Martin Suchanek, Infomail 1204, 15. November 2022
Das Erdogan-Regime in der Türkei handelt rasch, wenn es darum geht, einen Anschlag auf Zivilpersonen politischen Gegner:innen in die Schuhe zu schieben.
Am 13. November waren infolge einer Bombenexplosion in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal 6 Personen getötet und 81 weitere verletzt worden. Doch fast so schnell, wie die Nachricht über den Anschlag auf unschuldige Zivilist:innen um die Welt ging, macht die türkische Regierung auch schon die Schuldigen aus.
Wurde am Beginn noch gemutmaßt, ob es sich um Anhänger:innen der Gülen-Bewegung oder der PKK (Kurdische Arbeiter:innenpartei) handele, so steht das Ergebnis für Innenminister Süleyman Soylu nunmehr fest: Eine Syrerin mit Verbindungen zur kurdischen Miliz YPG soll es gewesen sein, die in Nordsyrien ausgebildet wurde und ihre Befehle aus Kobanê erhalten hätte.
Beweise wurden erst gar keine vorgelegt – ganz abgesehen davon, wie wenig vertrauenswürdig diese aus der Hand des türkischen Regimes auch aussehen sollen. Es gibt keine Indizien dafür, dass der Anschlag von der PKK verübt wurde. Es fragt sich vielmehr, warum sie eigentlich unschuldige Menschen im Zentrum von Istanbul in die Luft sprengen sollte? Welchen politischen Sinn macht das für die türkische und syrische kurdische Bewegung, die die wenigen verbliebenen demokratischen Rechte in der Türkei zu verteidigen trachtet und sich der offenen Aggression der Türkei gegen Rojava erwehren muss?
In ersten Erklärungen PKK und YPG jede Beteiligung am Anschlag dementiert und diesen verurteilt. So heißt es in einer über die Nachrichtenagentur Firatnews veröffentlichten Erklärung: „Unser Volk und die demokratische Öffentlichkeit wissen genau, dass wir nichts mit diesem Vorfall zu tun haben, dass wir nicht direkt auf Zivilisten zielen und dass wir Aktionen nicht akzeptieren, die auf Zivilisten abzielen.“
Auch wenn man der politischen Strategie und Programmatik der PKK und YPG kritisch gegenübersteht, so gibt es gute Gründe, die Erklärung für stichhaltig zu betrachten. So veröffentlichen nationale Befreiungsbewegungen normalerweise Bekennerschreiben zu den Anschlägen, die sie selbst verüben. Schließlich wollen sie, dass die Öffentlichkeit weiß, warum und wozu sie eine solche Aktion verübt haben. Doch nichts dergleichen. Stattdessen verurteilen diese Organisationen den Anschlag. Allein dies kann schon als Beleg dafür gelten, dass PKK und YPG nicht für das Attentat von Istanbul verantwortlich sind, sondern es ihnen vielmehr untergeschoben werden soll. Dies wird umso klarer, wenn wir uns nach dem politischen Ziel der Aktion fragen.
Warum sollten PKK oder YPG einen Anschlag planen, von dem sie wissen, dass er von Erdogan sowohl innen- wie außenpolitisch gegen die kurdische Bewegung und ihre Organisationen ausgeschlachtet werden wird? Warum sollten sie einen Anschlag planen, mit dem Erdogan von der wirtschaftlichen Krise in der Türkei ablenken und die Unzufriedenheit mit nationalistischer Hetze gegen die Kurd:innen kanalisieren kann? Warum sollten sie ihm angesichts schlechter Umfragewerte für die Parlamentswahlen im Juni 2023 die Chance bieten, auf die nationalistisch Karte zu setzen, um die Anhänger:innen der AKP und ihrer Koalitionspartner zurückzuholen? Warum sollten sie einen Anschlag verüben, der als Vorwand zum militärischen „Vergeltungsschlag“ gegen Rojava genutzt werden kann? Kurzum, warum sollten PKK und YPG reaktionäre Aktionen durchführen, die ausschließlich den Zielen der türkischen Regierung dienen?
Derweil versucht die Regierung in Ankara, die Situation für sich zu nutzen. Die von der türkischen Rundregulierungsfunkbehörde RTÜK verhängte vorläufige Nachrichtensperre für die Medien und erschwerte Erreichbarkeit von Twitter und Co. sind dabei nur erste Schritte, um die öffentliche Meinung staatlich gelenkt zu manipulieren. So durften nach dem Anschlag nur Interviews mit Minister:innen ausgestrahlt werden.
Politisch wird das Regime den Anschlag zu einer nächsten Runde im Kampf gegen die kurdische Bewegung und ihre Organisationen in der Türkei und womöglich zu einem Militärschlag oder gar Vorstoß in Rojava nutzen. All das natürlich im Zeichen des Kampfes gegen den „Terrorismus“ der Kurd:innen – und diesmal womöglich mit westlicher Unterstützung. In jedem Fall wird die Türkei ihre Forderungen nach Auslieferung kurdischer politischer Flüchtlinge aus Schweden als Preis für dessen NATO-Mitgliedschaft forcierten. Während der türkische Innenminister Soylu den USA eine politischer Verantwortung für den Anschlag vorwirft, erklärte Karine Jean-Pierre, die Pressesprecherin von US-Präsident Biden: „Wir stehen im Kampf gegen Terrorismus Seite an Seite mit unserem NATO-Verbündeten Türkei.“ Annalena Baerbock und Olaf Scholz werden in dieser Situation Erdogan sicher keine Steine in den Weg legen, sollte er den Befehl zu Angriffen auf Rojava geben.
Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk zum Ausdruck bringen. Unsere Anteilnahme gilt den 6 Opfern von Istanbul und den 81 Verletzten. Doch nicht minder deutlich müssen wir uns gegen das durchsichtige und reaktionäre Spiel des Erdogan-Regimes wenden, den Tod unschuldiger Zivilist:innen zur antikurdischen Hetze, zur Rechtfertigung von Repression und eines möglichen Militärschlages gegen Rojava zu missbrauchen.
die erste verdachtigte ist nicht die gülen-bewegung, sondern isis, die sogenannten “ dschihadisten “ . Zur Zeit gibt es Konflikte zwischen isis und der türkei.
Istanbul/Berlin
und für mich ist der erste verdachtigte : der türkische staat selbst…