Arbeiter:innenmacht

Von der SPD-Krise zur Regierungskrise?

Gruppe ArbeiterInnenmacht, 3. Juni 2019, Infomail 1057

In der Erklärung zu den katastrophalen Wahlergebnissen der SPD zur EU-Wahl und zur Wahl in Bremen hatte Andrea Nahles noch erklärt, dass es in der kommenden Woche zu schmerzhaften Entscheidungen kommen werde. Ob sie dabei schon an ihren Rücktritt von Partei- und Fraktionsvorsitz dachte, ist mehr als zweifelhaft. Der aufbrausende Unmut der GenossInnen schien sich noch durch das taktische Manöver der Neuwahl des Fraktionsvorsitzes abfangen zu lassen, wohl wissend, dass die unzufriedenen Flügel noch nicht bereit waren, personelle Gegenvorschläge zu machen. Insbesondere der „linke“ Flügel schien zu kalkulieren, dass Nahles noch die folgenden Wahldebakel in den Landtagswahlen ausbaden müsse, um dann im Zusammenhang mit der Halbzeitbilanz der „Großen Koalition“ abserviert zu werden. Tatsächlich ergab sich in der Fraktionssitzung am 29.5. aber bereits, dass Nahles selbst ohne GegenkandidatIn keine Mehrheit in der Fraktion mehr finden würde. Mit ihrem Rücktritt ist sie daher ihrer demütigenden Demontage zuvorgekommen.

Mit Nahles hat nunmehr die Einpeitscherin in der SPD für die „Große Koalition“ die Konsequenzen für diese verfehlte Politik geerntet. Nach den verheerenden Folgen der Agendapolitik, dem Co-Management während der Folgejahre der „Großen Rezession“ und der Preisgabe fast aller, sozialdemokratischer Programmpunkte wurde die SPD bei allen praktisch jeder Wahl durch Rekordniederlagen gebeutelt. Nachdem auch das kurzzeitige Gerechtigkeitsversprechen unter 100%-Schulz aufgrund von Inhaltslosigkeit rasch entzaubert war, schien mit knapp über 20% ein endgültiger Tiefpunkt erreicht worden zu sein. Unmittelbar nach den Bundestagswahlen erklärte die damalige Führung, dass sich die SPD nunmehr in der Opposition erneuern würde und man nicht mehr als Steigbügelhalter von CDU/CSU bereitstünde.

Mit dem Scheitern der „Jamaika“-Verhandlungen fing jedoch gleich wieder das Gerede von der „staatspolitischen Verantwortung“ an und die Schulz/Nahles-Führung ließ sich nicht lange bitten. Trotz erbittertem Widerstand in der Basis und einer bundesweiten No-GroKo-Kampagne um den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert warf die SPD-Vorsitzende ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um „noch einmal“ die Republik „zu retten“. Das Versprechen, sich in der Koalition „mit sozialdemokratischen Inhalten zu profilieren“ und gleichzeitig „die Partei zu erneuern“ erwies sich, wie leicht vorherzusehen war, als Quadratur des Kreises. Zwar wurden einzelne Korrekturen in Bezug auf Rente und Beitragspolitik angefangen und eine Abkehr von Hartz IV groß verkündet. Gleichzeitig strahlte das umsetzende Personal um Vizekanzler Scholz und Arbeitsminister Heil gerade den ganzen „Charme“ der Schröder’schen Agendapolitik aus. Diese Minister verkünden die „sozialdemokratischen Inhalte“ mit einem Unterton, bei dem die Ablehnung durch den Koalitionspartner eingepreist zu sein scheint.

Auf die verkündete Abkehr von Hartz IV folgte keine praktische Veränderung. Auf Bundes- wie Landesebene wurde das Sanktionsregime dieser „Arbeitsmarktreform“ weiter umgesetzt, so dass der  Bundesverfassungsgerichtshof im September 2019 entscheiden wird, welche Maßnahmen noch zulässig sind. Wohlklingende Reformen wie „Gute-KiTa-Gesetz“ oder das „Starke-Familien- Gesetz“ wurden verabschiedet – freilich ohne ausreichende Finanzierung.

Dem Nahles’schen Kurs der Erneuerung der Sozialdemokratie ausgerechnet in dieser Regierungskonstellation und mit diesem rechten Ministerteam fehlte jegliche Glaubwürdigkeit. Als Kevin Kühnert im Angesichts des Versagens kapitalistischer Märkte in Bezug auf Wohnen und auskömmliche Löhne die Frage nach Enteignung und Vergesellschaftung zumindest in die Debatte warf, reagierten die SPD-Granden wie aufgeschreckte Hühner. Eine Kapitalismusdebatte war wohl in der SPD-Erneuerung nicht vorgesehen, auch wenn sie an der Basis tatsächlich wieder eine Rolle spielt.

Angesichts der Krise des kapitalistischen Systems, der globalen Bedrohung durch ökologische Katastrophen, der radikalen Veränderungen in den Arbeits- und Lebenswelten (Digitalisierung, Abkehr von fossilen Wachstumsmodellen, neue Mobilitätsmodelle, etc.) sind speziell bei jungen Menschen, aber auch bei vielen Beschäftigten in vom Wandel betroffenen Wirtschaftsbereichen, grundlegende Debatten über radikale Antworten im Gang. Sowohl „Fridays for Future“ als auch „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ sind nur Symptome dafür. Parteien wie die SPD, die nur die Krise des bestehenden Systems verwalten, sind unfähig dazu, diese Veränderungen aufzugreifen. Sie schielen nur ängstlich auf die Rechtsentwicklung, bei der es rechten Rattenfängern gelingt, einige der Verlierer dieser Veränderungen mit nationalistischen und rassistischen Scheinlösungen zu ködern. Getrieben von der Angst vor weiteren Verlusten an die AfD, getrieben durch die standort-nationalistischen Gewerkschafts- und Betriebsratsbürokratien, schreckte die SPD-Führung vor jeglicher Linkswende zurück. Nachdem die Partei „Die Linke“ letztlich in Europa- und Rassismus- und Klimafragen ähnlich schwankend reagiert, verliert die SPD daher jetzt bei jugendlichen und progressiven Milieus massiv ausgerechnet an die Grünen. Dabei hatten die in den Jamaika-Verhandlungen (deren Neuauflage demnächst wieder drohen könnte) bereits in Sozial-, Finanz- und Umweltpolitik weitaus größere Zugeständnisse gemacht, als die SPD ihrerseits in den Koalitionsverhandlungen.

Es ist zu erwarten, dass der Unmut, der Nahles aus dem Amt gejagt hat, nicht vor Scholz und Co enden wird. Die ersten Stellungnahmen aus der SPD-„Linken“ betonen „rote Linien“ in Bezug auf Klimaschutzgesetz, Kohleausstieg, Grundrente, Artikel-13-Umsetzung etc., die in dieser Koalition kaum umsetzbar sein werden. Am 3. Juni setzte der SPD-Vorstand eine dreiköpfige „Interimsführung“ ein, um Zeit zu gewinnen, Partei und die Koalition noch bis zu den Landtagswahlen im Herbst (Thüringen, Sachsen und Brandenburg) durchzuschleppen. Will die SPD-Linke, wollen GewerkschafterInnen in der Partei noch irgendwie Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsstärke bewahren, so muss sie mit der Kampagne für ein Ende dieser Koalition beginnen und eine Urabstimmung über Führung und Kurs der Partei verlangen.

Kommissarisch in den Abgrund?

Sicherlich gibt es sowohl in der SPD wie der Union genügend „Spitzenleute“, welche die GroKo bis zum Herbst „retten“ wollen. Nützen kann eine solche Atempause allenfalls CDU/CSU. Der SPD drohen einstellige Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sowie der Verlust der Spitzenposition in Brandenburg.

In der CDU haben sich bereits erste von der Führung Merkel und Kamp-Karrenbauer distanziert, dazu gehören die Merz-„Jünger“ Mohring (CDU Chef Thüringen) und Linnemann von der Mittelstandsunion, diese sehen im Zusammenbruch der SPD vor allem die Chance Kanzlerin Merkel vor Jahresfrist loszuwerden. Allzu voll dürfen die neoliberalen und rechtskonservativen in der Union den Mund freilich nicht nehmen, droht ihrer Partei doch selbst der weitere Absturz, so dass im Falle einer Neuwahl zum Bundestag eine Koalition mit den deutlich erstarkten Grünen unvermeidlich scheint.

Sollte sich die Koalition bis zu den Landestagwahlen im Herbst durchschleppen, so dürfte mit ihr danach endgültig Schluss sein. Die SPD wäre noch schwächer und diskreditierter als jetzt, zumal in den ostdeutschen Bundesländern neben der, von den Grünen besetzte Klimapolitik, vor allem der AfD-Rassismus den Wahlkampf bestimmen wird. Die SPD sitzt in allen Ländern (noch) in der Regierung, setzt brav den staatlichen Rassismus in der Abschiebepolitik um und will gleichzeitig auch ein „bisschen“ Bollwerk gegen rechts spielen. Katastrophale Ergebnisse sind vorprogrammiert.

Alle Beteiligten werden nicht müde, die Regierungsverantwortung hoch zu hängen. Schließlich brauche Deutschland eine stabile Regierung. Auf EU-Ebene werden in den nächsten Wochen der Vorsitz der Kommission wie auch die Agenda für die nächsten 5 Jahre verhandelt. Ein tiefe Regierungskrise und mögliche Neuwahlen sind das letzte, das der deutsche Imperialismus kurzfristig braucht. Daher lobt Merkel die ehemalige SPD-Vorsitzende Nahles über den grünen Klee und die CDU/CSU wird nicht müde, eine Fortsetzung der konstruktiven Zusammenarbeit anzumahnen. Eine solche „Verantwortungslosigkeit“ und eine Stärkung der imperialistischen Konkurrenz will sich die SPD-Sitze nicht vorwerfen lassen, vor allem aber will kein Flügel der Partei unmittelbar die Verantwortung für einen Kurswechsel – und damit die Schuld am wahrscheinlichen Wahldebakel im Herbst – übernehmen. Auch deshalb versucht die Partei zumindest kommissarisch den Eindruck von „Stabilität“ zu erwecken.

Weder der Partei- noch Fraktionsvorsitz soll neu gewählt werden. Vielmehr soll alles „kommissarisch“ weiter verwaltet werden. Der dienstälteste SPD-Bundestagsabgeordnete und bisherige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Mützenich soll bis zum September kommissarisch die Fraktion führen.

Die Position der/des Vorsitzenden der Partei soll bis Ende des Jahres vom einem Trio ausgefüllt werden, dem Hessischen SPD-Chef Schäfer-Gümbel und den beiden Ministerpräsidentinnen Dreyer und Schwesig. Ob die drei wirklich bis Ende 2019 „kommissarisch“ die Parteispitze stehen ist fraglich. Schon jetzt lassen Stimmen aus Nordrhein-Westfalen und Bayern per Pressemeldungen verlauten, dass sie einen Parteitag für den Herbst vorschlagen. In jedem Fall erscheint es unmöglich, dass sich auf einem SPD-Parteitag eine Mehrheit für die Fortsetzung der Regierungskoalition finden ließe.

Die „Übergangsführung“ wie auch die DGB-Führung werden wohl zwei Gesetzentwürfe als Bedingung für die Fortsetzung der Großen Koalition nennen – Grundrente und Klimaschutzgesetz. Beides wird allenfalls bis zur Unkenntlichkeit verwässert durch die Koalitionsmühlen kommen – aber die Verhandlungen und sich leicht über die Sommerpause ziehen. Die SPD-Führung kann so tun, als würde sie etwas tun.

Brecht mit der Großen Koalition – jetzt!

Der Umbruch in der SPD-Spitze und die Krise der Partei müssen genutzt werden, um die weiterhin verbliebene ArbeiterInnenbasis dieser Partei gegen die Koalitionspolitik, gegen das „Weiter so“ zu mobilisieren. RevolutionärInnen sollten jeden echten Schritt in diese Richtung unterstützen – ohne das zaghafte reformistische Programm der SPD-Linken zu unterstützen und ohne ihre Kritik am noch zaghaftern Vorgehen dieser Strömung zurückzustellen. Durch diese Taktik wäre es möglich, den inneren Konflikt weiter zuzuspitzen, ArbeiterInnen und Jugendliche für ein wirklich sozialistisches Projekt, also den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei zu gewinnen, die die elementaren Interessen der Lohnabhängigen ins Zentrum ihrer Politik rückt.

Die SPD-Linken, kämpferische GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen müssen den sofortigen Bruch mit der „Großen Koalition“ fordern. Nahles Rücktritt darf keine Verlängerung der Politik bedeuten, für die sie und die MinisterInnenriege der Partei standen. Forderungen wie die nach einer Urabstimmung und der Einberufung eines Parteitages können Mittel sein, das Ende der GroKo herbeizuführen und die Mitglieder der SPD und der Jusos dafür zu mobilisieren. Dasselbe gilt für die Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften. Der Flügelkampf muss offen geführt werden – nicht bloß in den Vorstandetagen und mit tausend „Kompromisslinien“. Ansonsten verbleibt SPD-„Linke“ nur, was sie schon seit Bildung der Gro-Ko war: eine linke Flankendeckung des Apparates, der Koalitions“profis“ um Finanzminister Scholz und eine Erfüllungshilfen der CDU/CSU-geführten Regierung Merkel.

Seit Beginn findet sich die Große Koalition in einer Dauerkrise. Besonders die SPD musste ihr Personal öfter austauschen, befindet sich auf einem Weg der immer mehr die Züge der französischen PS aufzeigt, aus der Regierung in die mögliche Bedeutungslosigkeit. Jeder weitere Tag, den sie an der Regierung festhält, bringt sie dieser Entwicklung näher. Umgekehrt könnte ein Bruch der Großen Koalition auch die Deutschland die politischen Karten neu mischen. Die Krise der SPD, die Abrechung mit der verheerenden Politik ihrer Führung wirft auch die Frage nach einer politischen Alternative, nach einer klassenkämpferischen Antworten auf: nach dem gemeinsamen Kampf für bezahlbaren Wohnraum, für Mindestlöhne und Mindestrenten von 1600 Euro/Monat netto, für eine gute Infrastruktur, für mehr Klima und Umweltschutz, gegen Rassismus, für offene Grenzen und volle StaatsbürgerInnenrecht. Für alle KoalitionskritikerInnen in der SPD, für alle unzufriedenen SozialdemokratInnen muss das Gebot der Stunde lauten: Kündigt der GroKo die Gefolgschaft auf, fordert den sofortigen Bruch mit der Koalitionspolitik, lasst und gemeinsam gegen die Überreste der Regierung Merkel kämpfen!

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