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Jürgen Roth, Infomail 1274, 22. Januar 2025
Seit etwa einem Jahr besteht das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und schon sitzt es in 2 Landesregierungen mit jeweils 3 Minister:innen. Was hatte doch seine unantastbare Chefin früher gegen den Anpassungskurs der Linkspartei gewettert. Und jetzt soll alles anders sein – dank ihres Charismas? Hat das BSW in Brandenburg (Rot-Lila) und Thüringen (Schwarz-Rot-Lila, auch Brombeerkoalition genannt) deutliche Abstriche bei seiner Regierungsbeteiligung vom eigenen Programm vornehmen müssen? Wie formuliert es seine Politik für den Bund?
Hier bekleidet sie mit Robert Crumbach (Finanzen und Europa), Detlef Tabbert (Infrastruktur und Landesplanung) und Britta Müller (parteilos, Gesundheit und Soziales) 3 Minister:innenposten. Ministerpräsident Woidke (SPD) wurde erst im 2. Wahlgang bestätigt. Zuvor hatte es Missfallensäußerungen einzelner BSW-Abgeordneter gegen die Stationierung des Flugabwehrsystems Arrow 3 auf dem Fliegerhorst Holzdorf gegeben.
Das BSW-Landtagswahlprogramm enthält als Schwerpunkte Innere Sicherheit; Asyl und Migration; Wirtschaft und Arbeit; Kita und Schule; Gesundheit und Pflege; Energie, Umwelt und Klima; Verkehr und Infrastruktur. Darin finden sich zwar auch einige richtige Forderungen, aber häufig kombiniert mit falschen.
So tritt man einerseits für den Ausbau von Bahnstrecken, andererseits gegen Tempolimits auf Autobahnen und in Ortsgebieten ein. Eine Grundsteuerreform solle her, bei der der Staat sich nicht bereichern soll, sonst würden die Mieten steigen. Gleichzeitig sollen gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften gefördert werden. Das BSW verkennt den wahren Grund für Mietpreissteigerungen. Haupttreiber und Nutznießer ist nicht der Staat, sondern das Finanzkapital, das aufgrund sinkender Rendite im produktiven Sektor vermehrt ins Immobiliengeschäft einsteigt. Die Gemeinnützigkeit des Wohnungsbaus wurde zudem schon unter Kohl beerdigt.
Bei Wirtschaft und Arbeit stehen Forderungen nach Mindestlohnerhöhung auf 14 Euro und einfacherer Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse neben Zukunftsfonds zur Förderung heimischer Unternehmen und Start-Ups, unbürokratischen Verfahren mit „Tesla-Geschwindigkeit“ und Befreiung von „unnötigen Regulierungen“. Es wird der Eindruck vermittelt, staatlicher Schlendrian sei verantwortlich, dass es „unserer“ Wirtschaft so schlecht geht.
Das BSW bekennt sich zum Grundrecht auf Asyl, möchte aber mit rassistischen Maßnahmen unkontrollierte Migration stoppen, verpflichtende Deutschtests für Kinder ab 3 Jahren und obligatorische einfache Hilfstätigkeiten während des Asylverfahrens einführen. Den von der Vorgängerregierung (SPD, CDU, Grüne) eingeführten Verfassungstreue-Check lehnt es ebenso ab, wie es die Befugnisse des Verfassungsschutzes begrenzen will.
Vieles davon findet sich im Koalitionsvertrag wieder. Kindergartenjahre bleiben beitragsfrei, Schienenstrecken sollen ausgebaut werden, Förderung von Mietwohnungsbau, angemessene Regulierung der Mietpreise. Der Themenkomplex Asyl und Migration steht unter der Leitlinie „Wer kein Bleiberecht besitzt, muss Deutschland verlassen“ und liegt damit ganz auf Wagenknecht-Kurs. Vereinfachte Asylverfahren, Ausreisezentren und ein Behördenzentrum am Flughafen BER sollen sie umsetzen. Ob das angestrebte Landesintegrationsgesetz Migrant:innen eher mit der deutschen Leitkultur als Sprachkenntnissen bekanntmacht – wie wär’s mit kostenlosen Deutschkursen, dann bräuchte man auch keine Tests für 3-Jährige? –, bleibt offen.
Etwas verwässert taucht im Regierungsabkommen auch der Verfassungstreue-Check auf. Er soll wegen der damit verbundenen Grundrechtseingriffe überprüft und ggf. geändert werden. Bezüglich der „Friedensfrage“ – natürlich beschränkt auf den Ukrainekrieg, was kümmert die Koalition schon Gaza? – will man sich im Bund und in der EU für diplomatische Lösungen mit dem Ziel von Waffenstillstand und dauerhaftem Frieden einsetzen. Ein „Pazifismus“ von Gnaden der Herrschenden ohne Berücksichtigung der Friedenskosten auf dem Rücken der Massen, viel mehr hat auch das BSW nicht in seinem Köcher.
Arglosigkeit herrscht auch gegenüber Bundeswehr und Polizei. Alle brandenburgischen Militärstandorte sollen erhalten bleiben, die Polizei personell auf 9.000 Stellen aufgestockt und flächendeckend mit Bodycams und Elektroschockgeräten (Tasern) aufgerüstet werden. Das Vertrauen in den bewaffneten Apparat, der nur einer der herrschenden Klasse sein kann, zeigt sich hier deutlich. Friedenspolitisch durchgesetzt hat das BSW, dass sich Brandenburg im Bundesrat zur Einführung der Wehrpflicht und Entsendung einer Brigade nach Litauen enthielt. Die Ablehnung der Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen mutiert im Koalitionsvertrag zu „einer kritischen Sicht.“ Wagenknechts Äußerung zu Arrow 3 bemängelte nur, dass das System zu teuer und ungeeignet sei, tieffliegende russische Raketen und Marschflugkörper abzufangen. Fraktionsvorsitzender Lüders bemerkte darüber hinaus, das sei kein Landesthema, sondern gehöre in den Bundestag – wie bei der Diplomatie übrigens. Darüber hinaus bekannte er sich zur Bundeswehr, weil Landesverteidigung auch BSW-Politik sei. Die Friedenspolitik des BSW wird wie der Kampf Don Quichottes gegen Windmühlen ausgehen.
Schwarz-Rot-Lila regiert im Freistaat mit 3 Minister:innen des BSW im Kabinett Mario Voigts (CDU): Katja Wolf (Finanzen, stellvertretende Ministerpräsidentin), Tilo Kummer (Umwelt, Energie, Naturschutz und Forsten), Steffen Schütz (Digitales, Infrastruktur).
Ähnlich wie in Brandenburg präsentiert sich auch das BSW-Wahlprogramm mit 5 zentralen Themen: Frieden, Bildung, leistungsfähiger Staat, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft. Der einzige bemerkenswerte Unterschied zum Brandenburger liegt in der Betonung auf der finanziellen Stärkung der Kommunen. Wie bei diesem finden wir keine Antworten, wer das finanzieren soll, wenn es sich überhaupt um Punkte handelt, die im Interesse der Arbeiter:innenklasse liegen. Ganz grundsätzlich atmet es unverbrüchliche Staatsräson aus. Mehr noch: Es kennt gar keine Klassen, sondern nur Bevölkerung, einfache Leute usw. Diese gar nicht so linken Populist:innen reden von sozialer Gerechtigkeit (darunter könnten sich Arbeiter:innen wiederfinden) und wirtschaftlicher Vernunft, die stillschweigend Sache der kapitalistischen Eigentümer:innen an den Produktionsmitteln bleibt mit staatlich zur Verfügung gestellten Steigbügeln aufs hohe Ross wirtschaftlicher Kommandozentralen.
Das Koalitionsprogramm gleicht dem Brandenburger in den Punkten Frieden, Migration, Sicherheit, starker Rechtsstaat, Gesundheit und Soziales, Wohnungsbau fast aufs Haar. Die Unterschiede sind marginal: Beim Wohnungsbau soll nicht nur der zu Sozialmieten gefördert werden, sondern gleichzeitig (!) die Eigentumsquote bei Immobilien erhöht. 1.800 neue Polizist:innen sollen in der Legislaturperiode eingestellt werden. Gegenüber dem Verfassungsschutz herrscht weniger Skepsis als in Potsdam: Er soll Zugriff auf die Bewegungsdaten bekannter Extremist:innen, Gefährder:innen und Terrorverdächtiger erhalten – alles vom BSW abgenickt.
Am 11./12. Januar kürte der Bundesparteitag Wagenknecht zur Kanzlerkandidatin. Sie bedankte sich in ihrer Rede und verstieg sich zur Behauptung, das BSW sei die einzige Kraft, die nicht in allgemeiner „Kriegsbesoffenheit“ untergehe und allein deshalb in den Bundestag müsse, damit die SPD „nicht umkippt“. Umkippt? „Rambo“ Pistorius lässt grüßen! Gegenüber der AfD, geführt von ihrem „Musk-Fangirl“ Alice Weidel, grenzte sie sich ab. Die AfD stünde für „Aufrüstung für Donald“, das BSW dagegen grundsätzlich für Frieden, Steuergerechtigkeit und sozialen Ausgleich. Also Klassenaussöhnung, garniert mit Hetze gegen die ganz unten, Migrant:innen und Flüchtlinge, möchten wir hinzufügen. So rechnete Wagenknecht einst vor, dass der Staat für jede/n Asylbewerber:in monatlich 1.700 Euro aufwende. Von solchen Einkünften könne eine Rentnerin mit 2 Kindern, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet habe, nur träumen. Tatsächlich erhält jede/r Asylbewerber:in je nach Familienstatus um 400 Euro. Der Rest sind Kosten für Unterkunft, Verwaltung und Familienmitglieder. Solche Fakten interessieren das BSW offenkundig nicht. Statt dessen verbreitet Wagenknecht weiter Fake-News. Erst kürzlich erklärte sie in einem Podcast, die Knappheit auf dem Wohnungsmarkt liege auch am Zuzug von Geflüchteten. Fürs BSW soll nur noch die im Herkunftsland drohende Todesstrafe Abschiebehindernis sein. Parolen wie „Frauenrechte statt Gender-Ideologie“ und „Medien und Kultur: Meinungsfreiheit statt Maulkorb“ reihen sich locker ins Arsenal der rechten und konservativen Kulturkämpfer:innen ein.
Antiamerikanismus bildete die große, verbindende Klammer auf dem Bonner Parteitag. Amira Mohamed Ali sprach sich für ein starkes (!), gerechtes und souveränes Deutschland aus. Sevim Dagdelen verstieg sich zur Behauptung, „jeder US-Milliardär“ habe in der BRD „seine Partei und seine Diener“. Der Hauptfeind steht bei den stramm nach rechts gehenden Populist:innen offenkundig in den USA, nicht im eigenen Land! Liebknecht würde sich im Grabe umdrehen. Ein Gastredner sprach gar von der Covidpandemie als Biowaffe aus US-Laboren, ohne Widerspruch zu ernten. Das BSW wirbt also auch stark um extrem rechte Wähler:innen.
Doch sich auf die Denunziation dessen zurückzuziehen, reicht nicht hin bei der Bekämpfung dieser offen bürgerlichen, populistischen Formation – ebenso wenig die Hoffnung aufs Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde, um die herum sich das BSW in Wahlumfragen bewegt, oder auf seine Selbstzerfleischung angesichts einiger Austritte u. a. im Hamburger Landesverband, die sich gegen eine „AfD 2.0“ richten und die Gründung einer neuen Partei anstreben.
Etwas substantieller äußerte sich Ines Schwerdtner, eine der beiden Bundesvorsitzenden von „Die Linke“ in einem Interview (NEUES DEUTSCHLAND, 17.1.2025, S. 3). Sie nimmt zu Recht die Tatsache, dass ausgerechnet in den Berliner Wahlkreisen, in denen sich ihre Partei Chancen auf ein Direktmandat ausrechnet, das BSW Erststimmenkandidat:innen aufstellt, als Versuch wahr, ihr zu schaden. Das BSW wildert eben nicht nur im Revier der AfD. Doch weicht sie der entscheidenden Frage aus: „Mieten, Renten, Lebensmittelpreise im Wahlkampf – wie geht das, ohne bei Migration oder dem sogenannten Kulturkampf den anderen Parteien, vor allem den Rechten, das Feld zu überlassen?“ Ihre Antwort: „Unser Fokus sind Klassenkämpfe, aber mit Haltung. Sogenannte Kulturkämpfe führen wir, wenn Minderheiten angegriffen werden, aber vor allem geht es uns um die materiellen Interessen der großen Mehrheit.“
Das klingt radikal, greift aber viel zu kurz. Eine Arbeiter:innenpartei, die ihren Namen wirklich verdient, darf ihr Programm gegen alle Formen sozialer Unterdrückung, Ausbeutung und den ideologischen Rechtsruck nicht erst dann zum Einsatz bringen, wenn Minderheiten angegriffen werden. Sollen sie für ihre Forderungen auf sich allein gestellt kämpfen, bis es brennt? Nein, eine wirklich sozialistische Partei muss immer alle Fragen sozialer, gesellschaftlicher Unterdrückung offensiv aufgreifen, denn sie will alle unterdrückerischen Verhältnisse bekämpfen und aufheben.
Aber immerhin will Schwerdtner dem etwas entgegensetzen, während das BSW selbst den Rechtsruck ideologisch forciert. Ob das reicht, in den Bundestag einzuziehen, oder ob der neue Stern am Parteienhimmel schon im Februar verglüht, bleibt offen. Denn wer braucht das BSW und seinen „modernen Konservativismus“ eigentlich? Die Arbeiter:innenklasse sicher nicht.