Arbeiter:innenmacht

Revolution im Sudan: Ursachen und Perspektiven

Dave Stockton, Neue Internationale 237, Mai 2019

Der Sudan befindet sich inmitten einer wirklich erstaunlichen Volksrevolution, bei der Frauen neben Jugendlichen, GewerkschafterInnen und unterdrückten nationalen Minderheiten eine wichtige Rolle spielen. Zu den Slogans gehörten „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“ und „Gerechter Sturz“. Als die Sicherheitsdienste Darfuris unter der Menge aufs Korn nahmen, kam die Parole auf: „Ihr arroganten RassistInnen, wir sind alle Darfur!“ (In der Region Darfur führt die sudanesische Regierung bis heute einen besonders blutigen und rassistischen Krieg gegen die Bevölkerung). Teile der einfachen SoldatInnen haben die DemonstrantInnen geschützt und sich ihnen sogar angeschlossen.

Zuerst dachte das Regime, es könnte dies einfach aussitzen und reagierte auf die sich entwickelnde Bewegung mit Repression, einschließlich eines scharfen Feuers von den speziellen Sicherheitskräften und islamistischen Parteimilizen. Eine Reihe von Protestierenden wurde getötet. Der Stabschef der Armee, Kamal Abdelmarouf, warnte im Januar: „Wir werden nicht zulassen, dass der sudanesische Staat zusammenbricht oder ins Chaos stürzt.“ Zu seiner Bestürzung verteidigten junge OffizierInnen und SoldatInnen die Menge und vertrieben ihre AngreiferInnen.

Absetzung des Diktators

Seitdem haben die Massen immer wieder Kompromisse des Militärs und der Sicherheitsdienste, die die Grundlage des Regimes bilden, abgelehnt. Die zentrale Forderung ist, dass das gesamte Regime, das Omar al-Baschir 30 Jahre lang an der Macht gehalten hat, abgebaut wird und dass das militärische Oberkommando die Macht abgeben und an die Zivilbevölkerung aushändigen muss. Obwohl ihre Zukunft und ihr Ergebnis nicht gesichert sind, wird die sudanesische Revolution in der gesamten Region eine Inspiration sein.

Nach viermonatigen Freitagsdemonstrationen, die in der dauerhaften Besetzung des Gebietes um das Militär- und Präsidialhauptquartier in Khartum gipfelten, feierten Hunderttausende die Verhaftung des brutalen Diktators, der den Sudan seit der Machtergreifung bei einem Staatsstreich 1989 mit eiserner Faust regiert und einen Völkermordkrieg in Darfur durchgeführt hatte, bei dem bis zu 400.000 Menschen starben, sowie den langen Krieg im Südsudan, bei dem 2 Millionen Menschen starben, auch an Hunger und Krankheit.

Einige von den Protestierenden auf der Straße und in der demokratischen Opposition werden sich zweifellos noch erinnern: Als al-Baschir die Macht übernahm, beendete er vier Jahre relativer demokratischer Freiheiten nach einer Revolution 1985, unterdrückte politische Parteien und unabhängige Gewerkschaften und führte eine repressive „islamische“ Verfassung ein. In dieser Zeitspanne töteten Geheimdienste, Polizei und GefängniswärterInnen Tausende und viele weitere wurden von seinem Regime gedemütigt, gefoltert und terrorisiert.

Als der Verteidigungsminister Ahmed Awad Ibn Auf das Ende der Herrschaft al-Baschirs im nationalen Fernsehen ankündigte, setzte massiver Jubel ein. Er kündigte aber auch an, dass ein Militärrat für die nächsten zwei Jahre vor jeder Neuwahl die Exekutivmacht im Land behalten wolle. Es war also kein Wunder, dass die Menschen auf den Straßen eindeutig klarmachten, sie würden das auf keinen Fall akzeptieren.

Militärrat

Als angeblich versöhnlichere Figur wurde Generalleutnant Abdel Fattah al-Burhan dann als Leiter eines Transitional Military Council (Übergangsmilitärrat, TMC) angekündigt. Al-Burhan bestand darauf, dass der TMC „komplementär zum Aufstand und zur Revolution“ stehe und „verpflichtet ist, die Macht an das Volk zu übergeben“.

Diese Ankündigung war jedoch eindeutig nicht das Ergebnis einer „demokratischen“ Bekehrung durch das Oberkommando, das al-Baschir jahrzehntelang gedient hatte. So  brachen die ProtestführerInnen die Gespräche mit den Militärbehörden rasch ab und erklärten, dass es der Militärjunta nicht ernst damit sei, die Macht auf Zivilpersonen zu übertragen, sondern dass sie tatsächlich aus Überresten des islamistischen Regimes von al-Baschir bestand. Sie gelobten, die Demonstrationen zu intensivieren.

Kurz danach wurden die Verhandlungen jedoch wieder aufgenommen und in einer Erklärung am 25. April verlängert, nachdem das Militär einige weitere Zugeständnisse – so die Demission von 3 islamistischen Generälen – gemacht hatte. Zur Zeit der Drucklegung des Artikels, am 26. April, werden die Verhandlungen wie auch die Massenmobilisierung fortgesetzt.

Entwicklung

Seit vier Monaten befindet sich der Sudan inmitten einer tiefgreifenden revolutionären Situation. Unmittelbarer Auslöser war die Ankündigung von Preiserhöhungen bei Brot und Benzin. Deren Hintergrund bildet die grassierende Arbeitslosigkeit, die steigende Inflation sowie die lähmende Nahrungsmittel- und Kraftstoffknappheit. Rund 80 Prozent der Bevölkerung muss mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen und fast 2,5 Millionen Kinder leiden an schwerer Unterernährung.

Die Abspaltung des Südsudans im Jahr 2011 entzog dem Land drei Viertel seiner Öleinnahmen und löste eine anhaltende Wirtschaftskrise aus. Dennoch gab das Regime weiterhin schätzungsweise 70-80 Prozent der verbleibenden Einnahmen für Kräfte der inneren Sicherheit und das Militär aus. Es ist völlig korrupt und jede/r weiß das.

Obwohl die Nahrungsmittel- und Treibstoffknappheit die Bewegung antrieb, erhoben die DemonstrantInnen schon bald politische Losungen – „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“ und „Revolution ist die Wahl des Volkes“!

Junge Menschen und Frauen bildeten das Herzstück der Bewegung, wobei die Kampagne „Nein zur Unterdrückung von Frauen“ eine führende Rolle spielte. Die zentrale Stellung der Frauen bei den Protesten wird durch die Figur von Alaa Salah symbolisiert, einer Frau, die während eines Sitzstreiks im militärischen Hauptquartier ein Gedicht rezitierte, in dem sie die Bewegung vom Dach eines Autos aus lobte und ihre Zeilen mit dem Schrei „Thowra!“ – „Revolution“ auf Arabisch – unterlegte.

Die DemonstrantInnen fordern einen vollständigen Bruch mit dem kulturell und bildungspolitisch unterdrückenden islamistischen Regime, das besonders hart zu Frauen ist.

Der Aufstand begann in Städten nördlich der Hauptstadt Khartum, an Orten wie Atbara, einem Eisenbahnproduktionszentrum und Wiege der sudanesischen Gewerkschaftsbewegung. Die Straßenproteste am Freitag wurden durch Besetzungen von Universitäten und Schulen, Streiks von ArbeiterInnen des öffentlichen und privaten Sektors, einschließlich derjenigen in Port Sudan (Bur Sudan) am Roten Meer, verstärkt. Die starke Organisationstradition der sudanesischen ArbeiterInnenbewegung wurde am 5. und 13. März in landesweiten Streiks demonstriert.

Die liberale Opposition und die Kommunistische Partei

Die Kundgebungen wurden von der „Allianz für Freiheit und Wandel“ organisiert, zu der Berufsverbände, Gewerkschaften und Oppositionsparteien gehören. Sitzungen des Koordinierungsgremiums fanden am Sitz der sudanesischen Kommunistischen Partei SCP statt, die darauf abzielt, „ein möglichst breites Bündnis von politischen Parteien, bewaffneten Gruppen, demokratischen Massenorganisationen, Gewerkschaften der Freischaffenden, ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenbewegungen sowie StudentInnen- und Frauenverbänden aufzubauen“.

Die 1946 gegründete SCP war eine mächtige Kraft im Land und in der Armee bis zu ihrer Teilnahme am gescheiterten Staatsstreich von 1971, der mit dem Sieg von General Dschafar Muhammad an-Numairi und der Hinrichtung der wichtigsten FührerInnen der SCP endete. Seit vielen Jahren operierte sie im Untergrund und die von ihr beeinflussten Gewerkschaften wurden aufgelöst. In jüngster Zeit ist die Partei wieder aufgetaucht, obwohl ein Teil ihrer Führung, darunter 16 Mitglieder ihres Zentralkomitees, immer noch im Gefängnis sitzt.

Es ist zu erwarten, dass die SCP, die in unerschütterlicher stalinistischer Tradition steht, die Strategie der Volksfront übernehmen, d. h. auf eine Regierung drängen wird, die VertreterInnen der besitzenden und der ausgebeuteten Klassen vereint. Dies wäre, wie es immer war, ein Rezept für eine Katastrophe, und die ArbeiterInnenklasse und die Armen würden der Früchte ihres revolutionären Kampfes beraubt.

Die entscheidende Frage ist, wie bei jedem zutiefst revolutionären Umsturz, ob die ArbeiterInnenklasse dabei eine unabhängige Rolle spielt. Nur wenn die ArbeiterInnen die Führungsrolle übernehmen, die ihnen ihr Platz in der Produktion ermöglicht, können die Ziele der Demokratie gesichert werden, ganz zu schweigen von den sozialen Bedürfnissen der ArbeiterInnen, Bauern/Bäuerinnen und Armen.

Der Verband der freien Berufe Sudans hat als Sprecher der Bewegung eine herausragende Rolle gespielt. So hat er beispielsweise wiederholt gefordert, dass das Oberkommando der Armee eingreift, um al-Baschir zu beseitigen, ein Wunsch, der jetzt erfüllt wurde. Bisher sind seine Bestrebungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer radikalen Zerstörung des alten Regimes bewundernswert klar. Er hat eine „Regierung aus patriotischen ExpertInnen“ sowie eine „vollständig zivile Regierung“ verlangt.

Unabhängig von den demokratischen Bestrebungen ihrer Mitglieder wird sie sich zweifellos gezwungen sehen, die Interessen des Großkapitals und des ausländischen Imperialismus zu wahren, solange die Repressionsmaschinerie, die über den Massen der Bevölkerung steht und ihnen nicht verantwortlich ist, existiert und die reale Macht monopolisiert.

Sudanesische RevolutionärInnen werden zweifellos an das Schicksal des arabischen Frühlings 2011 in Ägypten, Syrien, Jemen und Libyen denken, wo trotz des Mutes der jungen RevolutionärInnen ihre Bewegungen durch eine brutale Rückkehr des alten Regimes zerstört wurden. Solange das Oberkommando der Armee, die islamistischen Parteien und die staatliche Bürokratie intakt bleiben, auch wenn ihre derzeitigen FührerInnen zurück- oder beiseitetreten, bleibt die Gefahr einer Konterrevolution bestehen. Die einzige Antwort ist eine Revolution, die den ganzen Weg geht, die repressive Macht des Staates auflöst, die Kontrolle über die Wirtschaft von der korrupten KapitalistInnenklasse übernimmt und die Macht in die Hände der Werktätigen legt.

Was nun?

Der zukünftige Fortschritt der Bewegung hängt von zwei Dingen ab. Erstens müssen die ArbeiterInnen auf jede Razzia des TMC mit einem umfassenden und unbefristeten Generalstreik antworten. Zweitens müssen die SoldatInnen des Heeres, die Marineränge und das Luftwaffenpersonal gewonnen werden, um sich tatsächlich den Massen auf den Straßen anzuschließen und ihre Waffen mitzubringen. Sie müssen SoldatInnenkomitees in den Kasernen bilden und OffizierInnen entfernen, die AgentInnen des alten Regimes geblieben sind. SoldatInnen und MatrosInnen sollten in der Tat ihre Kommandeurinnen selbst wählen.

Es ist offensichtlich, dass der TMC beabsichtigt, von seinem ägyptischen Gegenstück zu lernen, um die Revolution unter seine Kontrolle zu bringen und zu zerschmettern. Die Antwort der revolutionären Bewegung muss darin bestehen, weiter unablässig daran zu arbeiten, die einfachen SoldatInnen, untere Polizeiränge usw. für die Seite der Revolution zu gewinnen. Wirkliche Sicherheit für das Volk wird nur gewährleistet sein, wenn sich die  Basis der Streitkräfte den ArbeiterInnen, StudentInnen und Jugendlichen bei der Wahl der revolutionären DelegiertInnenräte anschließt und eine Volksmiliz bildet.

Jede provisorische Regierung muss sich auf diese Räte stützen und ihnen gegenüber verantwortlich sein. Nur auf solche Kräfte kann man sich verlassen, wenn es darum geht, Wahlen zu organisieren und die demokratische Rechenschaftspflicht einer souveränen verfassunggebenden Versammlung zu gewährleisten.

Aber sobald sie geschaffen sind und Macht in ihren Händen halten, sollten solche Räte weitergehen und eine auf ihnen basierende Republik gründen – eine, die die dringenden Bedürfnisse der Armen in Stadt und Land auf Kosten der reichen und korrupten Elite, der großen UnternehmerInnen usw. erfüllen kann. Kurz gesagt, die demokratische Revolution muss durch das Handeln der ArbeiterInnenklasse, der Frauen, der Jugendlichen und all der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Stadt und Land in eine soziale Revolution umgewandelt werden.

Die internationale Antwort

Al-Baschir hatte die Unterstützung des ägyptischen Diktators, Präsident Abdel Fatah El-Sisi (Abd al Fattah as-Sisi) und von Mohammed bin Salman, dem mörderischen saudischen Kronprinz. Er wurde außerdem stillschweigend von Donald Trump und auch von Benjamin Netanjahu unterstützt. Auch Wladimir Putin kann in die Gemeinschaft der imperialistischen DiebInnen aufgenommen werden, die den sudanesischen Diktator unterstützten, sowie der

„Khartum-Prozess“ der Europäischen Union, um Flüchtlinge von der Mittelmeerüberquerung abzuhalten. Jetzt haben all diese Kräfte ihre Unterstützung auf den TMC übertragen und werden jedem Versuch Hilfestellung leisten, die Ordnung wiederherzustellen.

Aus all diesen Gründen sollten SozialistInnen und GewerkschafterInnen sowie die Frauen- und Jugendbewegungen auf der ganzen Welt ihre Stimme zum Beistand für die Revolution im Sudan laut erheben und ihre Regierungen auffordern, die Unterstützung jeglichen Militärregimes gegen das Volk einzustellen. Da sich Algerien noch immer in revolutionären Turbulenzen befindet und in Marokko Massendemonstrationen ausbrechen, wird es nötig und möglich sein, die Revolution in eine gegen alle diktatorischen Regime in der arabischen Welt und auch in Afrika südlich der Sahara auszuweiten.

image_pdfimage_print

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vom Widerstand zur Befreiung

Für ein freies, demokratisches, sozialistisches Palästina!

Broschüre, A4, 48 Seiten, 3,- Euro

Aktuelle Veranstaltungen

Mai
1
Mi
10:00 Gewerkschaften und Lohnabhängige... @ Berlin
Gewerkschaften und Lohnabhängige... @ Berlin
Mai 1 um 10:00
Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive! Gegen Krieg, Kürzungspolitik und rechte Hetze @ Berlin
Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive! Gegen Krieg, Kürzungspolitik und rechte Hetze Aufruf des Klassenkämpferischen Block Berlin zum 1. Mai, Infomail 1251, 16. April 2024 In den letzten Wochen fanden bundesweit zahlreiche Streiks statt, zum[...]

Lage der Klasse – Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Südamerika - Politik, Gesellschaft und Natur

Ein politisches Reisetagebuch
Südamerika: Politik, Gesellschaft und Natur
Ich reise ein Jahr durch Südamerika und versuche in dieser Zeit viel über die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch die Landschaften zu lernen und möchte euch gerne daran teilhaben lassen