, bleiben das Modell und seine Krise bestehen. Im vergangenen Jahr überstieg die Staatsverschuldung 100 Milliarden US-Dollar, während sich die Wirtschaft verlangsamte. Die Regierung musste sich an den Internationalen Währungsfonds wenden.
Die Plünderung des Staatsvermögens und der Transfer von Kapital ins Ausland nahmen enorm zu. Viele der Regierung nahestehende Kapitalist:innen flohen aus dem Land und nahmen riesige Geldsummen mit. Gleichzeitig sind die Lebensmittel- und Treibstoffpreise im Land in die Höhe geschnellt. Millionen von Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen, und im Bekleidungssektor, in dem vor allem Frauen arbeiten, verdient man gerade einmal 80 US-Dollar im Monat, weniger als das, wofür die Arbeiterinnen letztes Jahr protestiert haben. Auch werden in vielen Fabriken die Löhne nicht gezahlt.
Der Sturz von Hasina Wajed und der Beweis, dass der Staat herausgefordert und besiegt werden kann, hat zu einem Anstieg des Klassenkampfes geführt, in dem Regierungsangestellte, Tagelöhner:innen und Beschäftigte in Privatunternehmen aktiv geworden sind. Demonstrationen, die die sofortige Auszahlung der Löhne fordern, breiten sich aus.
Am 14. August blockierten arbeitslose Bekleidungsarbeiter:innen in Tongi (Industriestadt nördlich von Dhaka) die Straßen und begannen einen Protest, in dem sie Chancengleichheit bei der Beschäftigung forderten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Yerak Apparels Ltd. haben seit drei Monaten keinen Lohn mehr erhalten, und als sie ihre Bezahlung forderten, wurden sie vom Eigentümer aus der Fabrik geworfen. Als Reaktion darauf veranstalteten die Arbeiter:innen einen mehrtägigen Sitzstreik auf dem Dhaka Mymensingh Highway (N3). Am 19. August veranstalteten die Beschäftigten außerdem einen Sitzstreik am Eingang der Freien Exportzone der Hauptstadt Dhaka.
Es gibt unzählige solcher Proteste. Die Arbeiter:innen haben aus den glorreichen Tagen des Juli gelernt, dass sie dafür kämpfen müssen, wenn sie ihr Leben verbessern wollen. Fabriken und Grundstücke von Kapitalist:innen, die mit der Awami-Liga verbunden sind, werden angegriffen. Deshalb fordern die Kapitalist:innen jetzt die Rückzahlung ihrer Außenstände und die Senkung ihrer Stromrechnungen, damit sie Exportaufträge erhalten.
„Diejenigen, die sich in den letzten 16 Jahren nicht getraut haben, sich zu äußern, diejenigen, die sich in den letzten 53 Jahren nicht getraut haben, auf die Straße zu gehen, sie wollen, dass alle Probleme sofort gelöst werden“, sagte Sergis Alam, Koordinator der Antidiskriminierungsarbeit für Student:innen. Die Student:innen haben im Kampf für die Demokratie in Bangladesch eine Vorreiterrolle gespielt. Damit wurde eine neue Periode von Massenkämpfen mit einem enormen revolutionären Potenzial eingeleitet.
Gleichzeitig haben sich aber auch unterschiedliche Klasseninteressen herausgebildet. Auf der einen Seite stehen die Kräfte, die dem alten System keinen grundlegenden Schaden zufügen wollen, und auf der anderen Seite stehen die Arbeiter:innen und einfachen Menschen, die Arbeitsplatzsicherheit, höhere Löhne und ein Ende der Armut wollen. Wichtige Führer :innen der studentischen Bewegung wurden in die neue Übergangsregierung aufgenommen.
Bislang konzentrierte sich dieses Erwachen der Arbeiter:innenklasse auf den Kampf gegen Elend und Armut, die Last der Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und steigende Preise. Doch um die Wurzeln der vom bangladeschischen Kapitalismus aufgezwungenen Überausbeutung wirklich anzugehen, muss dieser Kampf noch weiter gehen.
Der Kampf für demokratische Forderungen, für die Zerschlagung des korrupten Regimes muss vollendet werden. Dies wird nur möglich sein, wenn die beginnende demokratische Revolution dauerhaft gemacht wird, indem sie mit dem Kampf für den Sturz des Kapitalismus in Bangladesch und dem Kampf für eine Arbeiter:innenregierung auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten, der Zerschlagung des korrupten Staatsapparates, der Enteignung der Kapitalist:innenklasse, der Streichung der Schulden und der Einführung eines Notfallplans zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Massen verbunden wird.
Es wäre utopisch zu glauben, dass Student:innen, die hauptsächlich aus dem Kleinbürger:innentum und der Mittelschicht stammen, eine Revolution bis zum Ende führen können. Nur die Arbeiter:innen des Landes können dies tun. Aber dazu müssen sie eine revolutionäre Massenpartei der Arbeiter:innenklasse aufbauen. Und eine solche Partei darf den Kampf nicht nur auf Bangladesch beschränken. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn die Revolution Funken schlägt, sich auf dem gesamten Subkontinent ausbreitet und zur Schaffung einer sozialistischen Föderation in Südasien führt.