Arbeiter:innenmacht

China: Volksrepublik wird 75

Peter Main, Infomail 1265, 2. Oktober 2024

Am 1. Oktober jährt sich zum 75. Mal die Gründung der Volksrepublik China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). In diesen 75 Jahren haben sich zweifellos dramatische Veränderungen sowohl innerhalb Chinas als auch in seinen Beziehungen zum Rest der Welt vollzogen.

In erster Linie beendete der Sieg der KPCh ein Jahrhundert und mehr an ausländischen Interventionen und Kriegen, die das Land an den Rand des Zerfalls gebracht hatten. Unmittelbarer beendete er auch die Ausplünderung des Landes durch das Regime von Chiang Kai-shek (Tschiang Kai-schek), Washingtons bevorzugter Marionette.

In den ersten 40 Jahren der KPCh-Herrschaft kam es immer wieder zu abrupten Politikwechseln, da die Partei mit der Unmöglichkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb des engen Rahmens ihres Programms des Sozialismus in einem Land zu kämpfen hatte. 1976, als Mao starb, hielt das Wirtschaftswachstum nicht einmal mit dem Bevölkerungsanstieg Schritt. Innerhalb weniger Monate übernahm die Fraktion innerhalb der KPCh, die seit langem ein gewisses Maß an „Marktreformen“ befürwortet hatte, unter der Führung von Deng Xiaoping die Macht.

Erste Reformen Dengs

Die Auswirkungen seiner ersten Reformen waren in der Landwirtschaft am deutlichsten. Die Befreiung der Landwirt:innen vom Diktat der „Volkskommunen“ und die Ermöglichung des Verkaufs der Erzeugnisse führten sofort zu einem Produktionsanstieg, der mehrere Jahre lang bis zu 15 % pro Jahr betrug. Gleichzeitig begannen die kommunalen Werkstätten und die Leichtindustrie, die nie einer zentralen Planung unterworfen waren, sich zu gewinnorientierten Unternehmen zu entwickeln.

Da es weiterhin eine staatliche und geplante Industrie gab, ermöglichte dies zwei Preissysteme, den freien Markt und den geplanten. Dies förderte unweigerlich einen Schwarzmarkt mit korrupten Geschäften, was wiederum zu Inflation und weit verbreiteter Unzufriedenheit führte. Gleichzeitig wurden die Forderungen nach einer weiteren Marktöffnung, auch in der Industrie, lauter, und diese Kombination gab der Demokratiebewegung Auftrieb. Dies gipfelte in der Besetzung des Platzes des Himmlischen Friedens, die durch das Massaker am 4. Juni 1989 beendet wurde.

Innerhalb von drei Jahren beschloss die KPCh-Führung, die zentrale Planung abzubauen, die kleineren Einheiten der staatlichen Industrie zu privatisieren und die größeren in staatliche Unternehmen umzuwandeln, die nach kommerziellen Grundsätzen geführt werden sollten. Anders als in der Sowjetunion gab es keinen „großen Knall“. Im Gegenteil, es dauerte mehrere Jahre, bis der Übergang abgeschlossen war. Nichtsdestotrotz war es die Entscheidung, die Planung zu beenden, die das dramatische Wirtschaftswachstum einleitete, das China zur „Werkstatt der Welt“ des 21. Jahrhunderts machte.

Während dieser Jahrzehnte der Turbulenzen und des Wandels war ein Merkmal beständig: die Herrschaft der KPCh. Die Quelle ihrer Stärke liegt in ihrer Kontrolle über den gesamten Verwaltungsapparat der chinesischen Gesellschaft. Schon vor ihrer Machtübernahme 1949 regierte sie ein Gebiet mit einer Bevölkerung von 100 Millionen Menschen. In den „befreiten Zonen“ war es die Partei, die das zivile Leben kontrollierte, während ihr bewaffneter Flügel, die Volksbefreiungsarmee, zunächst gegen die Japaner:innen und dann gegen Chiangs Kuomintang die Kräfte mobilisierte.

Nach 1949 wurde ein Großteil der Überreste von Chiangs Verwaltung in das Regierungsmodell der KPCh übernommen, natürlich vorbehaltlich der Zustimmung des Sicherheitsdienstes der Partei. Das gesamte System wurde durch die Entscheidung, eine zentralisierte Planung nach sowjetischem Vorbild einzuführen, gestärkt, was zwangsläufig zu einer enormen Ausweitung des Kontroll- und Überwachungsnetzes der Partei führte.

Und was für eine Partei! Nachdem die KPCh ihre ursprüngliche Basis in der Arbeiter:innenklasse durch das Gemetzel von Chiangs Weißem Terror in den Jahren 1927/1928 und die meisten ihrer verbliebenen Mitglieder während des Langen Marsches verloren hatte, wurde sie als streng hierarchische stalinistische Partei mit den vom Krieg geforderten disziplinarischen Standards wiederaufgebaut.

Obwohl ein Großteil dieses Ethos beibehalten wurde, bedeutet das nicht, dass es in der Partei keine Veränderungen gegeben hat. Als sie 1949 an die Macht kam, stammte die große Mehrheit der 4 Millionen Mitglieder aus ländlichen Verhältnissen. Außerhalb der Führungsriege hatten nur wenige selbst nur die Grundschule abgeschlossen, aber natürlich hatten alle die Erfahrung mit Parteierziehung und -führung in einem Jahrzehnt des Krieges.

Die Ausweitung der Mitgliedschaft war von entscheidender Bedeutung, aber die Mitgliederaufnahme wurde streng kontrolliert. Die angehenden Mitglieder mussten nachweisen, dass sie die Politik der Partei verstanden hatten, und die Fortschritte wurden sorgfältig überwacht, um die uneingeschränkte Loyalität gegenüber der Führung zu gewährleisten. Mitte der 1980er Jahre zählte die Partei rund 45 Millionen Mitglieder, von denen jedoch mehr als die Hälfte nur über eine Grundschulausbildung verfügte. Zehn Jahre nach dem Beschluss, die Planung abzuschaffen, hatten 52 % der Mitglieder die Sekundarstufe abgeschlossen und 23 % einen Hochschulabschluss.

KPCh heute

Natürlich war die Partei selbst stark von den Reformen betroffen. Das änderte jedoch nichts an ihrer Rolle, ihrem Ethos oder ihrer verfassungsmäßig festgelegten „Führungsposition“. Heute hat sie 98 Millionen Mitglieder, die in fast allen Bereichen des chinesischen Lebens eine führende Rolle spielen. Wo immer es in einer Institution oder einem Unternehmen nur drei Mitglieder gibt, müssen diese eine Zelle der Partei bilden, und die nächsthöhere Ebene ernennt eines zum/r Zellenleiter:in. Auf diese Weise entsteht eine Befehls- und Berichtskette, die sich von Peking bis hinunter in fast jedes Dorf und jede Nachbarschaft, jedes große Unternehmen, jede Universitätsabteilung und Schule im Land erstreckt.

Dennoch hat sich die Zusammensetzung der Partei weiter verändert: Mehr als die Hälfte der Mitglieder hat jetzt einen Hochschulabschluss, und 35 Millionen werden als „Manager:innen, Fachleute, Verwalter:innen oder Parteifunktionär:innen“ bezeichnet. Während 26 Millionen Landwirt:innen oder Fischer:innen sind, finden wir nur 6,7 Millionen Arbeiter:innen in der KPCh.

Eine so große Mitgliederbasis ist zweifellos eine Quelle der Stärke für die Partei, sie kann aber auch zu einer fatalen Schwäche werden. In einer kapitalistischen Wirtschaft gibt es zwangsläufig unterschiedliche Wachstumsraten, unterschiedliche Prioritäten und  Probleme in verschiedenen Sektoren, Städten und Provinzen. Diese werden mit Sicherheit innerhalb der Partei zum Ausdruck kommen, und die dadurch entstehenden Spannungen sind die Ursache für die zunehmend autokratische Herrschaft des Parteivorsitzenden Xi Jinping.

Obwohl die Partei die rasante kapitalistische Entwicklung Chinas bis hin jetzt zu einer Weltmacht, einer imperialistischen Macht, überwacht hat, bleibt sie in dem von ihr geschaffenen Verwaltungs- und Sicherheitsapparat verwurzelt. Kapitalist:innen können der Partei beitreten und tun dies auch, und einige sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich daher einfach um eine weitere bürgerliche Partei handelt, die die Interessen der neuen Milliardär:innen verfolgt, aber das ist zu vereinfacht. Es gibt keine 98 Millionen Kapitalist:innen, geschweige denn Milliardär:innen, in China.

Chinas Kapitalist:innen sind sich jedoch sehr wohl bewusst, dass die Politik der Partei ihren wirtschaftlichen Einzelinteressen durchaus auch im Wege steht. Am deutlichsten wird dies im Bausektor, wo die Politik der Finanzierung der Kommunalverwaltungen hauptsächlich durch Grundstücksverkäufe zur Verschuldung nicht nur großer Unternehmen wie Evergrande und Country Garden, sondern auch vieler Provinz- und Kommunalregierungen geführt hat.

Die Auswirkungen auf die übrige Wirtschaft sind unübersehbar: Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes ging in jedem der letzten fünf Monate zurück, und das Forschungsunternehmen Caixin meldete einen weiteren Rückgang der Auftragseingänge, sowohl im Inland als auch im Export. Die Regierung reagierte in der Woche vor dem Nationalfeiertag mit einer Senkung des Mindestreservesatzes für Banken und einer Senkung der Zinssätze. Diese Freigabe von Mitteln hatte die unmittelbare Folge, dass die Aktienmärkte in Shanghai und Shenzhen um etwa 15 % stiegen, was aber für die Wirtschaft insgesamt kaum einen Unterschied machen wird.

Arbeitskämpfe

In den sechs Monaten vor dem Nationalfeiertag verzeichnete das China Labour Bulletin über 700 Streiks in ganz China, von denen sich die überwältigende Mehrheit gegen die Nichtzahlung der Löhne richtete, häufig als Folge der Schließung und Flucht der Unternehmer:innen. Selbst eine so hohe Zahl von Streiks bringt keinen sichtbaren organisatorischen Ausdruck, denn unter der bürokratischen Diktatur der KPCh ist jede unabhängige Organisation der Arbeiter:innenklasse ungesetzlich, und Widerstand ist gefährlich.

Nichtsdestotrotz zeigen die Zahlen, dass die Arbeiter:innenklasse bei weitem nicht die fügsame Masse ist, die die Pressebilder von langen Reihen an Produktionslinien vermuten lassen. Vielmehr verfügt die Klasse, die heute etwa 800 Millionen Menschen umfasst, einschließlich aller Familienangehörigen, über eine breite Kampferfahrung und konnte erhebliche gesetzliche Zugeständnisse und Lohnerhöhungen erzwingen. Der anhaltende wirtschaftliche Abschwung wird wahrscheinlich auch weiterhin die Abwehrkämpfe fördern.

Die Interessen der beiden großen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft, der Bosse

und der Arbeiter:innen, sind daher durch die bürokratische Diktatur der KPCh stark eingeschränkt. Gewiss, solange die Mehrheit der Bourgeoisie weiterhin von der Ausbeutung der Arbeiter:innen profitiert, die das Regime der Partei sichert, wird sie sich nicht gegen letztere organisieren, sondern versuchen, sie von innen zu beeinflussen. Ein anhaltender wirtschaftlicher Niedergang wird jedoch die Spaltungen innerhalb der Partei verschärfen, und diese werden durch die wachsende Militanz der Arbeiter:innenklasse zunehmen.

In einem solchen Szenario können nicht nur wirtschaftliche, sondern auch demokratische Forderungen Millionen von Menschen mobilisieren, und Revolutionär:innen werden sich für eine demokratische Selbstorganisation der Arbeiter:innen an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Bezirken einsetzen, unabhängig von allen bürgerlichen Parteien, die ebenfalls gegründet werden könnten. Um die Kämpfe der Arbeiter:innen zu koordinieren und zu führen, ist eine neue Arbeiter:innenpartei notwendig, eine Partei, die sich nicht nur für den Sturz der bürokratischen Diktatur der KPCh einsetzt, sondern auch für den Sturz des kapitalistischen Systems, das diese wiederhergestellt hat.

Die 75-jährige Geschichte der Volksrepublik China verlief stürmisch. Sie hat die neueste imperialistische Macht erschaffen wie auch die größte Arbeiter:innenklasse, die die Welt je gesehen hat. Das lässt künftige Stürme vorhersehen, die einen wahrhaft geschichtlichen Einfluss auf die ganze Welt ausüben werden. Für einen sicheren Kompass durch all diese Auseinandersetzungen bedarf es nicht nur einer neuen Kommunistischen Partei in China, sondern auch einer neuen, Fünften, Internationale.

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