Jaqueline Katherina Singh, Gruppe Arbeiter:innenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 13, März 2025
Gisèle Pelicot ist kaum aus den Schlagzeilen verschwunden, schon dominierte Gaiman die Debatte. Skandale, die nur die Spitze des Eisbergs darstellen, denn sexuelle Gewalt durchzieht unsere Gesellschaft. Sie ist schlichtweg normaler Alltag. Doch auch wenn es seit #MeToo zumindest einen verstärkten medialen Fokus gibt, so besteht das Schweigen oftmals weiter. Aus Angst vor öffentlicher Stigmatisierung, Retraumatisierung und weiterer Gewalt bringen die wenigsten Betroffenen ihre Täter vor Gericht. Und selbst wenn – die meisten kommen ungeschoren davon. Beweise fehlen, der Staat definiert Gewalt anders als die Betroffenen oder der Richterstuhl ist mit einem weißen, männlichen Täterschützer besetzt. Es zeigt sich: Der bürgerliche Staat ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. In Deutschland zeigen nach Untersuchungen des Kriminologen Christian Pfeiffer nur 15 % der betroffenen Frauen eine Vergewaltigung an – am Ende werden gerade einmal 7,5 % der Täter verurteilt (1). Ein Skandal. Das wirft unmittelbar die Fragen auf: Wie gehen wir mit Tätern um? Und wie kämpfen wir gegen sexuelle Gewalt?
Die Debatte teilt dabei mehrere Lager: Ein Teil des bürgerlichen Feminismus steht für härtere Strafen ein, teilweise mittels rassistischer Argumentationen wie durch Alice Schwarzer, oder betreibt Lobby- und Bildungsarbeit, ohne dabei die Frage aufzuwerfen, woher die sexuelle Gewalt eigentlich kommt, die man versucht einzudämmen. Ein anderer, wesentlich kleinerer Teil innerhalb der radikalen Linken bringt Argumente für einen alternativen Ansatz zum Umgang mit Gewalt und Verbrechen hervor – Transformative Justice (TJ) statt Strafe und Freiheitsentzug.
Mit diesem Konzept wollen wir uns in dem Artikel schwerpunktmäßig auseinandersetzen, da wir bereits an anderer Stelle aufgezeigt haben, was der Ursprung von Gewalt gegen Frauen ist (2) oder wie wir uns zu Fragen der Definitionsmacht (3) positionieren. Wichtig dabei zu verstehen ist, dass sowohl Restorative als auch Transformative Justice Konzepte sind, die weit über sexuelle Gewalt hinausgehen. Dabei können wir viele wichtige Themen wie Abolitionismus, die Entstehung von Gefängnissen, Definitionsmacht etc. oftmals nur streifen und in Kürze den Ursprung der Transformative Justice aufzeigen, denn der Schwerpunkt soll darauf liegen, TJ aus marxistischer Perspektive zu beleuchten. Dabei wechseln wir zwischen zwei Ebenen: der gesamtgesellschaftlichen und der Bedeutung für das Organisatorische, denn der Kampf gegen sexuelle Gewalt ist keine Frage, die wir auf „morgen“ vertagen wollen.
Der moderne Restorative-Justice-(RJ)Begriff wurde zuerst vom Psychologen Albert Eglash in den 1950er Jahren verwendet, der ihn lediglich nutzte, um eine Unterscheidung unterschiedlicher Gerechtigkeitsverständnisse zu unternehmen. In den 1970er Jahren begann dann die mennonitische Kirche in Kanada, Konzepte von RJ zu entwickeln. Basierend auf religiösen Prinzipien von Vergebung, Versöhnung und Wiedergutmachung wurde RJ vor allem in praktischen Kontexten wie Konfliktbewältigung oder Jugendstrafrecht eingesetzt. Theoretische Schlüsselfigur war dabei vor allem Howard Zehr, der als „Vater der modernen Restorative Justice“ angesehen wird durch sein Buch „Changing Lenses: A New Focus for Crime and Justice“ (4). In diesem beschreibt er mehrere Grundsätze der „Restorative Justice Lens“, einen Perspektivwechsel, bei dem der Fokus auf den Schaden und die Wiederherstellung von Beziehungen gelegt wird statt auf Bestrafung sowie auf Praktiken wie Opfertätergespräche (Victim-Offender Mediation).
Auch wenn es unterschiedliche Ansätze gibt, Restorative Justice zu theoretisieren, so ist ihnen allen gemein, dass sie sich an indigenen oder religiösen Traditionen orientieren, die Versöhnung, Wiedergutmachung und Gemeinschaftsstärkung betonen. Insbesondere Elemente indigener Traditionen wie Talking Circles wurden übernommen. Populär wurde der Ansatz dabei aus zweierlei Gründen. Erstens knüpften Aktivist:innen aus dem Bereich der Opferrechtsbewegung daran an, die das Strafsystem revolutionieren wollten und das bestehende infrage stellten. Auf der anderen Seite lässt sich verzeichnen, dass in vielen (westlichen) Ländern im Rahmen der neoliberalen Sparmaßnahmen die Zahl der Inhaftierten zum einen anstieg, zum anderen aber die Gefängnisse selbst überlastet waren und sparen mussten. RJ wurde als kostengünstige Alternative präsentiert, die vor allem damit beworben wurde, dass durch die „Stärkung sozialer Bindungen“ die Rückfälligkeitsrate gemindert würde.
Diese Reintegration in staatliche Strukturen führte mitunter zur Entstehung der Transformative Justice. Zeitlich überschneiden sich die Entstehungszeiträume, die Wurzeln von TJ liegen aber im „radikaleren“ Teil der sozialen Bewegung der 1970er und 1980er Jahre, insbesondere in feministischen, antirassistischen und abolitionistischen Strömungen in den USA und Kanada. Viele der Praktiken von TJ entstanden dabei aus der Arbeit von Aktivist:innen und Basisorganisationen, bevor sie in der akademischen Theorie auftauchten. So stützten sich Initiativen gegen häusliche und sexuelle Gewalt in den 1980er und 1990er Jahren auf TJ-Prinzipien, ohne dass dieser Begriff verwendet wurde bei Women against Rape oder INCITE! Women of Color Against Violence.
Die Quäkerin Ruth Morris war eine der ersten, die den Begriff „Transformative Justice“ explizit nutzte und ein umfassendes theoretisches Modell zu entwickeln versuchte. In ihrem Buch „Stories of Transformative Justice“ (5) machte sie den Begriff populär. Sie verband das Konzept mit abolitionistischen Ideen und forderte grundlegende Veränderungen der Gesellschaft statt bloßer Wiedergutmachung. Andere Organisationen, die als Pionierinnen gelten, sind Generation Five und Philly Stands UP. Die meisten Aktiven waren nichtweiße Frauen, denen aus eigener Erfahrung oder der ihrer Community der rassistische Charakter der Polizei bewusst war. Wenn der Ruf nach der Polizei dafür sorgt, dass Beteiligte ermordet oder überproportional kriminalisiert werden, so ist es schlichtweg keine Lösung, auf sie zu vertrauen. Das ist keine Frage der Befindlichkeit, sondern eine des Überlebens, und das gilt es im Folgenden, im Hinterkopf zu behalten.
Nichtsdestotrotz ist TJ ein relativ loses Konzept. Ruth Morris hält im ersten Kapitel ihres Buches Stories of Transformative Justice ähnlich wie Zehr fest, dass unser aktuelles Gerichtssystem ein retributives, auf Vergeltung zielendes ist, das sich auf zwei Fragen konzentriert: Wer hat es getan? Und wie können wir die Person bestrafen? Dabei stimmt sie Zehr in dem Punkt zu, dass wir die wahren Bedürfnisse der Betroffenen ignorieren und verpassen, die wichtigste Frage zu stellen: Wer wurde verletzt – und wie können wir sie heilen? Gleichzeitig stellt sie jedoch auch fest: „Aber selbst die restorative justice geht nicht weit genug. […] Sie akzeptiert immer noch die Idee, dass ein Ereignis nun alles definiert, was richtig und falsch ist – sie lässt die Vergangenheit und die sozialen Ursachen aller Ereignisse außer Acht.“ (6)
Und weiter: „Transformative Gerechtigkeit (transformative justice) berücksichtigt die Vergangenheit und erkennt ungerechte Verteilung an. Wir leben in einer Welt, in der der CEO von Disney Enterprises, Michael Eisner, eine Vergütung von über 575 Millionen US-Dollar pro Jahr erhält, während 1.200 Arbeiter:innen in einer Fabrik in Vietnam, die Werbegeschenke von Disney herstellen, sechs bis acht Cent pro Stunde verdienen. 200 von ihnen erkrankten 1997 an giftigen Lösungsmitteln, schlechter Belüftung und Erschöpfung. Wir leben in einer Welt, in der 450 Milliardär:innen über so viel von den Gütern der Welt verfügen wie die ärmsten 50 Prozent der gesamten Weltbevölkerung. […] Es geht nicht darum, dass Straßenkriminalität und Diebstahl (die vorherrschenden Arten, die unsere Gerichte und Gefängnisse füllen) trivial oder zu rechtfertigen sind, sondern dass sie Teil eines viel umfassenderen Bildes sind.“ (7)
Kurzum: Ihre Kritik an dem Konzept der Restorative Justice ist, dass es die strukturelle Ungleichheit, die das kapitalistische System kreiert, außer Acht lässt – und deswegen teilweise auch unzureichende Antworten geben muss, wenn es um Wiedergutmachung/Heilung geht. In der Praxis sehen die Unterschiede und unterschiedlichen Fragestellungen, die den jeweiligen Konzepten zugrunde liegen, ungefähr so aus.
Restorative Justice | Transformative Justice |
Wer wurde verletzt? Welche Verantwortung hat der Täter? Wie kann der Schaden wiedergutgemacht werden? Wie können die Beziehungen zwischen den Beteiligten wiederhergestellt werden? Welche Rolle spielt die Gemeinschaft in der Heilung? | Warum ist das passiert? Welche Machtverhältnisse haben den Konflikt ermöglicht? Wie können wir zukünftige Gewalt verhindern? Welche Bedürfnisse haben alle Beteiligten, einschließlich der Gemeinschaft? Welche Strukturen müssen verändert oder neu geschaffen werden? Wie können wir auch in einem feindlichen System (z. B. Polizei, Gefängnisse) unabhängig arbeiten? |
Auf der Website Transformharm wird an der Stelle diese Zusammenfassung gegeben:
„Transformative Gerechtigkeit und Interventionen sind (1) nicht vom Staat abhängig (z. B. Polizei, Gefängnisse, das Strafrechtssystem, I.C.E., das Pflegefamiliensystem (obwohl einige TJ-Reaktionen auf soziale Dienste wie Beratung angewiesen sind oder diese einbeziehen)), (2) verstärken keine Gewalt wie unterdrückerische Normen oder Selbstjustiz und halten diese nicht aufrecht; und fördern (3) vor allem die Dinge aktiv, von denen wir wissen, dass sie Gewalt verhindern, wie Heilung, Verantwortlichkeit, Widerstandsfähigkeit und Sicherheit für alle Beteiligten.“ (8)
Doch was bedeutet das eigentlich in der Praxis? Aus dem Buch „We Do This Till We Free Us: Abolitionist Organizing and Transforming Justice“ (9), welches Mariame Kaba 2021 veröffentlichte, geht hervor, dass im Zentrum von TJ nicht individuelle Heilung oder das eigene gute Gefühl stehen sollen, sondern die Frage, was es braucht, um gesellschaftliche Veränderungen zu erzeugen. So wirkt TJ auf zwei Ebenen, die auch miteinander verbunden werden können. Es sind nicht immer 1:1-Gesprächskreise, in denen versucht wird, das Geschehene zwischen Täter und Betroffener aufzuarbeiten, sondern es nimmt eher die Form gesellschaftlicher Kampagnen an, bei denen beispielsweise Betroffene von Folter durch die Chicagoer Polizei erfolgreich für Anerkennung ihres Leids und Entschädigung kämpfen. In der Praxis bedeutet das, dass Transformative-Justice-Prozesse deswegen auch notwendigerweise von Community-Accountability begleitet werden, was schlichtweg bedeutet, dass eine kollektive Struktur aufgebaut wird, um gemeinsam Prozessverantwortung zu übernehmen, Sicherheit zu schaffen und Gewalt langfristig zu verhindern.
Restorative und transformative Justice halten somit richtigerweise fest, dass die kapitalistische Gerichtsbarkeit unzulänglich ist, Betroffenen nicht hilft und – im Falle der TJ – auch soziale Unterdrückung reproduziert. Gleichzeitig wird der Ursprung dieser Ungerechtigkeit kaum theoretisch behandelt oder analysiert. So verbleibt Morris bei der Beantwortung der Frage, was am aktuellen System falsch ist, bei reinen Oberflächlichkeiten. Sie zählt auf, dass das Gefängnissystem teuer, ungerecht und unmoralisch sei und darüber hinaus seine Aufgaben nicht erfülle (S. 6–8).
Als Lösungsansatz werden deswegen bei RJ und TJ Elemente von indigenen Kulturen aufgenommen. Das heißt: Ein Element aus einer anderen Produktionsweise wird versucht, in ein Justiz- und Strafsystem zu integrieren, das auf der kapitalistischen Produktionsweise fußt. Die Frage, welchen Sinn und Zweck das Justizsystem im Kapitalismus hat, wird nicht oder nur begrenzt und unzureichend beantwortet. Das führt zu mehreren Problemen: Wenn wir nicht verstehen, was die Grundlage des Rechts im Kapitalismus ist, können wir nicht begreifen, warum es so ist, wie es ist, und wie es mit der gesellschaftlichen Basis verbunden ist. Folglich können wir auch nicht verstehen, ob und wie es abgeschafft werden kann und welche die Voraussetzungen dafür wären. Oftmals scheint es bei TJ – ähnlich wie bei den Diskussionen zu Abolition –, dass der bürgerliche Staat, seine Justiz und sein Gewaltmonopol voneinander isolierte Dinge wären. Wie sie mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden sind, bleibt nicht nur unklar. Im Gegenteil, es scheint, als könnte ein System der allgemeinen Warenproduktion neben einem „anderen“ Justizsystem existieren, als könnten das bürgerliche Recht und der bürgerliche Staat abgeschafft werden, ohne seine ökonomischen Grundlagen aufzuheben. Für Marxist:innen ist dies eine unzureichende Basis, ja, sie verweist auf den letztlich utopischen und kleinbürgerlichen Klassencharakter dieser Theorien.
Eine umfassende und detaillierte Darstellung wird an dieser Stelle nicht möglich sein. Dennoch wollen wir ein paar allgemeine Punkte, basierend auf den Ausführungen von Marx und Paschukanis, einem marxistischen Rechtstheoretiker und Bolschewisten, der 1937 unter dem Stalinismus exekutiert wurde, aufzeigen, um folgende Fragen zu klären: Welche Rolle spielt „Recht“ in der bürgerlichen Gesellschaft? Und worauf basiert die Idee der Bestrafung überhaupt?
Die kapitalistische Produktionsweise ist verallgemeinerte Warenproduktion. Somit rückt das Verständnis der Ware ins Zentrum der Gesellschaft und der Gesellschaftstheorie, in der alle Elemente der kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse konzentriert sind. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass in der allgemeinen marxistischen Rechtstheorie das Wesen der Ware auch Schlüssel zum Verständnis für das des Rechtes ist. Das Juristische, also das Rechtsverhältnis, ist der Ort der Gleichheit und für das reibungslose Funktionieren des Marktes als Ort des Warentauschs unerlässlich. So schreibt Marx im zweiten Kapitel des Kapitals „Der Austauschprozess“:
„Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig ist, kann er Gewalt brauchen, in anderen Worten: sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so dass der eine nur mit dem Willen des andern, also jeder nur vermittelst eines, beider gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigene veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen.“ (10)
Aus diesem Verhältnis erwächst dann das Recht. Dies ist jedoch nur eine Reflexion der tatsächlichen wirtschaftlichen Beziehung beider „Hüter“. Es ist das wirtschaftliche Verhältnis, das den Gegenstand eines jeden solchen Rechtsaktes bestimmt. So schreibt Marx weiter:
„Dieses Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt.“ Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. „Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (11)
In seinem Werk „Grundrisse“ erklärt Marx dabei, dass das Rechtsverhältnis in der Regel auf dem Prinzip der Äquivalenz, also der Gleichheit, beruht. Wenn der Warenbesitzer mit Rechtssubjektivität ausgestattet ist, muss er dem anderen als formal Gleicher gegenübertreten. Ebenso, und das ist der zentrale Punkt, ist die Verrechtlichung die Trennlinie zwischen Austausch und gewaltsamer Aneignung. In der bürgerlichen Gesellschaft entledigt sich jeder seines Eigentums aus freien Stücken, man eignet sich die Ware (in der Regel) nicht mit Gewalt an, sondern erkennt sich als Eigentümer an, deren Wille ihre Waren durchdringt. Die Verrechtlichung, also Umwandlung menschlicher Beziehungen in Rechtsbeziehungen, geht weltgeschichtlich einher mit der Kommodifizierung („Zur-Ware-Werden“), der Umwandlung der Produkte menschlicher Arbeit in Tauschwerte. Dies ist aus mehreren Gründen wichtig:
Einerseits brachte sie eine Säkularisierung des Rechts für die gesamte Gesellschaft mit sich, wie Engels im Artikel „Juristen-Sozialismus” herausarbeitet. So schreibt er:
„Die religiöse Fahne flatterte zum letzten Mal in England im 17. Jahrhundert, und kaum fünfzig Jahre später trat in Frankreich die neue Weltanschauung ungeschminkt auf, die die klassische der Bourgeoisie werden sollte, die juristische Weltanschauung.“
Sie war eine Verweltlichung der theologischen. An die Stelle des Dogmas, des göttlichen Rechts trat das menschliche Recht, an die der Kirche der Staat. „Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die man sich früher, weil von der Kirche sanktioniert, als durch die Kirche und das Dogma geschaffen vorgestellt hatte, stellte man sich jetzt vor als auf das Recht begründet und durch den Staat geschaffen.“ (12)
Dies stellt im Vergleich zur vorherigen Organisation einen Fortschritt dar, da mit der Säkularisierung eine Verallgemeinerung des Rechtssystems möglich wurde und Urteile basierend auf theologischen Ansichten und Willkür zurückgedrängt wurden. Andererseits wohnt der juristischen Weltanschauung inne, dass diese scheinbar für alle gleich gilt, wenn man die Gesellschaft nur als Ansammlung individueller Rechtssubjekte betrachtet. Diese Betrachtungsweise verschleiert jedoch strukturelle Ungleichheiten, die aufgrund der Produktionsweise entstehen, und ermöglicht es der Bourgeoisie, die Kommodifizierung und den Verkauf der Arbeitskraft als Transaktionen zwischen rechtlich Gleichgestellten darzustellen. So schreibt Engels im Artikel weiter: „Weil der Austausch von Waren auf gesellschaftlichem Maßstab und in seiner vollen Ausbildung, namentlich durch Vorschuß- und Kreditgeben, verwickelte gegenseitige Vertragsverhältnisse erzeugt und damit allgemein gültige Regeln erfordert, die nur durch die Gemeinschaft gegeben werden können – staatlich festgesetzte Rechtsnormen –, deshalb bildete man sich ein, daß diese Rechtsnormen nicht aus den ökonomischen Tatsachen entsprängen, sondern aus der formellen Festsetzung durch den Staat.“ „Und weil die Konkurrenz, die Grundverkehrsform freier Warenproduzenten, die größte Gleichmacherin ist, wurde Gleichheit vor dem Gesetz der Hauptschlachtruf der Bourgeoisie.“ (13)
Das heißt zusammengefasst: Bürgerliches Recht im Kapitalismus existiert nicht losgelöst von der wirtschaftlichen Produktion. Vielmehr ist es eine Notwendigkeit, um diesen zu organisieren und selbst Spiegel der ökonomischen Verhältnisse. Die bürgerlichen Ideale von Freiheit, Gleichheit oder Demokratie sind dementsprechend nicht aus reiner Nettigkeit entstanden, sondern notwendiges Produkt, um den freien Warentausch auszuweiten – was bei Beibehaltung von feudalen, lokal- und stammesbornierten Vorrechten unmöglich gewesen wäre. Während dies gewisse Fortschritte in der allgemeinen gesellschaftlichen Organisierung mit sich bringt, führt es auf der anderen Seite ebenso zu gewissen Entfremdungsprozessen und ist untrennbar mit der Rolle des bürgerlichen Staates verbunden. Die bürgerliche Rechtsordnung erfordert zu ihrer Durchsetzung unweigerlich bestimmte Institutionen. Diese Funktion wird durch den bürgerlichen Staat ausgefüllt, der die Form als scheinbar außerhalb der Klassenverhältnisse stehende öffentliche Instanz annehmen muss und nicht einfach privat selber von der Bourgeoisie organisiert wird. So wie die Ware die Rechtsform braucht, braucht diese den bürgerlichen Staat als Institution, um das Recht überhaupt durchzusetzen. Das Recht spielt also eine elementare Rolle in der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems. Kernaufgabe ist es, den Warentausch zu ermöglichen und das Privateigentum zu schützen – und das drückt sich wiederum auch in der Rechtsprechung aus.
Obwohl Paschukanis’ Rechtstheorie historisch im Privat- und Vertragsrecht verwurzelt ist, verstand er sie als allgemeine Theorie, die auch auf andere Rechtsgebiete anwendbar ist. Für uns wird das besonders relevant, wenn wir uns seine Überlegungen bezüglich des Strafrechtes anschauen. Denn auch wenn es auf den ersten Blick nicht mit Warenform verbunden und dem Äquivalenzprinzip zu unterliegen scheint, leitet er her, warum dies trotzdem der Fall ist. In seinem Werk „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“ (14) betrachtet er die Straftat als eine Form analog zu jener des Vertrages bzw. zum Tauschverhältnis. So schreibt er: „Somit geht das Strafrecht, soweit es eine Abart jener Grundform verkörpert, der die moderne Gesellschaft unterworfen ist, eben der Form des äquivalenten Tausches mit allen daraus folgenden Konsequenzen, als Bestandteil in den juristischen Überbau ein.“ […] Die Realisierung des Tauschverhältnisses im Strafrecht ist ein Aspekt der Realisierung des Rechtsstaates als ideale Form des Verkehrs zwischen unabhängigen und gleichen Warenproduzenten, die sich auf dem Markt treffen.“ (15)
Straftaten können dabei als besondere Variante der Tauschbeziehung betrachtet werden, d. h. als Vertragsverhältnis. Da ein Verbrechen eine einseitige Ablehnung des Prinzips der Gleichwertigkeit ist, handelt es sich nicht um einen Akt des Austauschs, sondern um einen Akt der Aneignung, bei dem der Täter das Opfer mit Gewalt in ein völlig einseitiges Verhältnis zwingt. In diesem Sinne kann ein Verbrechen als ein Angriff auf die Rechtsform selbst verstanden werden, da der Straftäter außerhalb der Rechtsform agiert. Das Strafrecht soll deswegen sicherstellen, dass der Täter nicht mit seiner Verletzung des Äquivalenzprinzips davonkommt, und den Grundsatz der Gleichwertigkeit wiederherstellen. Dies geschieht „durch die Macht des Staates“, der auf Basis des Strafrechts die Straftat als eine vertragliche Verpflichtung auslegt, die der Täter im Nachhinein zu erfüllen hat. So wird durch den Staat die Macht des Täters gegenüber dem Opfer negiert – und dem Opfer rückwirkend eine Gegenleistung des Täters gesichert. Nun ist er angesichts der Macht des Staates gezwungen, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, die er seinem Opfer willkürlich auferlegt hat.
Paschukanis verweist in seinen Ausführungen dabei auch darauf, dass es bei der Strafe keineswegs um die Resozialisierung des Täters geht noch darum, Bedingungen zu schaffen, die eine Wiederholung der Tat ausschließen. Vielmehr stellt die „angemessene“ Strafe im Kapitalismus die Umrechnung des Schadens oder der Schwere der Tat in Zeit dar. „Die Entziehung der Freiheit auf eine im gerichtlichen Urteil vorher festgesetzte bestimmte Frist ist die spezifische Form, in der das moderne, d. h. bürgerlich-kapitalistische Strafrecht das Prinzip der äquivalenten Vergeltung verwirklicht.“ (16)
Dies passiert durch strafrechtliche Sanktionen, also Strafen, mit dem Verstoß, dass das Äquivalenzprinzip rückgängig gemacht werden soll. Der Täter muss für den von ihm verursachten Schaden aufkommen, und die Zahlung muss in einem angemessenen Verhältnis zum vom Opfer erlittenen Schaden stehen. Historisch gesehen ist die Form der Strafe, in der das Strafrecht gipfelt, die Freiheitsstrafe, d. h. der Austausch eines bestimmten Teils der Freiheit des Täters, gemessen in Zeit, für den Schaden, den sein Verbrechen dem Opfer zugefügt hat. Die Freiheitsstrafe ist die Verkörperung der Äquivalenz in der Bestrafung und ist eine Extrapolation jenes Attributs, das den Kern des Wertes jeder Ware bildet, nämlich die Arbeitszeit. So wie der Wert einer Ware durch die abstrakte menschliche Arbeitszeit bestimmt wird, wird die strafrechtliche Sanktion in der Warenwirtschaft durch den Entzug der abstrakten Freiheit für einen bestimmten Zeitraum beschrieben. Die Freiheitsstrafe ist die strafrechtliche Materialisierung des Prinzips der äquivalenten Gegenleistung.
Die anderen Formen der Bestrafung (von der Bewährungsstrafe und der zeitweiligen Freiheitsstrafe über die Geldstrafe und den Verfall des Vermögens bis hin zur Strafvollstreckung und der gemeinnützigen Arbeit) sind ihrerseits ebenfalls verschiedene Ausprägungen des Äquivalenzprinzips. Bei allen handelt es sich um Tauschvorgänge der einen oder anderen Art, die sich vor allem darin unterscheiden, inwieweit sie den Zusammenhang zwischen der strafrechtlichen Regelung und der Ware deutlich machen. Die Form der strafrechtlichen Sanktion ist daher von geringer Bedeutung. Das Wesen jeder Form, ob mit oder ohne Freiheitsentzug, ist durch den Grundsatz der gleichwertigen Gegenleistung gegeben.
Aus paschukanischer Sicht unterliegen somit sowohl Verbrechen als auch Strafe ebenso dem Äquivalenzprinzip wie das Vertragsrecht oder jeder andere Bereich des Privatrechts. Der Staat als Durchsetzungsinstanz bestraft also in erster Linie nicht Gewalt oder Schaden an Betroffenen, sondern den Verstoß gegen die Rechtsform an sich. Hinzu kommt, dass sich gerade im Strafrecht auch der Klassencharakter des Staates mehrfach widerspiegelt, z. B. in der vergleichsweise hohen Bestrafung von Eigentumsdelikten wie Diebstahl oder Raub. Zweitens spiegeln sich im Prozess auch die ausbeuterischen und unterdrückerischen Strukturen der Gesellschaft wider, was sich z. B. in der extrem überdurchschnittlichen Verurteilung und längeren Strafen für rassistisch Unterdrückte zeigt. Und schließlich tritt der bürgerliche Staat im Strafrecht gleich mehrfach auf – als Kläger (Staatsanwalt) und Richter, als Untersuchungsbehörde und Justizvollzug, womit der eigentliche Zweck – Verteidigung der bürgerlichen Verhältnisse – gesichert wird.
Transformative Justice wirft die Frage auf, wie eine Welt abseits von Bestrafung aussehen kann und behauptet, dass es das kapitalistische System ist, das Gewalt hervorbringt. Doch kann es diese auflösen? Die kurze Antwort darauf ist: Nein. Wie oben hergeleitet sehen Marxist:innen das Recht als eine Ausdrucksform der kapitalistischen Warenproduktion: Es reduziert soziale Beziehungen auf formale Gleichheit zwischen Individuen. Das bedeutet, dass Unrecht nicht als Klassenfrage, sondern als individueller Konflikt erscheint. Dies lässt sich im Kapitalismus jedoch nicht einfach so ausgleichen. Recht kann nicht einfach „transformiert“ werden – es muss mit dem Staat selbst verschwinden. Das setzt aber das Absterben des Staates voraus, weshalb es auch in einer Übergangsgesellschaft unter der Diktatur des Proletariats nicht einfach verschwindet, sondern erst, wenn bürgerliche Verteilungsnormen selbst überwunden werden können.
Stattdessen sieht sich TJ oft als antistaatliche Praxis. Damit nimmt sie aber jedoch – auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet – eine nichtstaatliche, privatisierte Form des Rechts ein. Sie ist kein Bruch mit dem Rechtsdenken selbst, reproduziert in gewisser Weise, dass es eine abstrakte Form der „Gerechtigkeit“ auf individueller Ebene geben kann – auch wenn einige Vertreter:innen wie Kaba dies an sich ablehnen würden. Gleichzeitig droht sie, durch die „Privatisierung”, hinter gewisse Errungenschaften des bürgerlichen Rechts zurückzufallen.
Darüber hinaus scheint die reine Antistaatlichkeit besonders radikal. Gleichzeitig führt sie jedoch dazu, oft innerhalb von bestehenden Strukturen des Kapitalismus zu verbleiben, die abgekapselt versucht, sich selber zu verwalten und parallele Instanzen aufzubauen. Das wäre halb so schlimm, wenn nicht verpasst werden würde, den bürgerlichen Staat und seine Gewaltmonopole anzugreifen. Es ist richtig, dass Abolitionist:innen fordern, dass keine weitere Ausfinanzierung der Polizei, des Militärs oder des industriellen Gefängniskomplexes stattfindet. Das alleine hilft aber nicht, diese zu zerschlagen. Solange kein Weg aufgezeigt wird, wie der Kapitalismus, also das Unrecht an sich, abgeschafft werden kann, drohen die Anstrengungen nur in kurzfristigen Verbesserungen zu verpuffen. Transformative Justive ist somit vieles – nur kein Weg zur Transformation der Gesellschaft.
Schauen wir uns die Ideen von Morris an, wird das Problem besonders deutlich. So schreibt sie in Teil III ihres Buches Schlüsselaufgaben der Transformation, Kapitel 7 Transforming Our Penal Justice System: „Es gibt drei grundlegende Werkzeuge für jede Bemühung um sozialen Wandel: direkte Aktion, Bildung in der Gemeinschaft und Lobbyarbeit.“ Weiter: „Direkte Aktion umfasst Demonstrationen, das Schreiben von Briefen, Petitionen, Telefonanrufe und Treffen mit Beamten, alles durch die allgemeine Öffentlichkeit. […] Lobbyarbeit richtet sich ausschließlich an Politiker und versucht, sie dazu zu bringen, Gesetze zu verabschieden, die die Dinge in die Richtung bringen, die man für richtig hält. […] Lobbyarbeit kann gut oder schlecht sein, je nachdem, wer sie mit welchem Ziel betreibt. Aber jede Lobbyarbeit zielt darauf ab, das, was man will, direkt von den Gesetzgebern zu bekommen. Der Klebstoff, der diese beiden verbindet, ist die öffentliche Bildung. Meiner Meinung nach ist die öffentliche Bildung das grundlegendste und mächtigste Werkzeug von allen. […]Wenn wir die Öffentlichkeit dazu bringen können, das zu verstehen, was wir verstehen, wenn unsere Fakten wahr sind und unsere Werte für eine gute Gemeinschaft stimmen, dann werden in einer echten Demokratie Taten und Gesetze folgen.“ (17)
Und es ist nicht nur Morris, die diesen Ansatz verfolgt. Auch für Mariame Kaba geht es 20 Jahre später in der Praxis aufs Gleiche hinaus, wie in dem Essay „Free Us All: Participatory Defense Campaigns as Abolitionist Organizing“ (18) deutlich wird. Hier schreibt sie, dass zentrale Mittel zum Erfolg kollektives Organizing sowie Unterstützungskampagnen für Gefangene sind, die Druck auf Behörden ausüben sollen, Gefangene unterstützen, Gelder zu sammeln und abolitionistische Ideen verbreiten. So richtig einzelne Kampagnen jedoch sind, als alleinige Aktivität ist es nichts anderes als reformistischer, teils anarchistischer Wunschtraum. Unausgesprochen werden dabei anarchistische, kleinbürgerliche Ideen reproduziert: Es gilt, einzelne, kleine Inseln zu schaffen, die den Weg weisen und sich langsam ausbreiten. Die bisher existierenden Projekte sind sinnbildlich nichts anderes als selbstverwaltete soziale Zentren oder Hausprojekte. Die volle Schlagkraft kann sich nur entwickeln, wenn es in Verbindung mit der Beseitigung des bürgerlichen Staates steht. Damit ist gemeint, dass sie nicht in den Kontext gestellt werden, welchen Zweck Gefängnisse und Polizei für den bürgerlichen Staat haben, bzw. es liegt eine falsche Charakterisierung des bürgerlichen Staates selber vor. Somit scheint es, dass es möglich wäre, Gefängnisse, Polizei und das Strafsystem isoliert abzuschaffen. Dies ist aber, wie bereits aufgezeigt, nicht möglich, da diese integraler Bestandteil des kapitalistischen Systems sind, um den Warenverkehr zu organisieren und die bürgerliche Herrschaft selbst zu sichern.
Es geht also nicht nur darum zu fragen: Wie wirkt sich XYZ auf uns aus? Sondern auch: Woher kommt XYZ und wie hat es sich entwickelt? Was ist der Zweck, was ist der Nutzen und wie verhält sich das Einzelne zum gesamten kapitalistischen System und wie wird es stabilisiert? Erfolgreich kann Abolition nur sein, wenn es in ein revolutionäres Programm integriert ist, das den Gefängniskomplex als tragendes Moment des bürgerlichen Staates benennt sowie Polizei, Justiz und Militär als integrale Teile des Gewaltmonopols des Staates. Diese Kräfte lassen sich nur abschaffen, wenn eine proletarische Kraft den bürgerlichen Staat zerschlägt und umwandelt.
Die Stärke des Konzeptes liegt also eher darin, dass die einzelnen Projekte und Initiativen Aktivist:innen aufzeigen, in welche Richtung es gehen kann – nicht aber, wie man gesamtgesellschaftlich dahin kommt. Dabei können punktuelle Errungenschaften erkämpft werden, aber dabei wird eine Reihe von Faktoren außen vor gelassen, wie bspw. sich verändernde Kräfteverhältnisse innerhalb der Gesellschaft. Unter Trump, Milei & Co. findet ein reaktionärer Rollback statt und Massenverarmung sowie Repression nehmen zu – und damit auch Gewalt innerhalb der gesamten Gesellschaft auf individueller Ebene. Mit dem Aufstieg der Rechten und der imperialistischen Konkurrenz nimmt auch die Militarisierung zu – und führt dazu, dass fortschrittliche Positionen zurückgedrängt werden. TJ schafft es also nicht, einen realistischen Weg zu skizzieren, wie man zu einem gesamtgesellschaftlichen Umsturz kommt.
Heißt das im Umkehrschluss, dass transformative Justice komplett unbrauchbar ist? Auch hier lautet die kurze Antwort: Nein. Denn TJ wirft andere dringliche Fragen auf, die revolutionäre Organisationen, ja alle Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und der Unterdrückten im Hier und Jetzt aufgreifen müssen: Was tun wir bei Gewalt in der eigenen Community oder politischen Organisation? Denn mehr als richtig herausgearbeitet kann nicht jede/r immer die Polizei rufen. Doch was bedeutet das für uns in der Praxis? Der obige methodische Teil versucht, den Klassencharakter des bestehenden Rechtssystems aufzuzeigen und somit zu verdeutlichen, warum es schwer bzw. gar nicht möglich ist, auf individueller Ebene Gerechtigkeit zu schaffen.
Letzteres sollte und muss klar kommuniziert werden: Gerechtigkeit ist in der bürgerlichen Gesellschaft immer prekär – und es ist nicht möglich und auch nicht Aufgabe revolutionärer Organisationen, diese im Rahmen der bestehenden Ordnung „ersatzweise“ herzustellen. Trotzdem entbindet dies Organisationen jedoch nicht von der Aufgabe, gegen sexistisches, gewaltvolles Verhalten und Übergriffe in der eigenen Organisation vorzugehen. Es steht nämlich außer Frage, dass sexuelle Übergriffe innerhalb der Linken ein Problem sind. Das wissen wir aus Erfahrungen in unserer eigenen Strömung. Oder an Beispielen wie #LinkeMeToo in Deutschland oder den Übergriffen und Vertuschungen innerhalb der ISO in den USA können wir sehen, dass es flächendeckend wenig Umgang damit gibt.
Dies sind keine Einzelfälle, sondern nur Beispiele, bei denen – oftmals mit großer Eruption – sichtbar wird, dass wir alle in der bürgerlichen Gesellschaft sozialisiert, trotz revolutionären Willens nicht frei von Reproduktion unterdrückerischen Verhaltens sind – und es Probleme gibt, einen kollektiven Umgang damit zu finden. Die Idee, dass solche Vorfälle „in der eigenen Organisation“ nicht vorkommen können, ist deswegen mehr als schwachsinnig, sondern schafft vielmehr eine Umgebung, in der sie unbehelligt stattfinden können. Argumente, dass „dies den gemeinsamen Kampf schwäche” oder „von den wichtigen Fragen” ablenke, sind ebenso abzulehnen. Sie bedeuten die Akzeptanz des gewaltvollen Verhaltens und somit, dass Diskriminierungen, die die Klasse spalten, im Kleinen reproduziert werden.
Das kann keine Ausgangsbasis revolutionärer Politik sein, zumindest nicht, wenn man Interesse hat, gesellschaftlich Unterdrückte dauerhaft zu organisieren.
Vielmehr sollte es Pflicht jeder revolutionären Organisation sein, Mechanismen zu entwickeln, um einen Umgang damit zu schaffen. Nicht mit der Illusion, einen Schutzraum zu schaffen, wo keine Unterdrückung stattfindet – dies ist schlichtweg nicht möglich –, sondern um Unterdrückten die Möglichkeit zu geben, sich aktiv beteiligen zu können. Es wird nicht helfen:
Die Punkte a) und c) können durchaus gerechtfertigt sein. Aber sie können keinen Ersatz für einen bewussten, geregelten Umgang mit sexueller Gewalt oder anderen reaktionären Verhaltensweisen bilden. Punkt c) mag zwar konsequent erscheinen, wird aber in der Realität dafür sorgen, dass die Hemmschwelle, sexuelle Gewalt offenzulegen, steigt und sich die Tendenz zu „Vertuschungen“ erhöht. (Dies ist kein Plädoyer, niemals jemand/en auszuschließen.) Wer nicht möchte, dass der eigene Fall sich gleich in ein öffentliches Kampffeld verwandelt, der bleibt stumm. Denn – insbesondere wenn es sich bei den Tätern um etablierte Kader handelt – haben diese strukturelle Vorteile in der Auseinandersetzung. Stattdessen muss das Ziel sein, einen klaren und handlungsfähigen Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen zu entwickeln – einschließlich Prävention, offener Ansprache und transparenter Prozesse.
Dabei bewegt sich diese Arbeit immer in einem Spannungsfeld – zwischen den Ressourcen, dem, was nötig wäre, und dem, was überhaupt möglich ist. Wer versucht hat, solche Prozesse zu initiieren oder zu begleiten, weiß, wie schwer das in der Praxis ist – selbst wenn die Täter bereit sind mitzuarbeiten. Für die meisten findet das immer im Spannungsfeld zwischen der „normalen“ politischen Arbeit und den Aufarbeitungsfällen statt. Entweder sie fällt hinten runter, nimmt den kompletten Fokus ein oder verläuft schleppend. Es bedeutet in der Praxis, Zeit und emotionale Kapazitäten aufzuwenden, durch Aufbereitung und Vorplanung der Reflexionstreffen, Sichtung der Probleme, Einschätzung der Person, Erarbeitung von konkreten Zielen, regelmäßiges Einfordern der Reflexion. Häufig werden die Prozesse dann auch von nicht ausgebildeten Kräften gemacht – was auch seine Schwierigkeiten mit sich bringt und die Idee hineinprojiziert, dass die Prozesse „Heilung“ für die Betroffenen mit sich bringen können. Dabei arbeitet Kaba in ihrem Essay „The Practices we Need: #MeToo and Transformative Justice“ heraus, dass es dabei eigentlich nicht um das geht. Weder Abolition noch TJ sind Konzepte, damit man sich gut fühlt. „Not everything can be resolved in an accountability process. Accountability processes feel often terrible while they’re in it. It’s not a healing process. It might put you on the road toward your own personal healing“ (19) und arbeitet heraus, dass nach ihrer Erfahrung für Betroffene andere Dinge wichtiger gewesen sind, wie „Their needs where to have an acknowledgment of the harm that occurred, to insist that this person never do this again, to address issues around trust and figuring out how to trust people again“ (20).
Der einfache Umkehrschluss, dass dies „auf nach der Revolution“ vertagt werden sollte, ist aber fehlerhaft. Sexuelle Gewalt existiert – wie bereits geschrieben – überall. Keinen Umgang zu haben – oder als einzige Antwort den Ausschluss von Personen aus dem eigenen Kreis zu fordern – führt letzten Endes dazu, die eigene Bewegung zu schwächen und schlimmstenfalls ein System von Übergriffigkeit und Gewalt in den eigenen Reihen zu tolerieren. Die zentrale Frage ist also: Was tun? Die Antwort darauf ist schmerzhaft, aber unumgänglich: Viele kleine Organisationen, die alleine zu schwach sind, solche TJ-Projekte dauerhaft zu betreiben. Besonders hier wird sichtbar, dass das Fehlen von funktionierenden gesellschaftlichen Strukturen für den Umgang mit sexueller Gewalt nicht von einzelnen linken Kleingruppen aufgefangen werden kann.
Statt aber auf der einen Seite die Auseinandersetzung mit sexuellen Grenzüberschreitungen einfach so abzutun oder auf der anderen Seite sie zur alleinigen politischen Auseinandersetzung zu machen, braucht es also eine andere Lösung – wir müssen für eine Reihe von Maßnahmen eintreten, die uns voranbringen, indem sie a) den gesamtgesellschaftlichen Mangel anfangen zu beseitigen und b) die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung angreifen sowie c) die etablierten Organe des bürgerlichen Staates in Frage stellen.
Insbesondere Letzteres nimmt einen wichtigen Platz ein, denn auch wenn es zentral ist, für konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt einzutreten, so ist doch klar, dass wir diese perspektivisch zerschlagen müssen. Doch statt einfach diese „abzuschaffen“, gilt es für Sozialist:innen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen, indem Organe der Arbeiter:innenbewegung in Verbindung bspw. mit Opferberatungen selber die Kontrolle übernehmen. Welche Forderungen würden also unserer Meinung nach helfen?
Dabei liegt die Antwort in dem Kampf um die Forderung: Für die Einrichtung und den Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für (sexuelle) Gewalttäter! Diese sollten dann nach dem Transformative-Justice-Prinzip gestaltet werden. Denn es wird nicht möglich sein, jeden Fall von sexueller Gewalt in der Linken durch die jeweiligen Organisationen aufzuarbeiten. Dies mag von vielen vielleicht kritisch gesehen werden, da es bis zu einem gewissen Grad eine „Auslagerung“ der Problematik darstellt, aber als Sozialist:innen ist es auch unsere Aufgabe, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie eine zukünftige Gesellschaft an diese Probleme erangeht. Nach der Machtergreifung durch die Arbeiter:innenklasse kann, wie z. B. Paschukanis ausführt, nicht mehr die Frage im Zentrum stehen, ob die Strafe einen äquivalenten Ausgleich für die Tat herstellt. Vielmehr geht es darum, ob Maßnahmen die Gesellschaft schützen und den Täter oder die Täterin so verändern, dass eine Wiederholung der Tat unwahrscheinlich bis ausgeschlossen wird. Für diese Zielsetzung können etliche Ansätze der TJ integriert werden.
Ebenso – und das sind Momente, die in den deutschen TJ-Debatten ausgeklammert werden – ist es auch nötig, die künstliche Trennung zwischen Recht und Ökonomie aufzuheben. Das bedeutet, dass Forderungen nach höherem Mindestlohn, gleichem Lohn für gleiche Arbeit oder Vergesellschaftung der Hausarbeit essenziell sind, um die strukturelle Ungleichheit zu beenden. Das Ziel bleibt aber weiterhin klar: Wenn wir eine Welt ohne Strafe wollen, müssen wir die Art und Weise, wie wir produzieren, grundlegend ändern. Es braucht eine sozialistische Revolution, die dies angeht und den bürgerlichen Staat mitsamt seinem Rechtssystem sowie Gewaltmonopol zerschlägt. Infolgedessen werden viele Gesetze, weswegen heute Menschen hinter Gittern sitzen, wegfallen. Zeitgleich bedeutet das nicht, existierende Aktivitäten einzustellen. Gefangennennetzwerke, solidarische Prozessbegleitung, Kritik am Polizei- und Justizsystem sind im Hier und Jetzt notwendig, und auch hier gilt, wie überall sonst, dass der Kampf für konkrete Verbesserungen die Bewegung stärkt und sich positiv auf das Kräfteverhältnis auswirken kann.
(2) Veronika Schulz, Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!, Fight 9, https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/05/gewalt-gegen-frauen-bekaempfen-ursachen-abschaffen/
(3) Martin Suchanek, Definitionsmacht – eine politische Sackgasse, https://arbeiterinnenmacht.de/2021/08/03/definitionsmacht-politische-sackgasse/
(4) Howard Zehr, Changing Lenses: A New Focus for Crime and Justice, Herald Pr, 1990
(5) Ruth Morris, Stories of Transformative Justice, Canadian Scholars Pr, 2000
(6) Ebenda, S. 4, eigene Übersetzung
(7) Ebenda
(8) https://transformharm.org/tj_resource/transformative-justice-a-brief-description/
(9) Mariame Kaba, We Do This ‚Til We Free Us (Taschenbuch), Haymarket Books, The abolitionist papers series, 2021
(10) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 99
(11) Ebenda, S. 99/100
(12) Friedrich Engels, Juristen-Sozialismus, in: MEW 21, S. 492
(13) Ebenda, S. 492
(14) Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1970
(15) Ebenda, S. 160
(16) Ebenda, S. 165
(17) Ruth Morris, a. a. O., S. 207–208
(18) Mariame Kaba, a. a. O., S. 110
(19) Ebenda, S. 141
(20) Ebenda, S. 144