Bruno Tesch, Infomail 1286, 1. Juli 2025
Am 29. Juni verstarb der frühere DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Er hatte diese Position von 2002 bis 2014 inne und war der 10. an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes seit der Gründung 1949 und derjenige mit der längsten Amtszeit. Sommer übernahm den Vorsitz einigermaßen überraschend, denn profiliert hatte er sich bis dahin weder durch Spitzenfunktionen in seinem gewerkschaftlichen Hausbereich – ursprünglich kam er aus der damals noch selbstständigen Deutschen Postgewerkschaft – noch durch pointierte Äußerungen in Tarifkonflikten.
Den Ausschlag für seine Wahl gab wohl die Tatsache, dass er seit den 1980er Jahren den langen Weg durch die Bürokratieinstanzen angetreten hatte und damit ein Mann des Apparats war. Zwar war er SPD-Mitglied, doch trat er nie politisch in Erscheinung noch strebte er ein solches Mandat an. Anders als in Britannien, wo es traditionsgemäß ein großes gewerkschaftliches Abgeordnetenkontingent für die Labour Party im Parlament gibt, ist die strikte Arbeitsteilung im politischen und ökonomischen Sektor typisch für die deutsche Situation.
Manchmal lässt sich eine nach außen säuberliche Trennung jedoch umgehen. Sie ist relativ gefahrlos, wenn sich die Sozialdemokratie in der Opposition befindet. Dann können sich Gewerkschaftsfunktionär:innen mit Forderungen ein wenig weiter aus dem Fenster lehnen und ihren Mobilisierungsspielraum etwas erweitern, doch stets mit der Marschrichtung, die SPD wieder in das Regierungskabinett zu hieven, und sei es nur als Juniorpartnerin.
Aber bei seinem Amtsantritt standen die Gewerkschaften vor einer neuen Herausforderung. Die SPD-geführte Regierung unter Gerhard Schröder hatte mit einem Paukenschlag die eigene Stammklientel erschüttert und die Agenda 2010 aufgelegt. Dieses Konzept sah vor, Sozialsysteme und Arbeitsmarkt an die Bedürfnisse nach Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitalismus anzupassen. Es spitzte sich v. a. in einem restriktiven Vorgehen, Leistungskürzungen und rechtlichen Einschränkungen gegen Arbeitslose zu.
Die Regierung machte sich 2003 daran, diese auch Hartz IV genannten Verordnungen umzusetzen. Die Arbeiter:innenschaft begriff dies als Sozialabbau und Angriff auf Errungenschaften der Klasse. Ausgehend von spontanen Demos in Magdeburg verbreiteten sich Montagsdemos gegen Hartz IV mit zehntausenden Teilnehmer:innen wie ein Lauffeuer, wenn auch vor allem im Osten Deutschlands. Michael Sommer und andere führende Gewerkschaftsfunktionär:innen bekämpften sie durch Denunziation und behaupteten, diese würde von „Radikalen und Extremist:innen“ dominiert.
Doch das konnte das Anwachsen der Proteste nicht stoppen. Auch in den Gewerkschaften zeigten sich Risse. So organisierte die IG Metall in Schweinfurt entgegen der Linie des Vorstandes einen eintägigen politischen Streik. Ein breites Bündnis gegen die Agenda 2010 organisierte am 1. November 2003 eine zentrale Massendemonstration in Berlin, an der 100.000 teilnahmen. An einer bundesweiten Aktionskonferenz in Frankfurt/Main beteiligten sich über 500 Aktivist:innen, darunter auch viele Gewerkschaftler:innen bis hin zu Teilen des linken Flügels des Apparats. Die Bürokratie wurde von diesen Entwicklungen aufgescheucht und versuchte nun, das Zepter des Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Am 3. April 2004 organisierten die DGB-Gewerkschaften ihrerseits drei Großdemos in Berlin, Köln und Stuttgart mit insgesamt rund einer halben Million Beteiligten. Dieser „Auftakt“ mit markigen Reden war jedoch zugleich auch das Ende der DGB-Aktionen: Die Gewerkschaftsmitglieder konnten Dampf ablassen und wurden dann wieder nach Hause geschickt. Die Agenda-Gesetze blieben.
Die Situation kostete aber nicht nur die uneingeschränkte Kontrolle des Apparats über ihre Mitgliedschaft, sondern führte auch zu einem teilweisen Loslösungsprozess von der SPD, der in parteipolitischen Neugründungen wie der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) und deren späterer Fusion mit der PDS zur Linkspartei mündete. Die Kontrolle konnte die Bürokratie erst allmählich wieder zurückgewinnen. Sie tat sich schwer, weil sie einerseits die arbeiter:innenfeindliche Regierungspolitik ihren Mitgliedern verkaufen musste, aber auch gefordert war, die altbekannte DGB („Deckel Gegen Basisaktivismus“)–Manier etwas zu lüften.
So ging Michael Sommer als Niedergangsverwalter der deutschen Gewerkschaften in die Geschichte ein, der der Regierung Schröder bei der Durchsetzung der Agenda 2010 letztlich den Rücken freihielt. Auch wenn sich die SPD von diesem Verrat nie mehr erholt hatte, so verdankte sie es Sozialpartner:innen und sozialdemokratischen Gewerkschafter:innen wie Sommer, dass diese Angriffe durchkamen und die SPD-Kontrolle über die Gewerkschaften zwar angekratzt, aber nicht gebrochen wurde.
Sommer überstand diese Zeit mit dem undemokratischen Apparat im Rücken. Seine Ära endete, als er über ein politisches Statement stolperte. Er begrüßte 2013 bei einem Besuch des von ihm eingeladenen Verteidigungsministers de Maizière die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Bundeswehr. Das wäre heute sicher kein Aufregerthema mehr, handelte ihm aber damals harsche Kritik auch aus den eigenen Reihen ein.
In der kurzen Mediennotiz über seinen Tod wurde sein Einsatz für den Mindestlohn, der schließlich Gesetz geworden sei, erwähnt. Dieses Verdienst wird jedoch durch die zunehmende Prekarisierung der Arbeit und Erscheinungen wie Leiharbeit unterlaufen.
Sommer war eine Funktionärsfigur, die sich in die Reihe seiner Vorgänger wie z. B. Ernst Breit, von dem die Äußerung „Wir gehen bis zum Äußersten, wir gehen bis nach Karlsruhe (Bundesverfassungsgericht)“ überliefert ist, und seiner jetzigen Nachfolgerin Yasmin Fahimi einfügt, die sich bereits 2022 für eine deutliche Erhöhung der Mittel für die Bundeswehr ausgesprochen hat. Aber ebenso besteht kein prinzipieller Unterschied zu „kämpferischen“ Personen an führender Stelle von Einzelgewerkschaften wie dem früheren GDL (Gewerkschaft der Lokführer)-Vorsitzenden Weselsky. Sie alle eint die Maxime Verhandlungen mit dem Klassengegner als Endziel, um letztlich den „sozialen Frieden“ zu wahren, und eine unbedingte Loyalität zur kapitalistischen Staatsräson.
Dennoch darf eine konsequente Einheitsfronttaktik auch solche Elemente nicht aussparen, denn sie werden von der Masse der organisierten Arbeiter:innenschaft immer noch, wenn teilweise auch mit mürrisch passivem Halbvertrauen, als ihre Führung akzeptiert. Wir können sie, ihren Klassenverrat und die undemokratischen Strukturen, auf denen sie ihre Herrschaft gründen, vor den Augen ihrer Mitgliedschaft nur entlarven, wenn wir sie zu gemeinsamen Aktionen auffordern und diese politisch zu wenden versuchen.
Mit der neuen Schicht von Aktivist:innen, dokumentiert an den wachsenden Teilnehmerzahlen der sogenannten Streikkonferenzen, verbindet sich die Hoffnung auf einen Bruch mit einem „Weiter so“ im alten Trott. Dazu muss sich die Bewegung aber auch der politischen Herausforderungen bewusst werden, gerade in Zeiten des Rechtsrucks. Mit einer Reformierung und Teildemokratisierung im gewerkschaftlichen Bereich allein ist es nicht getan. Klassenkampf bedeutet die Verbindung von Auseinandersetzungen an der Tariffront mit dem Widerstand gegen die aktuellen Angriffe der Regierung gegen die Arbeiter:innenklasse und auch den Kampf um die Führung in der Arbeiter:innenbewegung.