Arbeiter:innenmacht

Sri Lanka am Wendepunkt?

Peter Main, Infomail 1265, 1. Oktober 2024

Die Wahl von Anura Kumara Dissanayake, dem Kandidaten des Wahlbündnisses National People’s Power (NPP; Neue Volksmacht), zum Präsidenten von Sri Lanka stellt einen dramatischen Einschnitt in der politischen Geschichte der Insel dar. Sie ist der Höhepunkt einer Regierungskrise, die im Jahr 2022 mit der „Aragalaya“, dem Aufstand gegen die korrupte Herrschaft von Gotabaya Rajapaksa, begann.

Der Aragalaya

Die Massenproteste, die mit der Stürmung des Präsidentenpalastes und der Flucht von Rajapaksa endeten, begannen mit Demonstrationen von relativ gut situierten Einwohner:innen, die schließlich von der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Lage betroffen waren. Bald schlossen sich ihnen Tausende andere an, die ein dauerhaftes Lager auf dem Galle Face Green (Stadtpark an der Seepromenade in Colombo) errichteten.

Die Vertreter:innen der wichtigsten politischen Parteien, die Sri Lanka seit dem Abzug der Brit:innen im Jahr 1948 regierten, fehlten gänzlich. Und das aus gutem Grund – der Aragalaya selbst signalisierte ihre Ablehnung durch die große Mehrheit der Bürger:innen. Wie es sich gehört, trafen sich die „etablierten“ politischen Führer:innen, um einen Weg zu finden, die Unruhen, die sich nun auf den Rest der Insel ausbreiteten, niederzuschlagen und gleichzeitig ihre eigenen Privilegien zu verteidigen.

Ihr größter Trumpf war dabei das Fehlen einer politischen Führung unter den wütenden Massen. Nachdem die unmittelbare Forderung „Gotabaya Go!“ erfüllt war, begann die gesamte Bewegung zu erlahmen. Ein Rettungsplan wurde schnell zusammengeschustert. Der altgediente ehemalige Premierminister Ranil Wickremesinghe, der zwar keinen Parlamentssitz für sich gewinnen konnte, aber einen über die nationale Liste seiner Partei erhielt, wurde von einer Reihe seiner vermeintlichen politischen Gegner:innen, darunter vor allem dem verbliebenen Rajapaksa-Clan, zum Präsidenten ernannt.

Taktik der JVP

Obwohl ebenfalls nicht auf dem Galle Face Green vertreten, war eine Partei nicht an dieser Demonstration des Betrugs der parlamentarischen Demokratie beteiligt: die Janatha Vimukthi Peramuna (JVP; Volksbefreiungsfront). Die Mitte der 1960er Jahre als aufständische Kraft gegründete Partei, die stark von den militärischen und politischen Strategien von Mao Zedong (Mao Tse-tung) und Che Guevara beeinflusst war, hatte bereits mehrere abrupte Politikwechsel hinter sich.

Dazu gehörten zwei abenteuerliche bewaffnete Aufstände, eine Mobilisierung zur Niederschlagung des Generalstreiks von 1980, eine mörderische bewaffnete Kampagne gegen die Linke in den 1990er Jahren, eine Hinwendung zum Wahlkampf und der Eintritt in eine Koalitionsregierung, in der Dissanayake Minister war, sowie die Unterstützung des barbarischen Krieges von Mahinda Rajapaksa gegen die Tamil:innen.

Jetzt, da sie nur noch drei Parlamentssitze hat und nicht mehr an den Vergünstigungen der Regierung teilhaben darf, wandte sie sich dem Wahlkampf an der Basis zu, verwässerte ihre Politik in der NPP und hielt auf der ganzen Insel Kundgebungen ab, um die Regierung Wickremesinghe zu verurteilen. Das war ein gut durchdachter Schachzug. Indem sie sich als „Außenseiterin“ präsentierte, die im Gegensatz zu allen etablierten Parteien steht, sprach die NPP das Wahlvolk an über die vielen ethnischen, kulturellen und religiösen Spaltungen hinweg, die normalerweise von allen Parteien, einschließlich der JVP, gefördert werden.

Während er sich gegen viele der von Wickremesinghe geforderten Maßnahmen aussprach, versicherte Dissanayake den Mittelschichten, dass er nur versuchen würde, einige der schlimmsten Aspekte des Abkommens mit dem IWF zu ändern. Dies würde sicherstellen, dass die nächste Tranche der IWF-Rettungsgelder fließen würde, falls er gewählt würde. Es ist ein Indiz für das Ausmaß des Misstrauens gegenüber den früheren Herrscherdynastien, dass ein solches in sich widersprüchliches politisches Programm ausreichte, um ihm die Präsidentschaft zu sichern.

Was nun?

Angesichts einer ablehnenden Parlamentsmehrheit hat er das Naheliegende getan und das Parlament aufgelöst. Am 14. November werden Wahlen abgehalten, und angesichts der Unordnung in den ehemaligen Regierungsparteien kann er vernünftigerweise mit großen Veränderungen in der parlamentarischen Arithmetik rechnen. Dann wird ein neues Kapitel beginnen.

Dieses Kapitel wird von Dissanayakes Versuch dominiert werden, das IWF-Paket umzusetzen, das, selbst wenn einige kosmetische Änderungen ausgehandelt werden, weitere Angriffe auf den Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung bedeutet. Die JVP ist keine Arbeiter:innenpartei, aber sie hat die Führung mehrerer Gewerkschaften. Die Mitglieder aller Gewerkschaften, aber insbesondere diese, sollten von ihren Führer:innen verlangen, dass sie ihre Aktionen koordinieren, um sich jedem Versuch zu widersetzen, die andauernde Wirtschaftskrise Sri Lankas auf Kosten der Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innen und Fischer:innen zu lösen.

Längerfristig sollte die Priorität für die Aktivist:innen der verschiedenen kleinen sozialistischen Gruppen darin bestehen, Taktiken für den Aufbau einer Arbeiter:innenpartei zu entwickeln, die wirklich in der Arbeiter:innenklasse verwurzelt ist. Es ist unwahrscheinlich, dass dies durch individuelle Rekrutierung in den bestehenden Gruppen geschehen wird, von denen keine/r der Kandidat:innen bei den letzten Wahlen auch nur 1 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Obwohl die Gewerkschaftsbewegung stark zersplittert ist, ist sie sicherlich der Ausgangspunkt für die Entwicklung gemeinsamer Initiativen und Kampagnen zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter:innenklasse. Durch eine solche Arbeit können die engagiertesten Aktivist:innen für die Notwendigkeit einer neuen politischen Partei gewonnen werden, die für die Interessen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten auf der ganzen Insel kämpft. Innerhalb dieser Partei werden Revolutionär:innen für eine werben, die sich für die Durchsetzung dieser Interessen durch den Sturz der gesamten kapitalistischen Ordnung und die Bildung eines Staates einsetzt, der auf den eigenen Organisationen der Arbeiter:innen beruht.

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