Arbeiter:innenmacht

Tabula rasa – Tafeln in Not

Max Mustermann | ccnull.de | CC-BY 2.0

Bruno Tesch, Infomail 1227, 9. Juli 2023

Auf seiner Internetseite bittet der Verband der Tafeln in Deutschland um Spenden:

„Über 960 Tafeln, eine Mission: Lebensmittel retten und armutsbetroffenen Menschen helfen. Die Tafeln retten Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, und geben sie an Menschen in Armut weiter, die sich eine ausgewogene Ernährung nicht leisten können.“

Schon im 1. Weltkrieg gehörten Suppenküchen für Bedürftige besonders in Großstädten zum Alltag, um den ärgsten Hunger zu stillen. Dort wurde Essen an Erwachsene gegen ein geringes Entgelt ausgegeben, für Kinder auch kostenlos verabfolgt. Diese Speiseanstalten wurden zumeist von kommunalen Verwaltungen, den Kriegshilfsausschüssen, unterhalten. Nach dem Krieg kamen sie vermehrt wieder in der Zeit der schwindelerregenden Verteuerung von Lebensmitteln und während der hohen Arbeitslosigkeit zum Einsatz.

Der Dachverband beziffert die vor der Entsorgung geretteten und gespendeten Lebensmittel auf jährlich rund 265.000 Tonnen, die an etwa zwei Millionen Menschen weitergegeben werden. Diese Zahlen haben sich jedoch in der jüngsten Zeit dramatisch auseinanderentwickelt. Nebenbei bemerkt: Hauptursache dieser Lebensmittelverschwendung ist im Gegensatz zur herrschenden Meinung nicht das Verhalten der Verbraucher:innen, sondern sind Auflagen des Handels, zumeist ökologisch völlig unsinnige Normen.

Engpässe

Die Tafeln schlagen Alarm, denn das Versorgungsangebot ist deutlich geschrumpft. Bisher kamen die Spenden zum allergrößten Teil von den großen Lebensmittelketten, die sie mit Produkten versorgten, deren Verfallsdatum kurz vor dem Ablauf stand, aus Lagerbeständen, Überproduktionen oder Sortimentsumstellungen stammen oder aus anderen Gründen sich nicht verkaufen ließen. Nun haben die Lebensmittelhändler:innen ihre Mengen im Sortiment einer knapperen Kalkulation unterworfen, so dass sie den Tafeln weniger Ware übereignen.

Binnen anderthalb Jahren hat sich die Länge der Menschenschlangen, die bei der Essensausgabe anstehen, verdreifacht. Es sind nicht nur Arbeitslose oder Zugewanderte, die sich dort einfinden. Die Arbeitslosigkeit, Hauptgrund für Bedürftigkeit wie etwa Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ist in den letzten Jahren nur unwesentlich gestiegen. War es bis vor kurzem noch schambehaftet, sich in die Kette der Wartenden einzureihen, treibt jetzt die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die für die Bevölkerungsmehrheit weit über der offiziellen Inflationsrate liegt, die Menschen massenweise zur Tafel.

In der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung steckte schon immer ein Klassenproblem. Armenpflege war bis in die Neuzeit karitative Aufgabe der Kirche. Der Klerus als parasitäre Klasse (und im Kapitalismus: Kaste) erfüllte wenigstens eine soziale Pflicht, indem er für die Mittellosen Almosen- und Krankenpflegedienste organisierte.

Durch das Anwachsen des städtischen Proletariats wuchsen auch die Versorgungsprobleme.

Der bürgerliche Staat entledigte sich erst im 1. Weltkrieg, als diese soziale Unruhen heraufbeschworen, auf seine Weise des Dilemmas. Er stellte zwar Räumlichkeiten und Ausstattung für Verpflegungsstationen, wälzte aber die Arbeit darin auf unbezahlte Kräfte ab, indem an das patriotische Gewissen appelliert wurde, die Nation in der gemeinsamen Kriegsanstrengung zusammenzuhalten.

Diese ehrenamtlichen Tätigkeiten verrichteten parallel zu den medizinischen Pflegediensten in Kriegslazaretten in erster Linie Frauen. In den derzeitigen Tafeln überwiegen ebenfalls weibliche Arbeitskräfte, die nur einen Spesentagessatz – ein Almosen – für ihren physisch und psychisch anstrengenden Einsatz erhalten. Von den 60.000 Helfer:innen wandern jedoch viele ab, so dass neben Material- auch Personalengpässe entstehen.

Tafelverband

Der Tafelverband rühmt sich, mit seinem Mitarbeiter:innenstab „eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland“ zu sein. Der Dachverband ist seit 1995 als gemeinnütziger Verein eingetragen, betreibt Lobbyarbeit und erhält auch „projektgebundene“ Fördermittel aus dem mit der Schirmherrschaft betrauten Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das aber gerade bei der neuesten Bundeshaushaltsvorlage mit empfindlichen Einbußen rechnen muss. In der Summe sind die Tafeln aber auf Spenden von privater Seite angewiesen, die bisher zum großen Teil von Lebensmitteldiscountern stammten. Diese leisteten sich die Abgaben zur Aufpolierung ihres Images als nachhaltige Wirtschaftsunternehmen. Doch sie schränken nun ihr ja auf Freiwilligkeit beruhendes Engagement ein. Die Tafeln stehen also auf wackligem Fundament.

Gegen Mildtätigkeit und Spendenbereitschaft hat sicher niemand etwas einzuwenden. Sie verdecken allerdings nur das eigentliche Problem: die gesellschaftliche Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, die der Kapitalismus niemals garantiert und, wenn überhaupt, nur durch Unterdrückung und Ausbeutung imperialisierter Länder und deren proletarischer und kleinbäuerlicher Klassen gewähren kann.

Eine „sozial-ökologische Bewegung“, die der Tafelverband vorgibt zu sein, müsste sich also auch mit den Arbeitsverhältnissen und Umweltbedingungen beschäftigen, unter denen Nahrungsmittel hergestellt und vertrieben werden. Außerdem müsste auch die heimische Lebensmittelindustrie ins Visier genommen werden.

Die vier Branchenries:innen des Handels, die den deutschen Markt unter sich aufgeteilt haben, gehören zu den großen Profiteur:innen der Inflation. Ihre aggressive Einkaufspolitik verschafft ihnen bereits bei den Hersteller:innen hohe Zwischenmargen, die sie, ähnlich wie die Energiekonzerne, durch die Aufschläge in der Preisansetzung im Verkauf realisieren und in keiner Weise an die Endverbraucher:innen weitergeben.

Preiskontrollen in der Lebensmittelindustrie wären also an der Tagesordnung. Vertrauen darauf, solche durchzuführen, kann natürlich einer bürgerlichen-karitativen Institution wie der „Tafelbewegung“ nicht entgegengebracht werden. Das ist vordringliche Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung.

Derartige Einrichtungen wie die Tafel bestehen auch in anderen Industrieländern. In Frankreich existiert ein Zwangsabgabegesetz, das Lebensmittelfirmen mit mehr als 400 Quadratmeter Verkaufsfläche dazu anhält, eine bestimmte Menge ihres Sortiments an Sozialstätten abzutreten. Ein solches Gesetz kann nützlich sein, muss aber in ein allgemeineres Preisüberwachungssystem einbezogen und einer strengen Kontrolle unterworfen werden.

Hier könnten demokratisch gewählte Ausschüsse als geeignetes Instrument dienen. In ihnen müssten nicht nur Aktist:innen aus der Arbeiter:innenbewegung tätig sein. Sie könnten auch nicht-berufstätige proletarische Frauen, Migrant:innen und Verbraucher:innen und vor allem Verbindungen zu den Beschäftigten in der Lebensmittelbranche aufnehmen, damit die Arbeiter:innenkontrolle mittels Einsichtnahme in Geschäftsunterlagen der Lebensmittelkonzerne Substanz gewinnen könnte.

Um ihren politischen Wirkungsgrad zu erhöhen, sollten Verbindungen zu Mieter:innenvereinigungen und zum Energiesektor aufgebaut werden, also vornehmlich zu Bereichen, die besonders unter Inflation und Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse zu leiden haben, Diese Ausschüsse gälte es zu zentralisieren. Außerdem könnten internationale Verbindungen z. B. nach Frankreich, hergestellt, deren Erfahrungen mit dem Zwangsabgabegesetz ausgewertet und unter Umständen gemeinsame Kampforgane aufgebaut werden.

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