Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024
In der Schweiz wurden Frauenrechte immer etwas später errungen als in anderen europäischen Ländern. Wir haben das Wahlrecht auf nationaler Ebene erst 1971 erhalten, während es in Deutschland und Österreich 1918 und in Italien 1945 eingeführt wurde. Dies sind sechs Jahre, nachdem selbst die USA das Wahlrecht ohne Diskriminierung verallgemeinerten, also endlich schwarzen Frauen erlaubten zu wählen.
Diese Schweizer Verzögerung kann durch unzählige komplementäre Faktoren erklärt werden. Während der imperialistischen Kriege mussten die kriegführenden Länder massenhaft weibliche Arbeit anstellen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Es gab wegen der Schweizer Neutralität nicht denselben erzwungenen Einbezug in den Arbeitssektor. Der Widerspruch zwischen ihrer erhöhten Ausbeutung und dem Mangel an bürgerlichen Rechten trat so in der Schweiz weniger und später ins Massenbewusstsein und wurde auch nicht aufgelöst. Ein anderer Faktor ist, dass sich wegen der föderalen Struktur des Landes viele Aktivist:innen für das Frauenwahlrecht auf die kantonale Ebene fokussiert haben. Daher haben drei Kantone, alle in der französischsprachigen Schweiz (Waadt, Neuenburg und Genf), schon 1960 das Frauenwahlrecht eingeführt. Bevor weitere Kantone nachzogen, mussten allerdings noch sechs Jahre vergehen.
In ähnlicher Weise wurde die Gleichheit zwischen Männern und Frauen erst am 14. Juni 1981 in der Verfassung verankert. In den Nachbarländern geschah dies schon 1946 in Frankreich bzw. 1949 in Deutschland. Wie es jedoch bei solchen Gesetzen üblicherweise der Fall ist, scheitern sie an der wirklichen Umsetzung. Am schockierendsten ist dabei, wie manche Kantone es geschafft haben, Frauen bis 1991 das Wählen de facto zu verbieten. Erst 20 Jahre, nachdem das Wahlrecht auf nationaler Ebene errungen und 10 Jahre nachdem die Gleichheit unter den Geschlechtern gesetzlich verankert worden war, erzwang die Eidgenossenschaft die Umsetzung auch im Kanton Appenzell Innerrhoden.
1991, zehn Jahre nach der Einführung der Gleichheit unter den Geschlechtern in der Verfassung, organisierte der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) zum Jahrestag einen Streik namens „Frauenstreik“. Der Slogan lautete „Zehn Jahre der Gleichheit … auf dem Papier!“ Die Wirkungslosigkeit der Autoritäten, das Gesetz konkret umzusetzen, wurde verurteilt und es wurden einige Lösungen vorgeschlagen: Lohnungleichheit verbieten, Frauen vor sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz schützen, bezahlbare Kinderbetreuung und Männer zur Teilnahme an reproduktiver Arbeit im gleichen Maße zwingen, wie sie Frauen ausüben. Da der Aufruf zum Generalstreik der Frauen weit über einen einfachen Umzug während der Freizeit hinausging, wurde er von den bürgerlichen Ideolog:innen in Medien und Parlament vehement bekämpft. Sie bezeichneten die Aktion als „exzessiv“. Ein Mitglied des Parlaments maßte sich sogar an, den Aufruf als „dumm“ zu bezeichnen. Aber es waren nicht nur Männer, die gegen einen Streik waren: Auch liberale und konservative sogenannte Feministinnen hatten keine Solidarität oder Empathie für die Sache übrig.
Der Grund für die erfolgreiche Mobilisierung, die nur von zwei anderen Aktionen in der Schweizer Geschichte übertrumpft werden konnte, liegt in der Arbeiter:innenbewegung. Ausgangspunkt war der Streik von Uhrenarbeiter:innen in Vallée de Joux, einem abgeschlossenen Hochtal im Jura, die sich gegen die exorbitanten Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern einsetzen wollten und unterschiedliche Gewerkschafter:innen für ihr Anliegen begeistern konnten, unter ihnen zentral Christiane Brunner. Die Erfolge davon waren aber nicht nur abhängig von dieser erfolgreichen gewerkschaftlichen Mobilisierung, sondern die Bewegung schaffte es, in einen sehr speziellen internationalen Kontext zu treten, wo auch in Amerika und Europa große Streiks stattfanden und die Aktionen und Mentalitäten ineinander überschwappten.
Der 14. Juni 1991 markiert noch immer einen der größten Tage für soziale Bewegungen in der Schweiz. Denn 100.000 Frauen streikten für die Gleichheit unter den Geschlechtern, und insgesamt 500.000 beteiligten sich in der einen oder anderen Weise. Es war die größte Arbeitsniederlegung, die die Schweiz seit dem Generalstreik 1918 gesehen hatte. Die Schockwelle spürt man bis heute noch in der Arbeiter:innengeschichte nach und die bloße Erwähnung des Streiks sorgt für Angst und Schrecken in der Bourgeoisie, obwohl er von der Sozialdemokratischen Partei (SP) und den sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften koordiniert wurde, die ja auch gut eingebettet ins bürgerliche System sind, und unmittelbar letztlich sehr wenige Forderungen durchgesetzt werden konnten.
Obwohl sich der kämpferische Streik 1991 gegen das bürgerliche Anti-Streik-Dogma stellte, wurden nur wenige Forderungen formuliert. Für tatsächliche Rechte zu kämpfen, die der Staat einer unterdrückten Gruppe zu gewähren vorgibt, ist zwar eine großartige Taktik für Bürger:innnenrechtsaktivist:innen, hat aber seine Grenzen. Es trabt nämlich dem Kapitalismus auf seinem Terrain hinterher.
Ein prägnantes Argument ist, dass der Kapitalismus unfähig ist, uns die Rechte zu gewähren, welche er uns verspricht. Tatsächlich ist die geschlechtsspezifische Unterdrückung in die grundsätzliche Funktionsweise des kapitalistischen Systems eingewoben, welches es sich beispielsweise nicht leisten kann, die Hausarbeit und damit die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen der privaten Sphäre zu entreißen. Daher kann im Kapitalismus zwar die formale, rechtliche Gleichheit der Geschlechter errungen werden, aber keine faktische Gleichstellung. Für ein tatsächliches Ende der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, für wahrhaftige Gleichstellung, muss daher die kapitalistische Produktionsweise überhaupt gestürzt werden!
Die Forderungen des Streiks von 1991 waren alle inhaltlich gut und wichtig, allerdings nicht ausreichend, und die Organisator:innen glaubten, Forderungen nach Abtreibungsrechten und Mutterschaftsurlaub wären zu ehrgeizig für die Bewegung! Außerdem wurden keine Anstalten unternommen, die spezifischen Bedürfnisse von People of Colour oder LGBTQ+-Personen aufzunehmen. Ihr Feminismus war daher nicht nur reformistisch, sondern auch ausschließend. Es ist daher auch nicht überraschend, dass einige der prominentesten Führerinnen des Streiks 1991, wie Martine Chaponnière, später immer islamophober wurden.
2011 wurde eine Neuauflage des Streiks initiiert, die jedoch eine starke Einbuße an Kampfkraft zu verzeichnen hatte. Die Frauen der bürgerlichen Parteien, welche 1991 die Idee eines Streiks verabscheut hatten, haben die Notwendigkeit eines Streiks nun verteidigt. Dieses Mal waren aber nur einige tausend Frauen auf den Straßen.
Als Reaktion auf die #MeToo-Bewegung entschied sich der SGB 2019, eine erneute Version des Streiks zu organisieren, wieder am 14. Juni. Dieser wurde sowohl „Frauenstreik“ als auch „feministischer Streik“ genannt. In der deutschsprachigen Schweiz war er größtenteils unter ersterer Bezeichnung bekannt. Dieses Mal waren 500.000 Menschen auf der Straße. Im Gegensatz zu 1991 fokussierten sich die Forderungen auf den intersektionalen Feminismus. Spezifische Forderungen für rassifizierte Frauen wie auch für LGBTQ+-Personen wurden aufgestellt. Der Aufruf, diesen Streik zu organisieren, war aus der Frauenversammlung des SGB entstanden, durch den Impuls von Frauen aus dem Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Nach einem Aufruf über Facebook trafen sich im Juni 2018 ca. 200 Frauen, nicht alle davon gewerkschaftlich oder anderweitig organisiert, um den Streik 2019 zu initiieren. Im Anschluss bauten diese in der ganzen Schweiz Strukturen zu seiner Organisation auf.
Am Streiktag schließlich fanden viele spontane Aktionen statt: Manifeste wurden geschrieben und spezifische Forderungen für gewisse Wirtschaftssektoren (vor allem im öffentlichen Dienst) wurden erhoben. Frauen, die im privaten Sektor arbeiteten, hatten es grundsätzlich schwieriger zu streiken, wegen der noch größeren Gefahr von Repressionen seitens des Kapitals. Dies hielt Frauen im öffentlichen Dienst aber nicht davon ab, Solidarität zu bekunden und Forderungen für ihre Schwestern im privaten Sektor aufzustellen. Zum Beispiel stellten Angestellte und Student:innen der Universität Lausanne Forderungen für das Reinigungs- und Cafeteriapersonal auf, welches von privaten Firmen angestellt war.
Eine solche Masse an arbeitenden Frauen auf der Straße zu sehen, war eine Inspiration für arbeitende Frauen in anderen westlichen Ländern. Der Streik war in den Nachrichten in Großbritannien, Deutschland, Österreich, in den USA und in weiteren Ländern, stets begleitet von einem Kommentar zur Geschichte des außergewöhnlichen Tages, an welchem die Schweizer Frauen streik(t)en.
Wie in Spanien bildeten diese Streiks ein Beispiel dafür, wie der Kampf um Frauenbefreiung die Grenzen des kleinbürgerlichen und bürgerlichen Aktivismus überwinden kann. Tatsächlich ist der Streik voll und ganz eine Kampfform des Proletariats. Auch wenn nicht jede so betitelte Aktion auch wirklich ein Streik ist, so waren die Aktionen in der Schweiz stark verbunden mit betrieblichen Aktionen und standen unter gewerkschaftlicher Anleitung.
Wie bereits erwähnt, stellen sich bürgerliche Frauen gegen das Kampfmittel des Streiks. Dieselben Frauen aber schämen sich nicht, den Feminismus als Werkzeug zu missbrauchen, um ihre Dominanz über arbeitende Frauen zu verstärken. Vor allem anderen kämpfen sie für Quoten in Spitzen- und Führungspositionen und gegen alltägliche sexistische Handlungen, während die permanente strukturelle Unterdrückung von Frauen im Kapitalismus unangetastet bleibt.
Dieser liberale Feminismus stellt Männer gegen Frauen und erlaubt es proletarischen Frauen in keinster Weise, die Kontrolle über ihre eigene Emanzipation zu erhalten. Daher wird er auch von den meisten proletarischen Frauen abgelehnt. Was die Streiks in der Schweiz und Spanien Frauen auf der ganzen Welt gezeigt haben, ist, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Kampf für mehr Frauenrechte und dem für bessere Arbeitssituationen, kurz, dass die Frage nach Gleichberechtigung eben auch eine Klassenfrage ist.
Daher war der Streik 2019 ein realer Erfolg, welcher fähig war, arbeitende Frauen zu mobilisieren. Daher hat er das Vertrauen der Arbeiter:innen erhalten und eine Plattform für Veränderung geboten. Logischerweise sollten wir also erwarten, dass die Bewegung deswegen anwächst. Doch die Führungsrolle des Reformismus der SP und Gewerkschaftsbürokratie sowie der Einfluss des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus sollten sich in den folgenden Jahren als Barriere erweisen, die zu Stagnation und Rückschlägen der Bewegung führte.
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