Arbeiter:innenmacht

Die Linkspartei und Palästina

Markus Lehner, Neue Internationale 293, Juli / August 2025

Kaum ein Thema wirkt in der Linkspartei derzeit so polarisierend wie die Frage der Palästinasolidarität, die Positionierung gegenüber Israel und damit im Zusammenhang des Antisemitismus. Tatsächlich deuten diese Konfliktfelder noch auf ein tieferliegendes Problem: die Stellung zum Antiimperialismus.

Für Parteien, die in Ländern wie Deutschland parlamentarisch eine Rolle spielen, entscheidet sich an der Frage des Antiimperialismus – wie sehr sie auch sonst ihre „linke Reformpolitik“ in den Vordergrund stellen – ob sie tatsächlich oppositionell sind oder zu tragenden Säulen des herrschenden Systems gehören. An Parteien wie den „Grünen“ (und über ein Jahrhundert zurückliegend auch der SPD) sieht man, wie schnell man von der Systemopposition und dem „Marsch durch die Institutionen“ zu Sprachrohren von NATO-Aufrüstung und unumschränkten Propagandist:innen für imperialistische Politik werden kann. In ihrer Nahostpolitik wetteifern beide mit CDU/CSU darum, wer die zur Staatsräson erklärte bedingungslose Solidarität mit Israel besonders konsequent verteidigt.

Parteiprogramm von Erfurt

Die Partei Die Linke vertritt in ihrem noch gültigen Parteiprogramm (Erfurt, 2011) im Kapitel „Imperialismus und Krieg“ eine eindeutige Zuordnung von ökonomisch-militärischer Macht der imperialistischen Zentren und kriegerischen Auseinandersetzungen um geopolitische Ziele der konkurrierenden Großmächte. Hier wird auch noch der aggressive Charakter der NATO und anderer imperialistischer Agenturen angeprangert. Unter anderem werden die „Auflösung der NATO“ und der Austritt der Bundesrepublik auch solchen „Sicherheitsbündnissen“ gefordert. Dass solche Positionierungen seit dem Ukrainekrieg und der „Zeitenwende“ auch in der Linkspartei immer mehr ins Wanken kommen, erkennt man in jeder Talk-Show mit Linkenpolitiker:innen, an der Frage der Russlandsanktionen oder auch den bröckelnden Fronten bei Abstimmungen zu Schulden für Aufrüstung. Zudem war und ist der „Antiimperialismus“ der Linkspartei immer schon hohl, da er als einzige Perspektive pazifistische Illusionen in bürgerliche „Friedenspolitik“, das „Völkerrecht“ und seine Durchsetzung durch die Vereinten Nationen schürt. Eine Perspektive des internationalen Klassenkampfes und der Zerschlagung der imperialistischen Agenturen fehlt natürlich – wie bei einer reformistischen Partei nicht anders zu erwarten.

Zweistaatenlösung als Programm

Ein wichtiger Hebel für das Schleifen antiimperialistischer Positionen, die einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene im Wege stehen, ist aber vor allem die Palästinafrage. Besonders deutlich wurde das schon in einem ausführlichen Vortrag, den Gregor Gysi 2008 zum 60-jährigen Bestehen des Staates Israel gehalten hat und der heute als Themen-Artikel zu „Die Haltung der Linken zum Staat Israel“ auf deren Webseite zu finden ist. Dort begründet Gysi ausführlich, warum er den „Antiimperialismus“ nicht für geeignet hält, um die Position Der Linken zu Israel zu bestimmen – und warum er den „Antizionismus“ als politisches Projekt ablehnt, auch wenn er den Zionismus „nicht besonders sympathisch“ findet.

„Antiimperialismus“ verengt Gysi auf „Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen“. Dabei erachtet er die Geschichte solcher insgesamt als abgeschlossen und deren „Ausläufer“ wie Hamas oder Hisbollah als nichts, was den ehemaligen progressiven Gehalt solcher Befreiungsbewegungen noch enthalten würde. Er erkennt zwar den historischen Entstehungszusammenhang eines Kolonisierungsprojektes unter imperialistischen Schutz (erst Britannien, dann USA) und der Funktion, die Israel für die Weltmachtinteressen der USA in der Region hatte, an. Dies tritt für Gysi aber in den Hintergrund, da eine Sicherung der Existenz Israels ohne die Schutzfunktion der USA unmöglich gewesen sei. Der Knackpunkt bleibt somit die Frage des „Existenzrechts“ und die „deutsche Staatsräson“ – beides wird ausführlich in dem Aufsatz behandelt. Letztlich habe sich die an sich reaktionäre, kolonialistische Perspektive des (in den neuen Kolonien auch gewaltbereiten – wie Gysi zugibt) Zionismus angesichts der mörderischen Wucht des europäischen Antisemitismus als die realistischere Perspektive gegenüber der progressiveren Position des jüdischen Antizionismus durchgesetzt – nur durch einen eigenen jüdischen Nationalstaat könne die Existenz jüdischen Lebens gesichert werden. Deswegen auch die Ablehnung einer Ein-Staatenlösung in Palästina: „Wer nur einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser mit demokratischer Struktur will, akzeptierte damit heute, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser die Mehrheit stellten, alles besetzten und die Verfolgungen, Unterdrückungen und Pogrome gegen Jüdinnen und Juden wie seit Tausenden von Jahren wieder begännen, nicht zu verhindern wären.“

Gemäß dieser Logik, dass nur ein mehrheitlich jüdischer Staat das Überleben der Jüd:innen in der Region sichern würde – mit der Unterstellung, dass der Antisemitismus „natürlicherweise“ auch unter der palästinensischen Bevölkerung wie in Europa vorherrschen würde –, wird also unter „Existenzrecht“ ein exklusiv jüdisches, die arabische Bevölkerung im Staat Israel unterordnendes Recht definiert. Dies wäre „ohne Apartheid“ nur durch eine ethnisch trennende Zweistaatenlösung auflösbar. In der Debatte um das Erfurter Programm 2011 wurden heftige Antisemitismusdebatten letztlich damit befriedet, dass in dem Programm genau diese Logik Gysis mit aufgenommen wurde: seither bekennt sich die Partei Die Linke in ihrem Programm zur Verteidigung des „Existenzrechts für Israel“ und zur Zweistaatenlösung. Natürlich ist mit der Nicht-Erfüllung der Zweistaatenlösung damit auch die Kritik an der Apartheid und der Unterdrückung palästinensischer Rechte vom Programm abgedeckt, so wie alle möglichen „Friedensinitiativen“ für die heute immer mehr illusorische Zweistaatenlösung. Die Perspektive einer multiethnischen, demokratischen gemeinsamen Staatlichkeit von jüdischen, arabischen, drusischen und allen anderen Menschen in der Region Palästina wird jedoch angesichts der angeblichen Notwendigkeit der jüdischen Eigenstaatlichkeit von vornherein verworfen. Damit blockiert das Programm auch die sozialistische Perspektive der Überwindung der nationalen und ethnischen Schranken durch eine internationalistische proletarische Klassenpolitik in Palästina wie im arabischen Raum, verwirft auch nur die Möglichkeit, den reaktionären zionistischen Block in Israel aufzubrechen und erledigt zugleich auch jede Diskussion um eine demokratische Verfassung eines Staates Palästina, der auch die Rechte aller nationalen und religiösen Gemeinschaften, einschließlich von Minderheitsrechten für die jüdische Nation sichert.

Ja zu Israel, ja zu Israels „Schutz“ …

Mit diesem archimedischen Punkt der unbedingten Anerkennung eines rein jüdischen Staates (in welchen Grenzen dann auch immer) wird auch die Unbedingtheit der „Schutzfunktionen“ für diesen Staat mehr oder weniger anerkannt. Auch wenn Gysi die Eigeninteressen der USA (und auch der Bundesrepublik der Nachkriegszeit) als fragwürdiges Element anerkennt, so meint er, dass man in diesem Fall die „falsche“ Grundlage für die Erreichung des richtigen Zwecks ausnutzen sollte – auch wenn die Begrifflichkeit der „Staatsräson“ fragwürdig ist, sei der gute Zweck, im Sinne Adornos, alles zu tun, dass sich Auschwitz nicht wiederhole, wichtiger. Insofern betrachtet Gysi von den drei Säulen der deutschen Außenpolitik, denen sich Die Linke in einer Regierungsbeteiligung (oder -tolerierung) stellen müsse – „atlantische Partnerschaft“, europäische Integration, Existenz Israels als Staatsräson -, die letztere als das, was man am ehesten übernehmen könne. Im Rahmen der Anerkennung dieses Existenzrechts sei aber jegliche Kritik an der Apartheidpolitik, an rassistischen Exzessen, an kriegerischen Aktionen etc. notwendig und zulässig.

… „Solidarität“ – nur in diesem Rahmen!

Im Rahmen dieser Spannbreite bewegen sich auch die Stellungnahmen und politischen Aktivitäten der Führung der Linkspartei, aber letztlich alle Parteitagsbeschlüsse im aktuellen Gazakrieg. In der Resolution vom letzten Parteitag zu Gaza „Vertreibung und Hungersnot in Gaza stoppen – Völkerrecht verwirklichen!“ werden die Verbrechen der israelischen Regierung und ihrer Streitkräfte in Gaza klar benannt und zum Protest dagegen aufgerufen: „Als Linke beteiligen wir uns an Solidaritätsdemonstrationen für Palästina und klären über den Krieg und die Situation in Palästina und Israel auf. Unsere Solidarität gilt den Menschen in Israel, Palästina und weltweit, die für ein sofortiges Ende des Krieges und ein Ende der Besatzung kämpfen und sich gegen die ultrarechte Netanjahu-Regierung, die Hamas und die globalen Profiteure wenden“. Es wird sowohl eine Vollstreckung des Haftbefehls des internationalen Strafgerichtshofes gegen Netanjahu verlangt, sollte er zum Staatsbesuch nach Deutschland kommen, als auch ein Ende der Waffenlieferungen an Israel gefordert. Gleichzeitig wurde dabei „klargestellt“, dass die Zusammenarbeit mit allen Kräften, die das Existenzrecht Israels bedrohen oder auch nur in Frage stellen, abgelehnt wird. So wurde bekanntlich gleich nach dem Parteitag das Vorstandsmitglied Ulrike Eifler, die in einem Post eine „Einstaatenlösung“ per Landkarte angedeutet hatte, sofort öffentlich gemaßregelt (auch durch die „Linke“ Ines Schwerdtner). Ebenso liegt eine der Hauptsorgen innerorganisatorisch für die „eigene“ Gaza-Solidaritätsdemonstration am 19. Juli darin, dass man keine Organisationen mit an Bord haben will, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen, oder dass gar auf der Demo „Islamfaschist:innen“ auftauchen würden. Die Solidarität mit Gaza reicht dann auch nur so weit, wie die Betroffenen des Genozids die politischen Vorgaben der Linkspartei schlucken. Dabei geht es nicht darum, die größt mögliche Einheit im Kampf gegen den Genozid und die Waffenlieferungen Deutschlands zu schaffen, sondern in den prozionistischen deutschen Medien keineswegs unter den „israelfeindlichen Antisemitismusverdacht“ zu geraten.

Möglichkeiten und Aufgaben

Insgesamt hat sich durch die Wahlbewegung und den Zustrom neuer, vor allem auch migrantischer Mitglieder jedoch die Stimmung in der Partei geändert – und gerade auch in der Israel-Palästina-Frage könnte hier wieder Bewegung hineinkommen. Die Änderung der in der Linken verwendeten Antisemitismusdefinition – die Vertreter:innen der Einstaatenlösung jetzt zumindest nicht mehr pauschal unter Antisemitismusverdacht stellt –, bedeutet sicher ein Signal dafür, dass der seit 2008 bestehende Konsens zur Einstaatenfrage und damit zur speziellen Interpretation des „Existenzrechts Israels“ als Sicherung eines rein-jüdischen Staates wieder in Frage gestellt werden kann. Solange jedoch die imperialistische Sicherung des schwerbewaffneten Israels als „Notwendigkeit“ anerkannt wird und der antiimperialistische Widerstand in der Region nicht offen unterstützt wird (bei aller berechtigten Kritik an der falschen Politik der Führungen dieses Widerstands), bleibt die „Solidarität mit Gaza“ reines Lippenbekenntnis. Wie sehr die Politik der Parteiführung nicht darüber hinauskommt, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass nirgendwo die Aufhebung des Verbots aller palästinensischer Organisationen durch den deutschen imperialistischen Staat gefordert wird.

Darüber hinaus ist die als „Ausübung des Selbstverteidigungsrechts“ legitimierte gegenwärtige Kriegspolitik des israelischen Staates langfristig keine Sicherung der Existenz von jüdischem Leben in der Region. Sie verhindert jeden friedlichen Ausgleich mit den in der Region lebenden Mehrheitsbevölkerungen, macht Israel dort immer verhasster und abhängiger von rein militärischer und repressiver Politik (nach innen und außen) – und damit auch abhängig von der beständigen Unterstützung insbesondere durch die USA. Diese Perspektive der Repression und Aggression ist keine „Verrücktheit“ der gegenwärtigen rechtsextremen Regierung in Israel, sondern notwendige Konsequenz einer Perspektive der Sicherung eines rein jüdischen, rassistischen und kolonialistischen Staates um jeden Preis. Diese hat all Utopien über eine Zweistaatenlösung längst über den Haufen geworfen. Die Regierung Netanjahu verfolgt vielmehr eine Ein-Staatenlösung, die die Politik der genozidalen ethnischen Säuberungen und Vertreibung bis zur äußersten Konsequenz treibt. Dies muss mit aller Vehemenz bekämpft werden. Die Linken in der Linkspartei stehen vor der Aufgabe, in ihrer Partei einen wirklichen Kurswechsel herbeizuführen. Doch dazu müssen sie mit allen reaktionären Illusionen in die Zweistaatenlösung und jeder Anpassung an die Staatsräson brechen und für einen demokratischen, sozialistischen Staat in Palästina eintreten, in den alle Vertriebenen zurückkehren und in dem alle, unabhängig von Nationalität und Religion gleichberechtigt leben können.

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