Markus Lehner, Neue Internationale 286, Oktober 2024
Es kann schon erschrecken, mit welchem Tempo derzeit die Repression auf verschiedenen Ebenen verschärft wird. Das Grenzregime wird zusammen mit weiterer Verschlechterung der Rechte von Migrant:innen ohne Bleiberecht in Windeseile umgebaut. Diese müssen bei allem Möglichen mit Repressalien bis hin zur Abschiebung rechnen. Was mit den schwächsten Gliedern der Gesellschaft beginnt, setzt sich fort in der verstärkten Drangsalierung von Bürgergeldempfänger:innen und Arbeitslosen. Schüler:innen sind verstärkt Repressalien ausgesetzt, z. B. im Rahmen von Palästinaprotesten. Es geht weiter bei der Jobsuche von Menschen mit bestimmten Vorstrafen, z. B. wegen Teilnahme an Umwelt- oder Antifaprotesten. Rechtsextreme finden dagegen Aufnahme in einem zunehmenden Milieu gleichgesinnter Unternehmer:innen.
Gleichzeitig wachsen die unmittelbaren Repressionsmittel von Polizei und Justiz: einerseits legal durch Maßnahmen wie Vorsorgegewahrsam, präventive Verbote, das ausgeweitete Instrumentarium der Polizeiaufgabengesetze. Andererseits auch durch bewusste Überschreitung des legalen Rahmens: So wurden bei den Palästinaprotesten mehrfach im Einklang mit einer angeblichen „deutschen Staatsräson“ Grundrechte wie das Versammlungsrecht und die Reisefreiheit ausgehebelt. Dabei wurde in Kauf genommen, dass viele der Maßnahmen gerichtlich später als rechtswidrig festgestellt wurden. Die Verbote hatten ihren Zweck erfüllt und die gerichtliche Bewertung keine Konsequenzen für die verantwortlichen Repräsentant:innen der handelnden Institutionen. Mit dem Begriff der „Staatsräson“ wurde übrigens ein „Der höhere Zweck heiligt die Mittel“-Begriff der althergebrachten autoritären deutschen Rechtstradition wieder zu Ehren gebracht, der eigentlich mit der behaupteten Ausrichtung des Grundgesetzes als überwunden galt. In gewisser Weise bildeten auch Einschränkungen des Versammlungsrechts während der Coronamaßnahmen eine Vorübung für Versammlungsbehörden und Polizei in der Aushebelung von Grundrechten für einen „höheren Zweck“. Allerdings waren dies weder die ersten solchen Ansätze noch ging dies wesentlich über die für Pandemiemaßnahmen allgemein gerechtfertigten Einschränkungen von Freiheitsrechten hinaus, die für jede Gesellschaft in einer solchen Situation rational gerechtfertigt sind, sofern sie dem Infektionsschutz dienen.
Diese autoritären Tendenzen in der Bundesrepublik haben allerdings eine lange Geschichte. Das Zurückdrängen der Staatsräson im Rahmen der liberalen Grundgesetzorientierung war großen Teilen der Bourgeoisie und ihrer konservativen politischen Repräsentant:innen schon von Anfang an ein Dorn im Auge. Daher begann man, mit Hilfe der Sozialdemokratie durch den „Notstands“begriff eine zweite „Schattenverfassung“ zu schaffen (zunächst als „Notstandsgesetze“ verklausuliert), die sich in Polizeigesetzen, dem öffentlichen Recht, in der Strafgesetzgebung etc. jenseits des Grundgesetzes nur mühsam in dessen Rahmen bewegt. Nicht zufällig geschah das mit Aufkommen der ersten Nachkriegsrezession und der Student:innenrevolte (APO).
Für den nötigen Interpretationsspielraum hat seither das „Verfassungsgericht“ zu sorgen, das scheinbar „überparteilich“, tatsächlich aber Teil des Machtblocks der herrschenden Bourgeoisiefraktionen ist. Unter der Decke des „Rechtsstaates“ herrschen so weiterhin Klassenjustiz und Polizeistaat zur Sicherung von Kapitalverwertung und bürgerlicher Herrschaft.
Wenn Friedrich Merz jetzt die Bundesregierung angesichts von ein paar Messerattacken zur Ausrufung des „nationalen Notstandes“ aufruft, um Grundrechte auszuhebeln, agiert er in einer langen Tradition. Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien dürfen kein Hinderungsgrund für „richtiges Handeln“ sein – der Bundesregierung fehle es nur an „politischem Willen“. Hiermit drückt sich aus, dass in bestimmten Situationen bürgerliche Politik die Karte des Bonapartismus ins Spiel bringt. Krisenstimmung, „parteipolitisches Gezänk“, Polarisierung auf der Straße, das „Unsicherheitsgefühl der Bürger“ etc. – all das soll durch eine „starke politische Führung“ beiseitegeschoben werden, die sich über hinderliche Regularien und Kompromissfindungsprozesse hinwegsetzt und die Gesellschaft (und die Klassen) hinter „einem einzigen politischen Willen“ vereint. Auch wenn Merz eher nur in parodistischer Weise in der Rolle des Bonaparte vorstellbar ist, bereiten er und die Rechtsentwicklung der CDU, die er betreibt, sicherlich ernsthaftere Figuren dafür vor. Man erinnere sich an die frühen 1930er Jahre, als Reichkanzler Brüning als Zentrumspolitiker ohne politische Mehrheit über Notstandsverordnungen die bonapartistischen Regime Hindenburg/von Papen bzw. Schleicher und schließlich die Machtergreifung Hitlers vorbereitete.
Diese autoritären und bonapartistischen Tendenzen wurden in den letzten Jahren vordergründig um Themen wie Migrations- und Sicherheits-, EU-Politik und die Repression gegenüber der Klimabewegung vorangetrieben. Dies jedoch auf Grundlage einer wachsenden Vielfalt an Krisen des globalen kapitalistischen Systems insgesamt – deren Auswirkungen auf Migrationsbewegungen, ökologische Megaprobleme, ökonomische Verschuldungs- und Stagnationsszenarien, Infragestellung überkommener Geschlechterverhältnisse etc. auch die politischen Rahmenbedingungen in Deutschland bestimmen. Wie immer gehen dabei Autoritarismus und Populismus ein System kommunizierender Röhren ein. Da die Auswirkungen der Krisenentwicklungen nicht an der kapitalistischen Wurzel gepackt werden bzw. die Kräfte, die dies in den Vordergrund stellen, schwach sind, dominieren Scheinlösungen, die nichts an der sich verschlechternden Lage ändern können. Dies gilt sowohl für die Mainstreamkonzepte wie ihre scheinbaren populistischen Alternativen. Natürlich wird sich mit einer repressiven Migrationspolitik, wie sie rechte Populist:innen oder die extreme Rechte vertreten, nichts an der zugrundeliegenden Krisensituation ändern. Regierungsbeteiligungen von Meloni bis zur FPÖ zeigen, dass sie vor allem ein Mehr an Autoritarismus und ansonsten nur weitere Verschlechterungen für die „kleinen Leute“ bringen, deren Wohl sie angeblich im Schilde führen. Der Rechtsruck stellt sich daher immer mehr als Verfestigung eines „autoritären Populismus“ dar, der für immer mehr Repression und Kürzung sozialer Leistungen eine immer größere unzufriedene, orientierungslose Masse mit seinen Scheinlösungen mobilisieren kann.
Natürlich ist für den autoritären Populismus das Feindbild entscheidend. Dies mögen vordergründig „die Ausländer:innen“, „der Klima- und Genderwahnsinn“ sein. Entscheidend ist jedoch, dass er auf der massenhaften kleinbürgerlichen Illusion in den Kapitalismus beruht: der würde doch für mein Geschäft, meinen Job, meine Wohnung, meine Urlaubsreise etc. sorgen, wenn er nicht durch „falsche Politik“ daran gehindert würde. Der Staat müsse sich vielmehr um „Ordnung und Sicherheit“ und die „Bewahrung unserer Kultur“ kümmern. Ob es nun das Geld ist, „das den Migranten hinterhergeschmissen wird“, oder die Belastungen durch „Klimawahnsinn“ oder die angeblich zum „Nachteil Deutschlands“ betriebene „Finanzierung der EU“ („die faulen Griech:innen“) – hinter der Wut gegen die unmittelbaren Opfer (Migrant:innen etc.) steht der Protest gegen ein angebliches „linkes Establishment“, das „entmachtet“ gehört, damit der deutsche Kapitalismus und seine staatliche Ordnung wieder vernünftig funktionieren. Genau deswegen reiht sich das BSW mit seinem Ludwig-Erhard-Wirtschaftsprogramm letztlich in diesen autoritären Populismus ein – und ist in seinem Sozialprogramm nicht unbedingt linker als Rechtspopulist:innen in anderen EU-Ländern (die AfD mit ihrem derzeit rechtsliberalen Wirtschafts- und Sozialprogramm ist da eher die Ausnahme).
Dezidiert faschistische Organisationen zeichnen sich eher durch eine in Teilen antikapitalistisch klingende Rhetorik aus, da sie vornehmlich zur Mobilisierung gegen linke Massenorganisationen dienen und dafür eine radikalere soziale Demagogie betreiben. Der Faschismus ist für die Bourgeoisie eine viel schwerwiegendere und gefährlichere Alternative, da er auch für die eigenen Interessen „Kollateralschäden“ mit sich bringt. Faschismus an der Macht ist eine wesentlich totalitäre Herrschaftsform von auf faschistischen Massenorganisationen gestützten Repressionsstrukturen – kurz, dient vor allem der Zerschlagung aller selbstständigen Klassenorganisationen der unterdrückten Klassen. Der Autoritarismus, auf den Teile der Bourgeoisie derzeit setzen, verschärft zwar Repression und politische Hetze, dient aber weitgehend einer kapitalistischen Krisenpolitik zugunsten der Verbesserung der Wettbewerbsposition des eigenen Kapitals durch ausgedehntere Ausbeutungsmöglichkeiten im Inneren wie Äußeren. Konservative, liberale und populistische Parteien können hierfür im Wechselspiel die entsprechenden politischen Mehrheiten organisieren – zumeist, wie immer, unter Beistand durch die Sozialdemokratie.
Oft jedoch werden Parteien des autoritären Populismus als Frontorganisationen von (post)faschistischen Organisationen gegründet – so wie das in Italien, Frankreich oder Schweden der Fall war. Faschist:innen können auch innerhalb rechtspopulistischer Parteien eine treibende Rolle spielen, wie dies bei der AfD der Fall ist (Höcke). Im Fall von Regierungsbeteiligungen und den folgenden unvermeidlichen Enttäuschungen mit der tatsächlichen Politik solcher Parteien können dann diese faschistischen Kerne Abspaltungen vorantreiben, die dasselbe Projekt in neuem Gewand von vorne beginnen – wie in Italien beim Übergang von der „Alleanza Nationale“ hin zur jetzigen Regierungspartei der Postfaschist:innen, der „Fratelli d’Italia“. Ähnlich gelagert ist die beständige „Selbstneuerfindung“ der FPÖ in Österreich nach den jeweiligen Regierungsbeteiligungsdesastern. In Deutschland ist eine Regierungsbeteiligung einer Partei wie der AfD mit offen rechtsextremen Flügeln sicher schwieriger. Auf Dauer ist daher das Wahlpotential einer solchen Nicht-Regierungspartei begrenzt und kann auch immer wieder zu Flügelbildungen und Abspaltungen führen. Jedoch ist die Existenz einer solchen Partei an sich genug, um die autoritären Tendenzen bei den anderen bürgerlichen Parteien zu stärken – letztlich eine immer rechter werdende CDU/CSU durch alle anderen Parteien permanent zu stützen und dabei als autoritäres Zentrum zu verfestigen.
Jedenfalls ist es eine Illusion, dass sich das Phänomen des autoritären Populismus entweder durch Regierungsbeteiligungen oder durch „Brandmauern“ von selbst erledigen könne oder „entzaubern“ ließe. Solange keine echte antikapitalistische Kraft in der gegenwärtigen Krisenperiode eine Alternative für die arbeitenden Massen repräsentiert, wird das Wechselspiel von Autoritarismus und Populismus heute solche Kräfte hervorbringen, erhalten und weiter wachsen lassen. Garantiert sind nur zunehmend autoritäres Staatshandeln und ein korrespondierend wachsendes Netzwerk rechter Milieus, Plattformen und Organisationen.
Diese politischen Rahmenbedingungen lassen eine weitere Verschärfung von repressivem Staatshandeln in verschiedenen Gebieten erwarten. Dies betrifft nicht nur die schon erwähnten Gebiete von Migrations- und Asylpolitik, „innerer Sicherheit“, Schulpolitik, Polizeiaufgabengesetze, Justizhandeln etc. Im Rahmen der Aufrüstungspolitik werden auch die Streitkräfte eine größere Rolle im Inneren spielen und alles, was ihrer Stärkung entgegensteht, massiv bekämpfen. Schließlich wird auch der „Kampf gegen den Terror“ zu verstärkten Überwachungs- und Präventivmaßnahmen führen. Angesichts der gestiegenen Möglichkeiten elektronischer Datensammlung und ihrer Auswertung z. B. durch KI werden immer mehr Personen und Organisationen in entsprechende Verdachtskategorien geraten und zu Zielscheiben solcher Maßnahmen werden. Die Verbotsverfahren gegen bestimmte „Ausländer:innenorganisationen“ lassen auch erwarten, dass im Gegensatz zu rechten bei linken Organisationen, Plattformen oder Initiativen sehr viel schneller gehandelt werden wird.
Im Kampf gegen diese wachsenden Tendenzen zu Autoritarismus und repressiver Verschärfungen ist natürlich die Organisierung von effektiver Gegenwehr notwendiger denn je. Dabei ist die Einheitsfront der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und der Unterdrückten das Gebot der Stunde. Auch wenn wir uns an den „Brandmauer“-/„Aufstehen gegen Rechts“-Demonstrationen beteiligten (die zumindest in einigen ländlichen Gebieten auch zu einer gewissen Vernetzung von Widerstand geführt haben), so warnen wir doch vor der Idee, solche breiten Bündnisse gegen speziell AfD und noch rechtere Organisationen könnten letztlich die allgemeine autoritäre Tendenz stoppen. Die „Brandmauer“ dient ja z. B. in Sachsen oder Thüringen zur Unterstützung von CDU-Regierungen, die letztlich genau die autoritäre und repressive Politik durchführen, die viele in solchen Bündnissen eigentlich auch bekämpfen wollen – unter dem Vorwand, dass die AfD noch Schlimmeres plane. Ein wirkliches Durchbrechen dieses Teufelskreises des autoritären Populismus kann nur gelingen, wenn der Kampf gegen rechts mit dem gegen die kapitalistische Krisenpolitik auf sozialem und ökologischem Gebiet verbunden wird. Dies betrifft sowohl den gegen die wachsende Zahl von Entlassungen, Sozialkürzungen, für die Aufteilung der Arbeit auf alle Hände etc. als auch die Umverteilung der Kosten der notwendigen ökologischen Transformation hin zu den Gewinneinkommen. Hierfür können sowohl Gewerkschaften, Klimabewegung wie auch die Linkspartei, aber auch Teile der SPD gewonnen werden. Insofern ist es in diesem Herbst notwendig, z. B. auf den geplanten Widerstandskongressen (die sich derzeit insbesondere aus Anti-AfD-Aktionen entwickeln) für ein solches Programm und das darauf basierende gemeinsame Handeln zu kämpfen. Dabei muss uns klar sein, dass die Grenzen der Legalität von diesem System immer enger gezogen werden. Es ist daher um so nötiger, radikalen Protest auf die Straße zu bringen, aber auch in Form von Aktionen in den Betrieben wirksam werden zu lassen, wenn wir tatsächliche Effekte erzielen wollen. Die wirksamste Waffe gegen den wachsenden rechten Autoritarismus ist letztlich der politische Massenstreik. Damit dieser Realität wird, braucht es aber vor allem eine Wende in der politischen Organisierung der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten. Gerade angesichts der Krise der Linkspartei ist daher der Aufbau einer tatsächlich revolutionären Arbeiter:innenpartei die Aufgabe aller Komunist:innen!