Marc Lassalle, Infomail 1128, 1. Dezember 2020
Die zweite Welle der Pandemie, verbunden mit einem zweiten monatelangen Shutdown, stellt sicherlich bei weitem nicht die beste Voraussetzung dar, um einen Abwehrkampf gegen das drakonische neue Sicherheitsgesetz von Staatspräsident Emmanuel Macron zu organisieren. Doch seine Regierung sieht sich plötzlich mit großem Widerstand konfrontiert: Mehr als hunderttausend marschierten am 28. November in Dutzenden von Demonstrationen im ganzen Land. Allein in Paris war die Demonstration massiv, und selbst das Innenministerium, das dafür berüchtigt ist, solche Zahlen herunterzuspielen, sprach von 46.000 daran teilnehmenden Menschen. Nach Angaben der OrganisatorInnen beteiligten sich 200.000!
Die Menschen auf den Straßen haben absolut Recht, das neue ultrarepressive Sicherheitsgesetz abzulehnen. Sollte es angenommen werden, würde es jede/n bestrafen, der/die Bilder von PolizistInnen mit dem Ziel verbreitet, „ihre physische oder psychische Integrität zu gefährden“. Natürlich sind die Bestimmungen absichtlich vage gehalten, aber wenn es angenommen würde, würde es die Rechte von JournalistInnen ernsthaft einschränken, ebenso wie die Freiheit von allen Menschen, missbräuchliche oder gewalttätige Handlungen der Polizei als Beweismittel für eine Anzeige zu filmen.
„Auf dem Weg zu einem Polizeistaat?“ lautet der Titel einer Analyse dieses Gesetzes, die vom Syndicat de la Magistrature, der Gewerkschaft der RichterInnen, erstellt wurde und in der behauptet wird, dass das Gesetz jede demokratische Kontrolle der Polizei noch weiter schwächen würde. Gérald Darmanin, Innenminister und Hauptbefürworter dieses Gesetzes, hatte den VertreterInnen der Polizei bereits vor der Abstimmung über das Gesetz in der Assemblée Nationale (dem französischen Parlament) versichert: „Seien Sie versichert, dass wir zusammen mit dem Präsidenten und dem Premierminister immer da sein werden, um Sie zu schützen.“
Laut der NGO-ReporterInnen von Sans Frontières (Ohne Grenzen) „könnten die PolizeibeamtInnen, wenn sie mit einem/r JournalistIn konfrontiert werden, der/die sie filmt, davon ausgehen, dass diese Bilder in großem Umfang mit dem Ziel reproduziert werden, sie zu kompromittieren, und könnten daher die betreffenden Personen festnehmen, um sie wegen eines offensichtlichen Vergehens zu verfolgen“. In der Tat hat Darmanin bereits klargestellt, dass JournalistInnen, die über Demonstrationen berichten wollen, sich bei den Polizeibehörden akkreditieren sollten, was eine weitere offensichtliche Verletzung der Rechte der Presse darstellt.
Zwei aktuelle Beispiel von Polizeimethoden machen deutlich, warum jede/r die bestehenden Rechte verteidigen sollte. Die erste ereignete sich am 24. November, als die Polizei etwa hundert MigrantInnen, die auf dem Place de la République (Platz der Republik) im Zentrum von Paris Zelte aufgeschlagen hatten, gewaltsam vertrieb. Einige MigrantInnen wurden brutal zu Boden geworfen, andere wie Müll aus ihren Zelten gezerrt, mit Schlagstöcken geschlagen und mit Tränengas besprüht. Selbst Darmanin fühlte sich genötigt, diese Bilder als „schockierend“ zu bezeichnen. Natürlich stellt das keinen „Einzelfall“ dar, sondern war und ist seit Monaten alltägliche Praxis im Umgang mit MigrantInnen und Roma, die zu Tausenden aus maroden Lagern rund um Paris und anderswo vertrieben wurden.
Der gewalttätige Überfall von vier PolizistInnen auf den (schwarzen) Musikproduzenten Michel Zecler, nur weil er keine Gesichtsmaske trug, begleitet von rassistischen Beleidigungen, erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass Polizeibrutalität kein Einzelfall ist. Ohne diese Bilder wären diese Übergriffe unbekannt oder unbewiesen geblieben, und die Polizei würde von völliger Straffreiheit profitieren. Als Reaktion auf den Protest von „Black Lives Matter“ in den USA marschierten im Juni zwanzigtausend Menschen in Paris, um diese systematische Anwendung staatlicher Gewalt anzuprangern, wie z. B. den Erstickungstod von Adama Traoré im Jahr 2016 im Polizeigewahrsam, oder die Vergewaltigung eines jungen Mannes, Théo, mit einem Schlagstock, der so schwer verletzt wurde, dass er operiert werden musste usw. Beides geschah in Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris.
Das neue Sicherheitsgesetz ist nur das letzte in einer langen Liste repressiver Maßnahmen, die oft im Gefolge von Terroranschlägen überstürzt eingeführt wurden: 30 solcher Gesetze in den letzten 20 Jahren. Vor einem Monat schockierte der brutale Mord an Samuel Paty, einem Lehrer, bei einem Terroranschlag das ganze Land. Diesen Schock versuchte die Regierung für repressive Gesetze zu missbrauchen – unter dem Vorwand, die „Meinungsfreiheit“ zu verteidigen – ein makaberer Witz, wenn man bedenkt, was sie selbst tut: das Arsenal der Sicherheitsgesetze zu verstärken und eine brutale Unterdrückung jeglicher Proteste vorzubereiten.
Dasselbe geschah unter allen früheren Präsidenten: Jacques Chirac, dann Nicolas Sarkozy und François Hollande. Abgesehen von der Stärkung eines Polizeistaates haben diese Maßnahmen auch ein kurzfristigeres Ziel: Sie zielen darauf ab, die rechten WählerInnen und sogar die AnhängerInnen des reaktionären Rassemblement National (des ehemaligen Front National; FN) davon zu überzeugen, dass Macron eine energische rechte Politik verfolgt und sie deshalb bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 für ihn stimmen sollten. Es ist kein Zufall, dass alle wichtigen MinisterInnen der gegenwärtigen Regierung Macrons früher Persönlichkeiten der rechtsgaullistischen Partei UMP (Union pour un mouvement populaire; Union für eine Volksbewegung) waren, insbesondere Jean Castex (Premierminister), Gérald Darmanin (Innenministerium) und Bruno Le Maire (Wirtschaft).
Ein weiteres kürzlich von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz gegen „Separatismus“ (gegen „antirepublikanisches Gedankengut“) stellt in Wirklichkeit ein weiteres islamfeindliches Gesetz dar, das nahelegen soll, dass der Islam unweigerlich hinter Unsicherheit und Terrorismus steht. Hinzu kommen eine weit verbreitete, von der Regierung geförderte Hexenjagd in den Medien, die Halal-Regale (mit Lebensmitteln gemäß islamischem Kodex) in Supermärkten als Zeichen von „Separatismus“ anprangert, Angriffe auf die „Islamo-Linke“ als gefährlichen Wundbrand an Universitäten oder die Schließung des Kollektivs gegen Islamophobie (CCIF), einer Organisation zur Verteidigung der Opfer antimuslimischer Angriffe.
Während die Regierung nun kleinere symbolische Gesetzesänderungen anbietet, fordern die Gewerkschaften zu Recht Einstellung und Aufgabe des gesamten Projekts. Die Solidarität zwischen allen Opfern des Rassismus und der organisierten ArbeiterInnenklasse ist unerlässlich für diesen Kampf. Angesichts einer neuen Welle von Massenentlassungen in wichtigen Unternehmen wie Renault, das die Schließung seines Werks in Flins, seines wichtigsten französischen Standorts, mit einem Verlust von 2.574 Arbeitsplätzen plant, wird das neue Sicherheitsgesetz morgen gegen ArbeiterInnen und Jugendliche in Streikposten, bei Betriebsbesetzungen oder auf der Straße eingesetzt werden, die ihre Arbeitsplätze und ihre demokratischen Rechte verteidigen.
Die Demonstrationen vom letzten Wochenende können zum Fanal für den Aufbau einer gemeinsamen Massenbewegung werden – gegen die sog. Sicherheitsgesetze, gegen Rassismus und zum Kampf gegen Schließungen und Massenentlassungen!