Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 276, September 2023
Es ist wie ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann, oder Gossip Girl im Real Life: die Krise der Linkspartei. Seit Beginn des Jahres hat sich die Situation stetig zugespitzt.
Mitte März gab Wagenknecht ein Interview bei ZDFheute, in dem sie erklärte, über die Gründung einer neuen Partei nachzudenken. Nachvollziehbar fand das der aktuelle Parteivorstand weniger unterhaltsam – nach mehreren offenen inhaltlichen Abweichungen von Positionen der Parteitage und nach Veröffentlichung des Buches „Die Selbstgerechten“, was als Gegenprogramm zur eigenen Partei gelesen werden kann.
Es folgte am 25. Juni ein Treffen von Wissler, Schirdewan und Wagenknecht mit Amira Mohamed Ali und Bartsch als Vermittler:innen, bei dem Wagenknecht eine Frist gesetzt wurde.
Dies wurde ihrerseits mit einem weiteren Interview, diesmal für Die Welt, beantwortet. Der Parteivorstand verabschiedete daraufhin Mitte Juni einen Brief mit einem Appell, dass jene, die darüber nachdenken, eine neue Partei zu gründen, ihr Mandat niederlegen sollten. Das ist sicher nachvollziehbar, denn welche Partei will schon die Neugründung ihrer Konkurrenz aus eigenen Mitteln finanzieren? Somit ging die öffentliche Schlammschlacht in die nächste Runde.
Die Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali trat Anfang August zurück und Klaus Ernst stellte nach 15 Jahren Mandat fest, dass es Leute in der Partei gibt „deren Kontakt zur Arbeit sich darauf beschränkt, dass sie mal als Schüler oder Student ein Regal bei Aldi eingeräumt haben“. Der Parteivorstand wäre „eine große Truppe politikunfähiger Clowns in der Partei“. Kurzum: Die Grabenkämpfe verschärfen sich und die Stimmen, die nach Einheit rufen wie Gysis oder Pellmanns, wirken nur noch unfreiwillig komisch. Denn es ist mittlerweile klar, dass es so nicht weitergehen kann und ein Parteitag zur „,Verständigung und Versöhnung’ der verschiedenen ‚Lager’“, wie es der Leipziger Verband vorschlägt, nichts richten kann.
Seit der Bundestagswahl haben rund 8.000 Mitglieder die Partei verlassen. Bei einem offenen Bruch der Wagenknecht-Anhänger:innen wird noch ein Teil mitgehen, der sich rund um #aufstehen oder die Populäre Linke formiert hat.
Von den Landtagswahlen in Bayern erhofft man in der Regel nicht viel, daher spielt das Resultat für die Zukunft der Partei keine große Rolle. Doch Hessen konnte in der Vergangenheit auch Wahlerfolge erzielen. Daher kommt den zu erwartenden Verlusten Bedeutung zu. Der öffentliche Zersetzungsprozess hilft natürlich recht wenig im Wahlkampf, zum anderen ist der hessische Landesverband seit dem #linkemetoo ohnedies nicht bestens aufgestellt.
Das Problem ist Folgendes: Auch wenn Schirdewan und Wissler jetzt konsequent erscheinen wollen und harte Kante gegenüber Wagenknecht zeigen, so ist die Partei seit Jahren in einer Krise. Wagenknecht macht dies, Wagenknecht sagt das, Wagenknecht geht – die politischen Debatten um die inhaltlichen Fragen werden dabei medial um sie fokussiert. Das scheint die Debatte zu entpolitisieren. Eine inhaltliche Abgrenzung erfolgt zwar teilweise, aber auch nur indirekt, beispielsweise durch die Vorschläge für die Kandidat:innen zur Europawahl. Trotzdem bleibt es dabei: Darauf zu warten, dass Sahra geht, bedeutet für die, die bleiben, eine Schwächung ihrer eigenen Position. Doch wenn Wagenknecht geht, wird zwangsläufig die Frage aufgeworfen: Was machen die Hinterbliebenen? Und wer bleibt überhaupt?
Denn es gibt sie. Die Leute, die weitermachen wollen. Die glauben, dass die Partei zu retten ist, und Hoffnung hegen. Bisher am deutlichsten dazu bekannt haben sich Anhänger:innen der Bewegungslinken, die seit den letzten beiden Parteitagen auch zahlreich im Vorstand der Partei vertreten sind. Sie planen ihrerseits eine „Zukunftskonferenz“, bei der ganze 350 Leute teilnehmen können. Nach diversen internen Regionalkonferenzen versuchen sie, die Grundlage für einen „Neustart“ in die Wege zu leiten.
Natürlich werden auch die Regierungssozialist:innen bleiben, denn schließlich sind sie – und nicht der Vorstand – neben der Parlamentsfraktion das eigentliche Machtzentrum der Partei. Beiträge zur Debatte liefern sie wenig bis keine. Weder Bodo Ramelow noch Klaus Lederer lassen vernehmen, was sie eigentlich von der Krise der Partei halten und wie beziehungsweise wo sie ihre eigene Zukunft sehen. Das haben sie aber auch nicht nötig, denn ihre Regierungspolitik wird von der Bewegungslinken nicht in Frage gestellt (und sie wurde es auch nicht von den Wagenknecht-Leuten).
So kommt es, dass seit rund 1,5 Monaten die Debattenseiten brodeln und vornehmlich Ideen aus dem linken Flügel diskutiert werden, ob bei luXemburg, Jacobin, dem nd oder den Kommentarspalten der sozialen Medien. Die Ideen sind dabei vielfältig. Da mit der Partei fast nichts möglich scheint, kann auch jede/r eigene Utopien mit zum Besten geben. So formuliert Thomas Goes den Wunsch nach einer neuen ökologischen Arbeiter:innen- und Volkspartei, Ulrike Eifler fordert, dass sich DIE LINKE mehr auf Gewerkschaften zu fokussieren hätte. Thies Gleiss spricht von der Notwendigkeit des Neustarts durch die Einbindung der Basis und Abschaffung von Posten.
Die beiden bekanntesten Texte sind wohl der erste Aufschlag von Mario Candeias „Linke Krise und Neubeginn“ sowie die Antwort von Ines Schwerdtner und Michael Brie „Für eine konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE“.
Candeias beginnt damit, dass sich DIE LINKE gesamtgesellschaftlich in der Defensive befindet. Dieser Zustand würde ein Jahrzehnt anhalten und verursacht durch eine „innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise“.
Hochgestochene Worte, die nichts anderes heißen als eine Zunahme der Zersplitterung und Fragmentierung innerhalb der Flügel des bürgerlichen Lagers anhand der Klimakrise. So weit so gut. Es ist letztlich eine Stärke des Texts, sich zuerst mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auseinanderzusetzen, um daraus Schlüsse für die kommende Zeit abzuleiten.
Neben der Fragmentierung des bürgerlichen Lagers, der Defensive der Linken darf die zunehmende Krisenhaftigkeit nicht fehlen. Auch wenn dies alles richtige Punkte sind, so muss man diese eher aus den Thesen herausfiltern. Verloren geht dabei das Verhältnis der unterschiedlichen Problematiken zueinander, was dann letzten Endes dazu führt, dass die Krise der Partei recht unspektakulär in der 2. These heruntergebrochen wird:
„Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zu mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben.“
Diese Aussage bringt gleich mehrere Probleme mit sich. Zum einen stellt sie den Machtkampf zwischen den politischen Flügel um Ämter als Problem besagter Posten dar. Auch wenn die Art und Weise, wie die Ämter in der Linkspartei gestaltet sind, problematisch ist (und sinnvoll durch Thies Gleiss kritisiert wurde), so ist es doch nur logisch, dass jede politische Strömung versucht, den eigenen Einfluss zu stärken.
Das heißt: Das grundlegende Problem besteht viel eher darin, dass die inhaltlichen Differenzen zu groß sind und sich dementsprechend die Partei im internen Machtkampf jahrelang selber blockiert hat. Die Fliehkräfte, die dabei entstehen, werden durch die Medien (und mangelnde Parteidisziplin) verschärft, aber nicht, wie im Folgenden behauptet, erst durch die Medien verursacht.
Nicht sie sind es, die Differenzen zu mächtigen Gegensätzen ausarten lassen, sondern die inhaltlichen Punkte an sich. Denn zwischen Regieren und Nicht-Regieren, offenen Grenzen und Abschottung, Militarismus, Pazifismus und Internationalismus kann man letztlich keine Kompromisse herbeireden und versuchen, ihre friedliche Koexistenz herbeizuzaubern. Spätestens wenn diese Fragen praktisch gestellt werden, fliegt die „Einheit“, die nie eine war, auseinander. Das Problem der Linkspartei ist nicht, dass jetzt Wahlniederlagen und mangelnde Machtoptionen, also Regierungsämter, die Partei auseinandertreiben. Die reformistische Partei war vielmehr schon immer auf der Unvereinbarkeit des Unvereinbaren aufgebaut – Regierung und „Opposition“ gleichzeitig sein zu wollen. Richtig an Candeias’ Bemerkung ist letztlich nur, dass sich die inneren Gegensätze leichter kitten lassen, wenn die Partei elektoral erfolgreich ist, wenn also alle Seiten ihren Anteil am Erfolg und den Pfründen, die damit einhergehen, erhalten können.
Das eigentlich „Neue“ ist letztlich bloß die Einschätzung, dass auf das „linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr genommen werden (muss) – von ihr selbst erklärt, haben wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht.“
Zu wirklichen Ideen der Erneuerung treibt das aber nicht. So heißt es unter anderem in These 2: „Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Im besten Falle gesellen sich dazu Enklaven eines rebellischen Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen, Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives Verhältnis zu bringen.“
Dies ist nichts anderes als Gramscis Konzept des Stellungskrieges, reformistisch neu aufgewärmt, verbunden mit einer klaren Ansage, dass Regieren auf jeden Fall möglich sein sollte. Kritiker:innen fragen sich an dieser Stelle zu Recht: Wo ist dann der Unterschied zur bisherigen Politik und Strategie? Denn die Phrase des rebellischen Regierens wurde auch fleißig in Berlin verwendet, wo dann durch die Berliner Linkspartei der Volksentscheid zu Deutsche Wohnen & Co enteignen erfolgreich verschleppt wurde – aus Angst, die Koalition zu sprengen, die Posten zu verlieren und in Opposition für die Verbesserungen der Klasse zu kämpfen. Besonders viel hat das nicht gebracht. Aber gut, man konnte die Umfragewerte auch immer auf den Zustand der Bundespartei schieben.
Candeias redet auch nicht unmittelbar von der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus, sondern formuliert nur den alten Gedanken des reformistischen Gradualismus neu, indem er den Sozialismus zur weit entfernten Zukunftsvision erklärt: „Dazu gehört, eine Perspektive offenzuhalten, die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen Gesellschaft“. Dazu gehört die langsame Transformation durch „selbstverständliche Dinge“ wie kostenlose Gesundheitsvorsorge, bezahlbaren Wohnraum oder „demokratische Mitsprache, die etwas bewegt“. Die Bewegung ist – wie schon bei Bernstein – alles, das Ziel ein schöner Trost, also nichts.
Die Partei soll dadurch gerettet werden, dass man inhaltlich weitermacht wie bisher. Aber – und das ist jetzt die „Neuerung“ – es brauche eine disruptive Neugründung. Wem der Begriff jetzt nichts sagt, der/die braucht sich nicht dumm zu fühlen. Vielleicht könnte man auch einfach meinen, dass der Begriff an sich nicht sinnvoll gewählt ist. In der Praxis heißt das laut Candeias ein „umgekehrter Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in Großbritannien: Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen.“ Denn sobald die „mediale Diskursdynamik“ einsetzt, hat man eh nur zwei Wege: diese Form der Neugründung nach Corbyn oder die Gründung einer neuen Organisation wie Podemos in Spanien. Es geht also nur um einen Imagewechsel, damit man nicht als Verlierer:innen dasteht, wenn Wagenknecht geht. Das ist zwar ein reales Problem, was sich aus der mangelnden Politisierung des Bruchs heraus ergibt, löst aber die Kernprobleme nicht, sondern sorgt allenfalls dafür, dass Aktivist:innen getäuscht und letztlich enttäuscht werden.
Eine Antwort auf den Beitrag ließ nicht lange auf sich warten. Die wohl bekannteste stammt von Ines Schwerdtner und Michael Brie. Während ihre Kritik an Candeais nur mäßig ist, werfen sie im zweiten Abschnitt ihres Textes zentrale Fragen auf.
Ihr Gegenmodell zur disruptiven Neugründung ist die „konstruktive Erneuerung“. Damit diese erfolgreich ist, müssen ihrer Meinung nach mehrere Fragen diskutiert werden:
„Eine solche konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE verlangt, dass Richtungsentscheidungen getroffen werden. […] Es geht erstens um Inhalte, zweitens den Politikstil und drittens die Führungsfähigkeit in einer aktiven Mitgliederpartei, es geht um das Was, es geht um das Wie und es geht um das Wer. […] Die erste Entscheidung, die die Partei DIE LINKE treffen muss, ist die nach ihrer Funktion. Was will sie sein: Will sie der soziale Flügel des herrschenden Parteienblocks von Grünen und SPD bis FDP und CDU/CSU sein, oder will sie einen eigenen parteipolitischen Pol einer Politik repräsentieren?“
Diese Feststellungen mögen banal scheinen, doch wer längere Zeit in der Partei oder ihrem Umfeld verbracht hat, weiß, dass das die Fragen sind, die DIE LINKE seit Jahren umtreiben. Ohne klare Aussage zur Regierungsbeteiligung, wer das Subjekt der Veränderung ist, oder zum Verständnis des bürgerlichen Staates kommt es unweigerlich immer wieder zu den Flügelkämpfen, wie oben bereits ausgeführt.
Ebenso der 2. Punkt: „Die zweite Entscheidung betrifft den Typus von Politik. Es geht um das Wie: Soll Politik – und sei es die richtige – verordnet werden oder aus demokratischen Prozessen und der Selbstermächtigung der Betroffenen hervorgehen?“ Kritischer zu sehen ist jedoch die im Anschluss aufgestellte These: „Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die Fragen ausgehend von den Lohnabhängigen zu stellen, ihre Lage, ihre Sichtweisen, ihren Stolz auf die eigene Leistung, ihre Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Die Gewerkschaften sind dabei der wichtigste gesellschaftliche Partner. Zugleich ist linke Politik nur dann möglich, wenn sie dazu beiträgt, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen sich aktiv in die sozialen Kämpfe einbringen und sie gemeinsam prägen. Eine wirklich linke Partei ist vor allem der politischen Vertretung der Lohnabhängigen im weitesten Sinne verpflichtet und hat die Aufgabe, dies mit Projekten des solidarischen Umbaus der Gesellschaft mit sozialistischem Ziel zu verbinden. Das ist radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg.“
Auch hier treten zwei Probleme auf: Während es richtig ist, dass es Aufgabe einer revolutionären Organisation ist, zentrale Fragen seitens der Lohnabhängigen aufzuwerfen, muss auch dazu gesagt werden, dass es ihre Aufgabe ist, eine Perspektive zu zeigen, wie die jeweiligen Fragen positiv beantwortet werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man nicht immer das gegebene Bewusstsein als Ausgangspunkt nehmen kann und auch manchmal Bewegung initiieren muss, wenn es keine gibt. So wäre es beispielsweise notwendig gewesen, während der Coronapandemie nicht nur auf dem Balkon zu stehen und zu klatschen, sondern praktische Initiativen zu setzen wie eine Solidaritätskampagne für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, die im Kern aufzeigt, warum Reproduktionsarbeit im Kapitalismus immer schlechter bezahlt wird. Darüber hinaus kann man vieles über Rosa Luxemburg sagen, sie aber als Ausgangspunkt für „radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik“ zu nehmen, stellt eine komplette Verkehrung ihrer Theorie und Praxis dar. Dies wird spätestens da ersichtlich, wo man sich ihr Staatsverständnis anschaut, das nicht darauf hindeutet, dass man sich an realpolitischen Fragen dauerhaft abarbeiten sollte. In ihrer Polemik gegen Bernstein bringt Luxemburg bekanntlich das Verhältnis von Reform und Revolution auf den Punkt:
„Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.
Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Luxemburg, Gesammelte Werke 1/1, S. 427f.)
Brie und Schwerdtner hingegen fassen die „Revolution“ letztlich rein reformistisch, als in die Länge gezogene kontinuierliche gesetzliche und soziale Reform auf. Der Klassenkampf zielt nicht auf die revolutionäre Machteroberung der Arbeiter:innenklasse, sondern bildet nur das Druckmittel zur stetigen Reform, die auf wundersame Weise zur Transformation der Gesellschaft führen soll.
So ist es nicht verwunderlich, dass auch der dritte Punkt Bauchschmerzen hervorruft. „Die dritte Entscheidung, die getroffen werden muss, ist die der Herstellung eines strategischen Zentrums, das zugleich die wichtigsten vorhandenen kooperationswilligen Orientierungen in der Partei zusammenführt und in der Lage ist, die oben genannten zwei Aufgaben des Was und Wie überzeugend anzugehen. Es ist diese Aufgabe, die zuerst gelöst werden muss, um endlich überzeugend das Was und Wie linker Politik anzugehen. Es gibt Anzeichen, dass Kräfte in der Linken zunehmend bereit sind, sich dieser Aufgabe gemeinsam zu stellen, doch sie bedingt eine politische Führung, die konstruktiv integrierend agiert.“
Man könnte auch sagen – zuerst brauchen wir eine Führung, dann ergeben sich Strategie und Taktik. Dass diese Auffassung ernsthaft vertreten wird, verweist aber auch darauf, dass die beiden verbliebenen Flügel der Linkspartei – Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen – beide fest auf dem Boden des Reformismus stehen, dass beide mit der Formel des „rebellischen Regierens“ einverstanden sind, wobei die Bewegungslinke das Rebellieren, die Ramelows und Lederer das Regieren übernehmen. Die Aufgabe des „strategischen Zentrums“ besteht dann vor allem darin, die Politik der beiden Flügel, Parlamentarismus und Protestbewegung, zu vermitteln.
Aus den Debattenbeiträgen zeichnet sich ab: Es gibt ein Bewusstsein, dass die Krise der Linkspartei weit tiefer geht als Sahra Wagenknecht. Zugleich wird jedoch auch deutlich: Weder bei der „disruptiven Neugründung“ noch bei der „konstruktiven Erneuerung“ geht es im eine grundsätzliche Veränderung der Politik der Linkspartei.
Wenn große Worte wie „Arbeiter:innenpartei“ oder „sozialistische Klassenpolitik“ mehr als Phrasen sein wollen, braucht es eine Bilanz der inhaltlichen Orientierung, der programmatischen Grundlagen und Praxis der letzten Jahre. Während Anhänger:innen der vereinenden Flügel mit den Augen rollen werden, so bleiben die Probleme der Linkspartei weiterhin gleich.
Natürlich ist es nicht ausgeschlossen (wenn auch keineswegs gesichert), dass ein reformistischer Neustart eine Zeit lang gelingt und man sich unter einem Label Linke+ vorübergehend retten kann. Doch selbst wenn er DIE LINKE als Partei retten sollte, so werden die Problem, die zu ihrer aktuellen Krise führten, nur in neuer Form wieder auftauchen.
Man sollt sich daher auch nicht der Illusion hingeben, dass Machtkämpfe verschwinden oder Demoralisierung Geschichte wird. Denn was Candeias wie auch Brie und Schwerdtner vorschlagen, ist nur der gleiche Inhalt neu eingekleidet. Ein bisschen radikaler, ein bisschen direkter. Aber wer keine klare Linie aufzeigt, wird sich früher oder später an einem ähnlichen Punkt wiederfinden wie heute, spätestens wenn es darum geht. mitzuregieren oder die Interessen einer Bewegung praktisch zu erkämpfen.
Erstens muss die aktuelle Debatte mit Inhalten gefüllt werden. Und das heißt, es muss nach der tiefen Existenzkrise der reformistischen Partei grundsätzlich die Frage gestellt werden, welche Partei wir brauchen? Eine reformistische, also auf dem Boden mehr oder weniger „radikaler“ Reformpolitik verbleibende, bürgerliche Partei – oder eine revolutionäre Kampfpartei, deren Ziele die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse und die sozialistische Weltrevolution bilden?
Diese Grundsatzfrage müssen sich gerade die Sozialist:innen und Kommunist:innen in um die Partei stellen. Denn auch sie haben in den letzten Jahren keine Politik betrieben, in der Partei den Bruch mit dem Reformismus herbeizuführen, sondern das Elend mehr oder weniger mitverwaltet oder, im Falle von marx21, auch mitgestaltet.
Damit diese Frage nicht bloß auf der Ebene eines Bekenntnisses verbleibt, einer bloßen Überzeugung und Gesinnung, braucht es auch eine Diskussion um ein Aktionsprogramm, das zentrale Fragen des gewerkschaftlichen und betrieblichen Kampfes, der Klima- und Frauenbewegung beantworten kann, aber auch gleichzeitig aufzeigt, wie man dem bürgerlichen Staat und dem Reformismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse die Stirn bietet. Vor allem aber muss es eine Brücke von den gegenwärtigen Tageskämpfen zum Kampf für den Sozialismus schlagen.
Um dieses lohnt es sich, in der aktuellen Situation klassenkämpferische Aktivist:innen zu sammeln, die Interesse haben, eine solche Kraft aufzubauen – in dem Wissen, dass man nicht alle anderen mitnehmen kann. Klar, es ist schöner, wenn man größer ist. Es ist bequemer und man kann sich selbst der eigenen Wichtigkeit vergewissern. Doch jene, die auf die Notwendigkeit einer breiten, politisch aber in Grundfragen gespaltenen Linken verweisen, weil man sonst so zersplittert und geschwächt ist, sollten auch beantworten, ob ein sich streitender Haufen, der keine Kämpfe für die Verbesserung der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten praktisch anführt, wirklich so relevant ist, dass man daran festhalten muss. Denn eine andere Welt ist möglich, wenn wir einen Plan haben, wie wir den Kapitalismus zerschlagen können.