Arbeiter:innenmacht

China: Tian’anmen, 30 Jahre danach

Peter Main, Infomail 1057, 3. Juni 2019

In den frühen Morgenstunden des 4. Juni 1989 stießen Panzer und Infanterie der Volksbefreiungsarmee auf den riesigen Platz des Himmlischen Friedens vor, der vor der „Verbotenen Stadt“ Pekings, dem Regierungssitz, liegt. Der Platz selbst wurde von zehntausenden AnhängerInnen der „Demokratiebewegung“ besetzt, hauptsächlich von StudentInnen, die dort mehrere Wochen lang campiert hatten. Die Panzer stoppten ihren Vormarsch nicht, ihre Spurketten zerstörten die Zelte und überrollten viele, die nicht entkommen konnten. Viele weitere starben, als Truppen das Feuer direkt in die Menge eröffneten.

Als sich die Nachricht vom Massaker von Tian’anmen verbreitete, formierten sich Proteste von Millionen in allen großen Städten Chinas. Generalstreiks brachten einen Großteil des Landes zum Erliegen. Das Kriegsrecht, das am 18. Mai in Peking verkündet wurde, wurde auf das gesamte Land ausgedehnt, und alle Mobilisierungen wurden so grausam unterdrückt wie in der Hauptstadt. Im Juli war jeglicher Widerstand gebrochen. Die verbleibende Aktivität beschränkte sich auf das Verstecken von AktivistInnen und den Versuch, die Toten und die Vermissten zu dokumentieren.

Vorgeschichte

Die Bewegung, die so blutig endete, besaß ihre Vorläuferin in der Mobilisierung der „Mauer der Demokratie“ ein Jahrzehnt zuvor. So wie diese spiegelte sie eine Spaltung in der Führung der Kommunistischen Partei Chinas, KPCh, in der Wirtschaftspolitik wider. 1978 endete die Debatte mit dem Sieg der Vorschläge von Deng Xiaoping, das Wachstum durch „Marktreformen“ des Systems der staatlichen Planung zu stimulieren. Bis Mitte der 1980er Jahre hatten diese jedoch widersprüchliche Ergebnisse erbracht. Die Wiedereinführung der privaten Landwirtschaft hatte die Jahresproduktion um bis zu 13 Prozent erhöht und das Wachstum der privaten Leichtindustrie angefacht, aber eine erhöhte Autonomie der Leitung in der staatlichen Industrie hatte keine nennenswerte Entwicklung gebracht.

Die Debatte darüber, wie dieser Widerspruch gelöst werden konnte, hatte nicht nur die FührerInnen der KP Chinas beschäftigt. In den Universitäten und den Ministerien gerieten ExpertInnen, von denen einige an „westlichen“ Universitäten studieren durften, über das weitere Vorgehen in Streit. Solche Argumente fanden natürlich ihren Weg in die Zeitschriften und damit in die Hörsäle und Seminarräume. Hu Yaobang, der Generalsekretär der KP Chinas, ermutigte solche Debatten und machte deutlich, dass er nicht nur mehr „vermarktende“ Reformen, sondern auch eine politische Entspannung befürwortete.

Im Januar 1987 wurde Hu durch Zhao Ziyang ersetzt, aber dies führte nicht zu einer sofortigen Änderung der Politik. Im September 1988, als sich die Parteiführung nicht auf eine Preisreform einigen konnte, wurde die Situation noch verschärft. Diese Lähmung auf höchster Ebene konnte nicht öffentlich gemacht werden, aber sie war hinreichend bekannt, insbesondere unter der Intelligenz.

Was das Thema in die Öffentlichkeit brachte und die Demokratiebewegung auslöste, war der Tod von Hu Yaobang bzw. seine Beerdigung im April 1989. Die Beisetzung eines hochrangigen Parteivorsitzenden war eine öffentliche Veranstaltung, die jedoch vor allem für StudentInnen zu einer Gelegenheit wurde zu demonstrieren, und die Unterstützung eines Mann zum Ausdruck zu bringen, der sich für politische Debatten und sogar Pluralismus eingesetzt hatte. Es wurden Forderungen nach einer freien Presse, nach Maßnahmen gegen korrupte BeamtInnen und nach der Anerkennung unabhängiger studentischer Organisationen laut. Die Demos wurden von den Pekinger EinwohnerInnen begeistert angefeuert, und dies sorgte, gepaart mit der offiziellen Trauer um Hu, für das Ausbleiben von Repression.

Ausweitung und Besetzung

Ermutigt durch diese Erfahrung riefen die StudentInnen eine Demonstration zum Gedenken an die „Bewegung des vierten Mai“ von 1919 aus (Proteste gegen den Versailler Vertrag, der China nicht die Aufhebung der „Ungleichen Verträge“ und 21 Forderungen Japans brachte). Zehntausende folgten dem Aufruf und die Demonstration betrat den Platz des Himmlischen Friedens ohne die erwartete offizielle Opposition. Mehr noch, Zhao Ziyang selbst erklärte öffentlich, dass vieles, was die StudentInnen wollten, im Einklang mit der Parteipolitik stand.

Nichtsdestotrotz änderte sich nichts und die StudentInnen beschlossen, weitere Demonstrationen zu veranstalten, um den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow am 15. Mai zu begrüßen. Gorbatschow selbst wurde mit der Einführung von „Glasnost“ und „Perestroika“, Offenheit und Umbau in der Sowjetunion in Verbindung gebracht, und die Botschaft der StudentInnen an die KPCh-Führung hätte kaum deutlicher sein können.

Die Menschenmassen auf dem Platz des Himmlischen Friedens waren so groß, dass Gorbatschow durch einen Seiteneingang ungesehen in die Verbotene Stadt gebracht werden musste. Nun begann die dauerhafte Besetzung des Platzes. Hunderte von StudentInnen begannen einen Hungerstreik, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Drei Tage später lehnte der Ständige Ausschuss des Politbüros, die tägliche Führung der Partei, Zhaos Vorschlag für Konzessionen an einige der Forderungen der StudentInnen ab. Nachdem er diese besucht hatte, wurde er aus dem Amt entfernt und am nächsten Tag erklärte Li Peng, der Premierminister, in Peking das Kriegsrecht.

Die sofortige Reaktion war ein massiver Protest der Pekinger Einwohnerschaft. Mehr als eine Million Menschen besetzten nun den Platz. Streiks lähmten die ganze Stadt und verhinderten, dass Truppen das Zentrum erreichten. Am Abend wurde die Organisation Autonomer ArbeiterInnen Pekings gegründet. Zwei Wochen lang hielt diese Situation an. Außerhalb von Peking wuchs die Demokratiebewegung in den Provinzstädten, und viele beschlossen, Delegationen von StudentInnen und ArbeiterInnen in die Hauptstadt zu entsenden.

Es war ihre Ankunft auf dem Platz des Himmlischen Friedens, verbunden mit der zunehmenden Verbrüderung zwischen lokalen Garnisonstruppen und den DemonstrantInnen, die Deng, den „obersten Führer“, davon überzeugten, dass die gesamte Bewegung endgültig gestoppt werden musste. Ende Mai gab es einen separaten und ganz eigenen „ArbeiterInnenabschnitt“, der die nordwestliche Ecke des Platzes einnahm. Das erste Zeichen dessen, was kommen sollte, war die gewaltsame Verhaftung der FührerInnen der Autonomen ArbeiterInnenorganisation am 31. Mai. In den nächsten zwei Tagen brachen wiederholte Versuche, das Zentrum Pekings mit unbewaffneten Truppen zu besetzen, angesichts der Verbrüderung zusammen. Inzwischen waren jedoch Truppen aus fernen Provinzgarnisonen in der Hauptstadt angekommen, die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni zur Räumung des Platzes eingesetzt wurden.

Charakter des Massakers

Damals und seither haben die FührerInnen der KP Chinas das Massaker von Tian’anmen als notwendige Unterdrückung eines „konterrevolutionären Aufstands“ gerechtfertigt. Dass es sich nicht um einen Aufstand handelte, geht aus dem Charakter der Ereignisse hervor: Kein Aufstand dauert mehr als einen Monat und beinhaltet Aktionen in jeder Großstadt. Aber war die Bewegung konterrevolutionär? Für MarxistInnen, und die FührerInnen der KPCh sagen, dass sie MarxistInnen sind, würde das einen bewussten Versuch bedeuten, den Kapitalismus in China wiederherzustellen, d. h. das Planungssystem zu demontieren, das staatliche Außenhandelsmonopol abzuschaffen und das staatliche Eigentum zu privatisieren.

Keine dieser Maßnahmen stand in den Forderungen der Demokratiebewegung, die sich stattdessen auf demokratische Rechte konzentrierte: Pressefreiheit; Versammlungsfreiheit; für ein pluralistisches politisches System; das Recht, Organisationen wie Gewerkschaften und studentische Verbände zu bilden. Darüber hinaus beschränkte sich die Bewegung, weit vom Versuch entfernt, den Staatsapparat zu stürzen, darauf, diesen Apparat aufzufordern, diese Rechte als Reformen einzuführen. Höchstens war dies eine massenhafte, radikale, demokratische Protestbewegung.

Mit der Gründung von proletarischen Organisationen wie der Autonomen ArbeiterInnenorganisation in Peking, der Verbrüderung mit den SoldatInnen und der Spaltung in der Führung der herrschenden Partei verfügte die Bewegung sicherlich über das Potenzial, sich zu einer Revolution gegen die Parteidiktatur zu entwickeln, die wir als politische Revolution bezeichnen würden, die die bestehenden planwirtschaftlichen Strukturen zwar massiv von unten reformieren, aber nicht zerschlagen und durch kapitalistische ersetzen würde. Das wäre vergleichbar gewesen mit den vielen Revolutionen der „Volksmacht“, die wir gegen Diktaturen in kapitalistischen Ländern erlebt haben, die auch den kapitalistischen Charakter der Wirtschaften unbeeinträchtigt ließen. Allerdings wurde die Bewegung in China in Blut ertränkt, bevor sie dieses Potenzial entwickeln konnte.

Konterrevolutionäre Politik der KPCh

Zu beachten ist, dass Deng Xiaoping, derselbe „oberste Führer“ der KPCh, 1992 selbst den Abbau des Planungssystems, die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols und die Privatisierung und Trustbildung eines Großteils der staatlichen Industrie vorgeschlagen hat. Um das Funktionieren des neuen Systems sicherzustellen, hat das Regime auch das Recht der ArbeiterInnen auf Arbeit, Wohnung, Krankenversicherung und Bildung für ihre Kinder abgeschafft. So waren es die Führung und der Apparat der Kommunistischen Partei Chinas, die die wirklich konterrevolutionäre Kraft verkörperten, und sie konnten nur ihre Wiederbelebung des Kapitalismus vollenden, weil sie auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Fähigkeit der ArbeiterInnenklasse, sich selbst und ihre Interessen zu verteidigen, zerstörte.

Bis zum heutigen Tag wird die Partei keine erneute Bewertung der Ereignisse von 1989 zulassen. Das mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen: Der durch die „Kulturrevolution“ verursachte Schaden wurde kritisiert, und selbst Mao Zedong wird als „fehlerhaft“ eingestuft. Der Punkt ist, dass es sich dabei um interne Streitigkeiten innerhalb des bürokratischen Apparats handelte, auf dem die Partei beruht, und die „Neubewertungen“ wurden von der siegreichen Fraktion vorgenommen. Die Demokratiebewegung konnte aufgrund der Spaltungen innerhalb der Bürokratie zu einem landesweiten Ausmaß wachsen, war aber als Bewegung eine Bedrohung für die gesamte Parteidiktatur. Daher würde alles andere als eine vollständige Verurteilung die Leugnung der „führenden Rolle der Partei“ bedeuten.

Die anhaltende Feindseligkeit der bürokratischen Partei gegenüber demokratischen Beschränkungen ihrer eigenen Macht zeigt sich deutlich an ihrer brutalen Unterdrückung nationaler Minderheiten wie der Uiguren von Xinjiang, der stetigen Erosion der BürgerInnenrechte in Hongkong und dem Einsatz modernster Technologien zur Überwachung der gesamten Bevölkerung, ohne dass diese Zugang zu Informationen erhält. Diese Maßnahmen selbst garantieren praktisch, dass demokratische Forderungen in jeder zukünftigen Massenbewegung eine zentrale Rolle spielen werden.

Es gilt jedoch noch eine weitere Lektion zu ziehen. Die bürokratische Diktatur stellte den Kapitalismus wieder her, um ihre eigene Herrschaft zu bewahren, als ihre Kontrolle der Wirtschaftsplanung Wachstumsraten gegen Null erzielte. So wie sie kein grundlegendes Engagement für die Planwirtschaft zeigte, so verfügt sie auch über keins für das spontane Funktionieren des kapitalistischen Wettbewerbs, ganz zu schweigen von den demokratischen politischen Institutionen, die manchmal mit dem Kapitalismus verbunden sind. Dies eröffnet die Möglichkeit von Interessenkonflikten zwischen der Bürokratie und der KapitalistInnenklasse, die sie ins Leben gerufen hat. Bislang haben sich Chinas KapitalistInnen damit begnügt, die bürokratische Herrschaft zu akzeptieren, weil sie Gewinne garantierte, aber mit der Entstehung von global bedeutsamem Kapital könnte sich dies mit der Zeit ändern.

Unter dem Druck des verlangsamten Wirtschaftswachstums und des Handelskrieges von Trump wird die Annahme in Frage gestellt, dass die Partei die Garantin für soziale Stabilität ist, auch von denen, die in der Vergangenheit davon profitiert haben. In einem solchen Szenario sollte die ArbeiterInnenbewegung, die bereits existiert, der aber alle Rechte verwehrt werden, ihr großes soziales Gewicht in den Kampf für demokratische Forderungen einbringen. Wie 1989 könnte eine solche Bewegung sehr schnell auf nationaler Ebene wachsen. Ihr Erfolg wird davon abhängen, ob die ArbeiterInnenklasse ihre eigenen Organisationen bildet, vor allem eine politische Partei, die von allen Fraktionen der Bürokratie und allen Strömungen innerhalb der KapitalistInnenklasse unabhängig ist. Ihr Ziel sollte der Sturz des gesamten Systems der bürokratischen Diktatur und ihre Ersetzung durch eine ArbeiterInnenregierung sein, die auf den Kampforganisationen der ArbeiterInnenklasse basiert und ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

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