Martin Suchanek, Infomail 1092, 3. März 2020
In Syrien droht der Konflikt zwischen dem Assad-Regime und Russland einerseits, der Türkei und ihren Verbündeten anderseits weiter zu eskalieren – selbst eine militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland scheint möglich.
Doch selbst wenn diese Zuspitzung vermieden werden sollte, haben die bewusste Vertreibung Hunderttausender durch das syrische Regime und der Kampf um die Neuaufteilung des Landes zwischen imperialistischen Mächten wie Russland und den USA sowie ihren regionalen Verbündeten oder KontrahentInnen wie dem Iran oder der Türkei Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht gezwungen.
Wie schon Millionen vor ihnen bleibt ihnen nur der Weg in die Türkei; und wie Millionen vor ihnen hoffen sie, es doch irgendwie in die EU zu schaffen. Die Öffnung der Grenzen durch Erdogan – sicherlich einzig dadurch motiviert, von seinen europäischen „ParternInnen“ finanzielle, politische und ggf. auch militärische Unterstützung zu erhalten – wirkt für Hunderttausende vertriebener, verarmter, entrechteter und traumatisierter Menschen wie ein unerwarteter Hoffnungsschimmer, als letzter Strohhalm in größter Not.
Jeder vernünftige Mensch kann dies nur zu gut nachvollziehen. Eigentlich wären die unmittelbaren Maßnahmen zur Linderung der humanitären Katastrophe, zur Verbesserung des Schicksals Millionen Geflüchteter ganz einfach umzusetzen. Die EU, dieser selbsternannte Hort der Humanität und Menschenrechte, müsste nur die Grenzen für die Geflüchteten öffnen – nicht nur in Griechenland und Bulgarien, sondern auch deren Weiterreise in jenes Land der EU ermöglichen, in das die Geflüchteten wollen.
Doch während die öffentliche Meinung in den meisten EU-Staaten 2015 noch nicht bereit war, Menschen in großer Zahl sehenden Auges im Mittelmeer ertrinken oder durch Schießmanöver abschrecken zu lassen, so lautet 2020 das Credo aller Regierungen, dass sich genau das Durchbrechen der Festung Europa nicht wiederholen dürfe.
Griechenland und Bulgarien sollen mehr Unterstützung erfahren – nicht durch die Aufnahme von Flüchtlingen, die auf Inseln wie Lesbos eingepfercht werden –, sondern um sie zu stoppen und abzuschrecken. Die Zusammenstöße zwischen Geflüchteten und BewohnerInnen griechischer Inseln wurden schon vor der Aufkündigung des Türkei-EU-Flüchtlingsdeals durch Erdogan von der griechischen Regierung sowie rechten, rassistischen wie faschistischen, Kräften befeuert, um noch brutalere Abschiebungen und die gewaltsame Abschreckung syrischer Flüchtlinge zu legitimieren. Auf Lesbos wurde am 1. März ein ehemaliges UN-Begrüßungszentrum für Geflüchtete angezündet. RassistInnen versuchten, einen Polizeibus mit MigrantInnen auf dem Weg nach Moria mit Ketten und Steinen zu stoppen.
Vor allem aber erreicht die rassistische, offizielle Politik jetzt eine neue Eskalationsstufe – mit Unterstützung aller EU-Staaten. Rechts-populistische oder konservative Regierungen wie jene Österreichs verkünden schon, dass sie vorsorglich SoldatInnen an den eigenen Landesgrenzen stationieren werden, um jene Geflüchteten, die es vielleicht doch über den Balkan nach Mitteleuropa schaffen sollten, zu stoppen.
Bulgarien und Griechenland haben in den letzten Tagen tausende zusätzliche PolizistInnen, GrenzschützerInnen und SoldatInnen an die Landgrenzen zur Türkei verlegt, um die Flüchtlinge mit Tränengas und schwer bewaffneten Patrouillen zu stoppen. Griechenland hat das Asylrecht ausgesetzt.
In der Ägäis ziehen die griechische Marine und das Heer weiter Kräfte zusammen. Auf einigen Inseln soll die Armee auf Befehl ihres Oberkommandos Schießübungen durchführen – und die EU schickt Verstärkung durch Frontex. Gegen die Geflüchteten wird regelrecht Krieg geführt.
Der Rechtsruck in Europa wird selten deutlicher als angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien und der Türkei. Erdogan wird ausgerechnet dafür gescholten, dass er sich an den menschenverachtenden Deal zur „Entsorgung“ der syrischen Flüchtlinge nicht mehr halten will. Er erpresse sie – das sei „schäbig“. Darunter verstehen die RepräsentantInnen der EU, dass der türkische Regierungschef nicht mehr bereit ist, sie gegen Milliarden Euro eines Problems zu entledigen. Daher soll neben Grenzsicherung und Abschreckung eine Neuverhandlung das Abkommen mit der Türkei retten, vorzugsweise indem sie etwas mehr Geld erhält, damit das Land wieder als Endstation für Bürgerkriegsflüchtlinge fungiert.
Die europäischen PolitikerInnen von rechts bis zu Grünen und „linken“ ReformistInnen brüsten sich gern ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber Erdogan. Ihr eigenes Verhalten, die barbarische Genzsicherung durch EU-Kommission und alle Landesregierungen straft freilich ihren eigenen „Humanismus“ Lügen, offenbart die ganze Heuchelei dieser DemokratInnen. An den Außengrenzen wird das Ertrinken der Geflüchteten zwecks Abschreckung billigend in Kauf genommen.
Der Rechtsruck in Europa kommt auch hier zum Ausdruck. Keine konservative, liberale, grüne oder sozialdemokratische Partei möchte sich vorwerfen lassen, „zu viel“ für die Geflüchteten tun zu wollen. Die wenigen Vorschläge einzelner Städte wie Berlin, einige tausende Menschen aufzunehmen, stellen das „höchste“ der Gefühle dar. Es sind wohl kalkulierte begrenzte humanitäre Gesten, Tropfen auf den heißen Stein, die solchen Stadtverwaltungen oder einzelnen PolitikerInnen erlauben, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Eine Öffnung der Grenzen für alle, „unkontrollierbare Zustände“, die Hunderttausende Geflüchtete angeblich mit sich bringen würden, wollen natürlich auch sie nicht. Die Masse der syrischen Flüchtlinge soll auch nach ihrem Kalkül in der Türkei verbleiben. Dort sind die Zustände zwar auch längst unhaltbar und katastrophal. Doch während die ökonomisch viel schwächere Türkei gerügt wird, sich nicht ausreichend um Millionen zu kümmern, will die EU möglichst jede/n abweisen, der/die nicht den Verwertungserfordernissen des europäischen Kapitals entspricht. Während Regelungen für die Beschäftigung von FacharbeiterInnen aus Drittstaaten von der EU kürzlich gelockert wurden, um keinen Arbeitskräftemangel zu erleiden, so sollen die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien dicht bleiben, ja unüberwindbar werden.
Die Linkspartei fordert immerhin die Aufkündigung des Deals mit Erdogan und lehnt die Entsendung weiterer Frontex-Truppen ab. Zur Forderung nach Öffnung der Grenzen kann sie sich freilich nicht entschließen. So fordert Cornelia Ernst, die migrationspolitische Sprecherin der Linkspartei im Europaparlament, „die Einrichtung sicherer Fluchtwege, beispielsweise durch die Gewährung humanitärer Visa an EU-Botschaften“ und das Bereitstellen von Kapazitäten, „damit diesen Menschen ein faires Asylverfahren garantiert werden kann.“ (https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12632.t%C3%BCrkei-pakt-mit-erdo%C4%9Fan-muss-enden.html)
Und wo sollen die Menschen bleiben, bis sie ein Visum von einer EU-Botschaft erhalten? Soll die Entscheidung darüber, wer kommen darf, tatsächlich deutschen, italienischen oder anderen EU-BeamtInnen überlassen werden? Sollen Hunderttausende, ja Millionen warten, bis die Kapazitäten für ein „faires Asylverfahren“ von der EU bereitgestellt werden?
Allein diese Fragen verdeutlichen, wie ungenügend, ja geradezu weltfremd und bürokratisch diese Vorschläge sind angesichts von Hunderttausenden, die jetzt der Hölle von Idlib zu entfliehen versuchen, von Millionen in der Türkei, die seit Jahren als menschliche Manövriermasse verschoben werden, angesichts von Zehntausenden, die in entwürdigenden Lagern in Griechenland ihr Leben fristen müssen.
Es gibt nur eine einzige humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU, die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung und das Zurverfügungstellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte DemagogInnen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit, Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen.
Aktionen und Mobilisierungen wie jene von antirassistischen Bewegungen, von Seebrücke und anderen AktivistInnen zeigen, dass es Kräfte gibt, die sich dem Rechtsruck und der Abschottung der Festung Europa entgegenstellen wollen. Die Linkspartei, die Gewerkschaften, alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, von MigrantInnen und der radikalen Linken müssen sich jetzt mit den Geflüchteten solidarisieren – gegen die Abschottung der EU, für offene Grenzen – sofort!