Oda Lux, Neue Internationale 289, Februar 2025
Die Kürzungspolitik zieht in Europa weiter ihre Kreise. In Berlin wird gekürzt und gestreikt, in den Niederlanden ist vor allem der Bildungssektor in den letzten Monaten angegriffen worden, was zu großen Protesten geführt hat. Und nun zeichnet sich auch in Belgien ein Großangriff der Regierung ab, der prompt Proteste provozierte. Mehr und mehr stellt sich damit eigentlich die Frage: Wie können wir europaweit Seite an Seite zusammen kämpfen?
Am Montag, den 13.1., gingen ca. 30.000 Menschen in Brüssel auf die Straße. Viele von ihnen hielten Schilder mit Zitronen hoch – sie sollen von der Politik ausgepresst werden, auf Rente verzichten und die Kürzungen über sich ergehen lassen. Drei Milliarden Euro will die neue Regierung „einsparen“, unter anderem bei Lehrkräften und Feuerwehrleuten. Konkret würde die Umsetzung der Pläne bedeuten, dass den Lehrkräften 100 Euro fehlen werden, wenn sie in Rente gehen. Insgesamt beträgt der Verlust über 100.000 Euro. Dabei wird es eine Ausdifferenzierung innerhalb des Lehrkörpers geben. Je nach Alter, Funktion und Abschluss fallen die Kürzungen unterschiedlich aus. Zusätzlich soll es eine Anhebung des Rentenalters auf 67 auch für körperlich anstrengende Berufe wie bei der Feuerwehr geben. Ein Feuerwehrmann sagte VRT NWS Nieuws (Belgischer Nachrichtensender): „Als Feuerwehrmann ist es schwierig, mit 67 erst in Rente zu gehen, denn Ü50 und Ü60 muss man noch genauso fit sein wie jemand mit 25, um Menschen retten zu können.“ Die belgische Gewerkschaft ACOD (Algemene Centrale der Openbare Diensten; sozialistische Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes) spricht von Vertragsbruch, wenn die neue Regierung mit den Drohungen Ernst macht, geltende Tarife und Pensionsansprüche abzuschaffen.
Streiks am Flughafen Charleroi (Hennegau, Wallonien) bei Brüssel, am Brüsseler Flughafen Zaventem sorgten für große Ausfälle, bei der Bahn kam der ÖPNV und Fernverkehr immerhin ins Stocken. Ein Viertel der Schulen im Land blieb geschlossen. Auch wenn das noch weit entfernt von einem Generalstreik ist, ist das schon mehr gemeinsamer Kampf, als wir es von Deutschland kennen. Das Motto des Protestes war „Hap niet in ons pensioen” (deutsch: „Schnappt nicht nach unserer Pension“). Zu den Forderungen der Gewerkschaften gehört: „Keine Verlängerung der Arbeitszeit [auf 67].“ und „Eine höhere Mindestrente, um Armut vorzubeugen.“ Der Gewerkschaftsbund ABVV (Algemeen Belgisch Vakverbond; Allgemeiner Belgischer Arbeitsverbund, sozialistischer Dachverband) kritisiert auch, dass über 30 Milliarden Euro jährlich am Staat vorbei geschmuggelt werden, 10 Mal so viel, wie eingespart werden soll, die betreffenden Firmen aber nicht zur Kasse gebeten werden. Während der Proteste kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei im Rahmen des Streiks.
Am 9. Juni 2024 wählte Belgien ein neues Parlament und eine neue föderale Regierung, wobei die Regierungsbildung weiter andauert. Teil der Regierung sollen die christdemokratisch-wallonische (Les Engagés; Die Engagierten), die sozialistische (Vooruit; Vorwärts), die christdemokratisch-flämische Partei (Christen-Democratisch en Vlaams, CD&V; flämische Christdemokratie) und die flämisch-nationalistische N-VA(Nieuw-Vlaamse Alliantie; Neuflämische Allianz; separatistisch, rechtskonservativ, europaskeptisch) werden. Die politische Lage in Belgien ist selten einfach, was schon mit der Mehrsprachigkeit beginnt und wobei die regionale Fraktionierung zwischen Flandern, Wallonien, Brüssel und dem deutschsprachigen Teil eine große Rolle spielt. Innerhalb dieser Fraktionierung gibt es mehrere Parteien, die in Wallonien und Flandern keine gemeinsame Listen haben, was selbst auf die sozialdemokratische Partei zutrifft.
Zudem ist die Politik zweisprachig. Ökonomisch sind die vier Regionen ungleich, was in einer relativ starken Zersplitterung bürgerlicher Parteien als Ausdruck unterschiedlicher Interessen mündet. Mitunter war es in der Vergangenheit auch schon der Fall, dass eine Regierungsbildung sich über ein Jahr hinzog und die alte Regierung einfach im Geschäft blieb. Flandern hat historisch viele Kaufleute angezogen und ist bis heute wirtschaftlich stärker als der wallonische Teil. In Brüssel hingegen herrschen nicht nur belgische, sondern auch europäische und internationale Interessen vor. Die Hauptstadt verzeichnet auch das höchste BIP, gefolgt von Flandern. Voraussichtlich wird Bart De Wever, Bürgermeister von Antwerpen und Vorsitzender der Partei N-VA, neuer Premierminister und löst den amtierenden Alexander de Croo (Open Vlaamse Liberalen en Democraten, Open VLD; Offene Flämische Liberale und Demokrat:innen) ab. Schon vor Amtsantritt wurde verkündet, dass 3 Milliarden einzusparen sind. Betroffen sind in erster Linie der öffentliche Dienst und das Bildungswesen.
Die Gewerkschaftslandschaft ist ähnlich unübersichtlich wie die Politik. In Belgien leben fast 12 Millionen Menschen. Davon sind über 3 Millionen gewerkschaftlich organisiert. Der Grad der Organisierung ist also höher als in Deutschland, mitunter werden 80 % unter Beschäftigten angegeben. Flandern hat dabei eine eigene Organisation, während der deutschsprachige Teil den wallonischen Gewerkschaften zugeordnet ist. Die Gewerkschaften sind zudem anders als in Deutschland nicht nach Branchen, sondern nach unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung aufgestellt. Die größten Strömungen bilden dabei der christlich-soziale Gewerkschaftsbund CSC (Confédération des Syndicats Chrétiens; Konföderation der Christlichen Gewerkschaften) und der Allgemeine Belgische Gewerkschaftsbund FGTB (Fédération générale du travail de Belgique; mit dem flämischen ABVV liiert). Letzterer pflegt eine enge Bindung zur Sozialdemokratie. Allen großen Gewerkschaften ist eine grundsätzlich starke sozialpartnerschaftliche Ausrichtung und damit Fesselung der Arbeiter:innenklasse an das belgische Kapital eigen.
Was der belgischen Arbeiter:innenklasse als „Reform“ verkauft wird, ist, ebenso wie in anderen Ländern, eigentlich ein schön verpackter Angriff. Die Kürzungen kommen auch hier nicht zufällig. Sie sind Ausdruck der Wirtschaftskrise, in der sich Europa befindet, die besonders durch die akute Auseinandersetzung um eine Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten befeuert wird. Die EU als imperialistischer Block ist in den letzten Jahren auf dem absteigenden Ast, insbesondere gegenüber China und den USA. Will das europäische Kapital dem etwas entgegensetzen, müssen neben Ausgaben für Rüstung Angriffe auf die soziale Errungenschaften erfolgen – die Arbeiter:innen und Unterdrückten sollen die Krise zahlen. Einher geht das mit einem Rechtsruck und einer zunehmend autoritären Politik der Herrschenden, die als Vehikel dienen, unter anderem auch Kürzungen zu verkaufen und durchzusetzen. Dabei ist es kurzfristig auch egal, ob Streichungen im Bildungssektor wie jetzt in Belgien längerfristig dem Kapital selbst schaden.
Auch in Belgien nahmen die Rüstungsausgaben in den letzten 4 Jahren massiv zu, selbst wenn sie mit 1,3 % des BIP deutlich unter jenen Deutschlands liegen. Mit der NV-A gewann auch hier eine rechtskonservative, rassistische Partei die Wahlen, die zugleich für einen populistischen flämischen Separatismus einsteht.
Demgegenüber steht auch in Belgien eine geschwächte Arbeiter:innenbewegung den Angriffen gegenüber. Die Sozialdemokratie selbst ist in einen wallonischen und einen flämischen Teil gespalten und bindet die Arbeiter:innenklasse an belgische Kapitalinteressen. Das belgische Mitglied der europäischen Linken, die PTB, hat in den letzten Jahren zwar ihren Einfluss insbesondere im FGTB ausbauen können, verbleibt dabei jedoch gänzlich bei reformistischen Methoden, die keinen Weg zur Umsetzung der durchaus fortschrittlichen und richtigen Forderungen wie z. B. einer Millionärsabgabe oder bezahlbaren Wohnraums zeigt und damit immer Gefahr läuft, unglaubwürdig zu sein oder im Verrat von Kämpfen zu münden.
Jetzt gilt es, die bestehenden tariflichen Verträge zu verteidigen und landesweit eine Streikbewegung auf die Beine zu stellen, die die Kraft entwickelt, die Regierung dazu zu zwingen, die Kürzungen zurückzunehmen. Notwendige Bedingung dafür muss für Revolutionär:innen (wie z. B. in der PTB) sein, in den Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien gegen die Sozialpartnerschaft der bürokratischen Führungen zu kämpfen und auch die regionale Segregation der Arbeiter:innenklassen zu überwinden. Es darf nicht sein, dass der Kampf am Ende bedeutet: Flandern gegen Wallonien und sich die jeweilige Bourgeoisie ins Fäustchen lacht. Am Ende muss es heißen: Generalstreik!
Wichtig in der derzeitigen Situation ist es, die Systematik dahinter zu erkennen. Es ist eben nicht nur ein Angriff in Belgien. So sind Kürzungen in den Niederlanden und Deutschland bereits an der Tagesordnung und in Frankreich wurden die letzten 10 Jahre durch wiederholte Angriffe wie die „El Khomri“-Reform oder der Erhöhung des Renteneintrittsalters durch Macron bestimmt. Der Klassenkampf hat sich lange nicht mehr so offensichtlich gezeigt wie jetzt, er wird weiter an Intensität zunehmen. Wir brauchen eine europaweite Bewegung, die den Kampf gegen sozialen Kahlschlag mit dem gegen den Rechtsruck verbindet. Das bedeutet auch, unsere Gewerkschaften zu einem gemeinsamen europäischen Kampf zu zwingen und nationale Standortlogiken zu überwinden, hat doch die IG Metall in Deutschland jüngst einen Kampf gegen Entlassungen bei Audi in Brüssel abgelehnt, um hier in der VW-Krise einen möglichst guten verräterischen Deal zugunsten deutscher Werke auszuhecken.
Um diesem Kampf zu führen, brauchen wir die Debatte unter Linken und Revolutionär:innen um Forderungen und ein Programm, das als Klammer und Wegweiser in diesem Kampf dienen kann.
Wir schlagen dafür folgende Eckpunkte vor, die auch zu den Angriffen und Kämpfen in Belgien passen:
• Keine Kürzungen, nirgendwo! Politischer Massenstreik aller Gewerkschaften als Antwort, keine einzeln geführten Kämpfe!
• Vollversammlungen in allen Betrieben, an Unis und Schulen! Lasst uns demokratische Streikkomitees aufbauen und für eine europaweite gewerkschaftliche Einheit einstehen und den Standortnationalismus unserer bürokratischen Führungen bekämpfen!
• Wir zahlen ihre Krise nicht! Anstatt immer zurückzustecken, brauchen wir Forderungen, die uns alle vereinen: bezahlbare Mieten, überall; kostenlose Gesundheitsversorgung und kostenloser ÖPNV; höhere Löhne und Kampf für ein Renteneintrittsalter ab 60 für alle! Solche Forderungen könnten nicht nur die Spaltung zwischen Wallonien und Flandern überwinden, sondern auch die rassistische Spaltung unserer Klasse.
Wir rufen kämpferische Gewerkschafter:innen und Revolutionär:innen dazu auf, in Diskussion zu treten darüber, wie der Kampf geführt werden soll. Wir brauchen die Kontrolle von unten. Hier geht es nicht nur darum, die Kürzungen abzuwenden, sondern auch um eine strategische Diskussion, wie die maximale Kampfkraft erreicht werden kann. Ein gewerkschaftlicher Kampf alleine reicht hier nicht! Politische Angriffe brauchen politische Antworten. Für uns liegt diese in einem Neuaufbau revolutionärer Parteien – in Belgien, Europa und letztlich weltweit. Die Streiks und Kämpfe in Belgien bieten Revolutionär:innen eine Möglichkeit, solch eine Debatte zu führen: Wie kämpfen wir, wie gewinnen wir?