Martin Suchanek, Neue Internationale 289, Februar 2025
Hunderttausende in Gaza und ganz Palästina feierten das Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas, das am 19. Januar in Kraft trat. Und das ist nur zu verständlich. Nach eineinhalb Jahren Krieg und Zerstörung gibt es keine täglichen Bombardements, kein tägliches Morden mehr. Endlich können Hilfsgüter 2 Millionen Menschen erreichen, die seit Monaten ausgehungert wurden, denen es an Lebensmitteln, Medizin, sauberem Wasser, Kleidung fehlt und deren Wohnhäuser und Infrastruktur praktisch komplett zerstört wurden. Und endlich kommen hunderte, wenn nicht tausende palästinensische Gefangene, darunter auch zahlreiche Kinder frei, die wegen ihres Widerstandes gegen die Unterdrückung im Gefängnis saßen.
Die Hamas und Millionen Palästinenser:innen feiern die Tatsache, dass Netanjahu und sein Kriegskabinett zu einem Waffenstillstand gezwungen wurden, als Sieg. In der Tat konnte Israel das Ziel, die Hamas, ihre politische und militärische Infrastruktur zu zerstören, nicht erreichen. Dafür war und ist die Entschlossenheit des palästinensischen Volkes, sich seiner Vertreibung, Zerstörung und Vernichtung zu widersetzen, entscheidend. Die Hamas musste, wenn auch nur über Vermittlung durch die USA, Katar und Ägypten, sogar als Vertragspartnerin anerkannt werden.
Während die Menschen in Palästina den Waffenstillstand feierten, jubelte in Israel kaum jemand. Die Angehörigen der Geisel haben nicht vergessen, dass es die israelische Regierung selbst war, die immer wieder Gefangenenaustauschabkommen sabotierte, um ihren genozidalen Krieg fortsetzen zu können. Die extreme, faschistische Rechte hingegen betrachtet die Feuerpause als Niederlage, weil die Armee den Massenmord zumindest vorerst einstellt.
Drei Minister der faschistischen Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) um Sicherheitsminister Ben-Gvir verließen das Kabinett und brandmarkten das Abkommen als „Kapitulation gegenüber der Hamas“. Die zweite rechtsextreme Regierungspartei, die von Finanzminister Smotrich geführte Mafdal – HaTzionut HaDatit (Nationalreligiöse Partei –-Religiöser Zionismus) verbleibt aber in der Regierung. Netanjahu hätte ihm die Garantie gegeben, dass der Waffenstillstand nach der ersten Phase beendet und der Krieg dann weitergeführt würde. Ob das so stimmt, darüber können wir nur spekulieren. In jedem Fall verweist die Aussage darauf, wie fragil das Abkommen insgesamt ist.
Die Hamas wie ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung, aber auch bedeutende Teile der globalen Solidaritätsbewegung betrachten den Waffenstillstand als Sieg der Palästinser:innen. Das trifft jedoch leider nur sehr bedingt zu, genauer bezüglich der Maximalziele der zionistischen Angriffe – der Auslöschung der Hamas und faktischen Vertreibung der Palästinenser:innen. Dass der Widerstandswille der Massen nicht gebrochen werden konnte, stellt sicher einen moralischen Sieg dar. Aber er hat einen ernormen Preis. Die israelische Armee hinterlässt ein zerstörtes, verwüstetes Land. 50.000 Menschen wurden durch die israelische Armee infolge ihrer Angriffe getötet, um die 200.000 Menschen – etwa ein Zehntel (!) der Bevölkerung – verstarben an den „indirekten“ Folgen des genozidalen Krieges.
Das Waffenstillstandsabkommen sieht bekanntlich drei Stufen vor. In der ersten, 42 Tage dauernden Phase, sollen 33 der noch lebenden 98 Geiseln im Austausch für hunderte palästinensische Gefangene freikommen.
Während dieser Zeit steht die israelische Armee noch in Gaza. Über die Modalitäten ihres Rückzugs, den Austausch weiterer Geiseln und Gefangenen und über die „Selbstverwaltung“ Gazas soll verhandelt werden. Das sind ebenso viele Themen wie Punkte, an denen das Abkommen scheitern kann. Vor allem beim letzten Punkt, der zukünftigen politischen Verwaltung Gazas, ist eine dauerhafte Einigung faktisch unmöglich, solange Israel darauf besteht, dass Hamas von jeder politischen Beteiligung ausgeschlossen werden muss.
In Israel selbst werden die Rechten gegen das Abkommen trommeln. Allerdings haben sich für den Fall eines Austritts von Smotrich und seiner Partei aus der Regierung Oppositionsführer Jair Lapid und seine Partei Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft) als Retter:innen in Netanjahus Not angeboten und versprochen, die Regierung für die gesamte Dauer des Waffenstillstandsabkommen zu stützen.
Wie ungewiss die Dauer des Abkommens auch sein mag, im Moment gibt es einen klaren Gewinner, Donald Trump. Es war zu seinem Vorteil, als Vollstrecker des Abkommens zu gelten, auch gegen den Widerstand innerhalb der israelischen Regierung. Dennoch gibt dies keine Garantie dafür, dass alle drei Phasen des Abkommens tatsächlich umgesetzt werden. Der Druck von Massenprotesten in westlichen Staaten und die politische Bloßstellung des Charakters des Zionismus mögen zwar zu Trumps öffentlichkeitswirksamen Beharren auf dem Waffenstillstand beigetragen haben, reichen aber sicherlich nicht aus, um dessen weitere Durchsetzung zu garantieren, wenn sich seine Kalkulationen ändern.
Die Ursachen sind leider andere. Erstens haben Israel und der Westen wesentliche Ziele in den letzten eineinhalb Jahren erreicht. Die meisten arabischen Staaten haben faktisch keinen Finger für die Palästinenser:innen gerührt. Ihre reaktionären Regime haben einmal mehr deutlich gemacht, dass ihnen ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen allemal wichtiger sind als die Solidarität mit dem palästinensischen Volk, dem sie allenfalls verbal und symbolisch Unterstützung gewähren. Auch China und Russland ließen den Westen und Israel gewähren, beschränkten ihre Kritik auf UN-Resolutionen und diplomatische Seitenhiebe. Während sich China als „Schutzmacht“ der Palästineser:innen ein Stück weit ins Spiel zu bringen versucht, verfolgt Russland weiter enge Beziehungen zu Teilen der israelischen Finanzoligarchie.
Die sog. „Achse des Widerstandes“, auf die Hamas, aber auch die palästinensische Linke setzten, wurde massiv geschwächt. Der Iran und die Hisbollah wollten immer einen entscheidenden Konflikt mit Israel vermeiden. Sie wurden im Grunde vom Zionismus angegriffen, provoziert und weiter geschwächt – und das durchaus auch im Interesse und mit Unterstützung der USA. Hinzu kam der Sturz des Assad-Regimes, dem zynischsten und seit Jahrzehnten auch untätigsten „Unterstützer“ der Palästinenser:innen. Auch wenn das zukünftige Syrien kein Freund Israels werden wird, so stellt das Land für die kommende Periode keine Gefahr dar. Längerfristig könnte sich Syrien jedoch als größte Bedrohung erweisen, vor allem wenn es den Massen gelingen sollte, die politische Macht der HTS und ihrer Übergangsregierung, den Einfluss imperialistischer und von Regionalmächten zu brechen und ein wirklich neues demokratisches und sozialistisches Syrien zu errichten. Kurzfristig hat Israel jedoch seine Macht in der gesamten Region ausbauen können, indem es allen vorführte, dass es jederzeit jedes Regime, jede politische Kraft ungestraft und mit Deckung der USA, EU, Deutschlands und Britanniens angreifen kann.
Die sog. „Achse des Widerstandes“ erwies sich in den letzten eineinhalb Jahren als politischer Papiertiger. Damit aber auch die Strategie der Hamas und der Führung des palästinensischen Widerstandes, die darauf spekulierten, dass der asymmetrische Krieg Israels ihre Verbündenten in einen gemeinsamen Kampf ziehen würde. In Wirklichkeit hatten die Führungen der Hisbollah, Irans und Syriens das nie vor und vermieden dies auch, so gut sie nur konnten.
Dass es zu einem Waffenstillstand kam, hängt jedoch auch damit zusammen, dass die USA und ihre westlichen Verbündeten die totale Vernichtung der Hamas und jeder anderen Widerstandsorganisation als politisch unrealistisch betrachteten, weil sie die vollständige Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und darüber hinaus erfordern würde. Gegen einen solchen Völkermord haben sie, wie die letzten Monate deutlich machten, keine moralischen oder humanitären Einwände, wohl aber fürchten sie, dass die Ablehnung der israelischen Politik und deren Unterstützung den Massenprotest stärken und über Demonstrationen hinaus zu effektiven Maßnahmen wie Blockaden und Boykott von militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung führen könnten. Vor allem aber wollen die USA und ihre Verbündeten die wirtschaftliche und politische Kooperation Israels mit den reaktionären arabischen Regimen, allen voran mit Saudi-Arabien, wiederbeleben – und dazu dient der Waffenstillstand als Mittel, eine „Normalisierung“, die nach dem 7. Oktober 2023 unterbrochen war, wieder einzuleiten.
Der Waffenstillstand und die Versprechen einer „Selbstverwaltung“ in Gaza und der Westbank sollen die palästinensischen Massen ruhigstellen und vertrösten. Einige imperialistische Mächte hätten, wie dereinst mit der Fatah-Bewegung und der PLO, nichts prinzipiell dagegen einzuwenden, auch die Hamas offen oder indirekt in eine Form der „Selbstverwaltung“ unter israelischer Aufsicht und eine „Regierung der nationalen Einheit“ einzubinden. Für die zionistischen Hardliner:innen wäre das jedoch kaum akzeptabel. In jedem Fall wäre eine solche „Regierung“ genauso ohnmächtig, wenn nicht noch ohnmächtiger als die derzeitige Autonomiebehörde in der Westbank.
Der Waffenstillstand mag zwar dazu führen, dass die Waffen schweigen, zu einer Lösung des eigentlichen Problems, der systematischen 76 Jahre andauernden Vertreibung, Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser:innen wird er nicht führen und nicht führen können. Ein von den imperialistischen Mächten und Israel auch mit der Hamas ausgehandeltes „Friedensabkommen“ würde den Palästiner:innen keine Selbstverwaltung, geschweige denn Befreiung bringen, sondern allenfalls eine um die Hamas erweiterte Autonomiebehörde.
Während Gaza über Jahre von westlichen Hilfsgütern abhängig unter Mangelverwaltung vegetieren würde, würden Siedlungsbau, Landnahme und Vertreibung in der Westbank, wie schon vor und nach dem 23. Oktober 23, weitergehen. Eine solche Lösung wäre selbst eine bösartige Karikatur der immer schon reaktionären, seit Jahren aber auch vollkommen utopischen Zweistaatenlösung.
Denn wenn der Krieg und die Erfahrungen der letzten Jahre etwas gezeigt haben, so Folgendes: Es gab, gibt und wird keinen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten geben, solange die Unterdrückung durch den zionistischen Staat Israel, der als proimperialistischer Gendarm fungiert, anhält. Frieden wird nur möglich sein, wenn der unterdrückerische israelische Staat durch ein einheitliches, säkulares, demokratisches und sozialistisches Palästina im Rahmen einer regionalen sozialistischen Revolution ersetzt wird.
Das bedeutet aber auch, dass die palästinensische Linke und Arbeiter:innenklasse eine andere Strategie und Programmatik brauchen als die Orientierung auf die Achse des Widerstandes. Vielmehr muss der Befreiungskampf in den Kontext der Revolution im gesamten Nahen Osten, in den arabischen Staaten wie in Syrien und Ägypten, aber auch im Iran und der Türkei gestellt werden. Das erfordert aber auch den Kampf um den Aufbau neuer revolutionärer Arbeiter:innenparteien in Palästina wie im gesamten Nahen Osten und einer neuen Internationale, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützen.
In den westlichen Ländern müssen wir den Kampf für die Befreiung Palästinas weiterführen. Auch wenn der Waffenstillstand einige Zeit halten mag, so wird er zu keiner Befreiung führen. In der kommenden Periode besteht die Aufgabe darin, unsere Organisation zu vertiefen und für die Bereitstellung von Hilfe und Unterstützung für das palästinensische Volk zu mobilisieren. Wir müssen nicht nur Geld und materielle Hilfe fordern, sondern auch das Ende jeglicher Unterstützung für den zionistischen Staat und das Recht der Palästinenser:innen, sich gegen die israelische Unterdrückung zu wehren und für die Befreiung zu kämpfen. Der Aufbau einer breiten, in den Betrieben, an Schulen und Unis verankerten Bewegung erfordert dabei auch, in den Gewerkschaften und reformistischen Parteien für einen Bruch mit der proimperialistischen und prozionistischen Führung zu kämpfen.