Arbeiter:innenmacht

Tarifkommissionen und Demokratie

Mattis Molde, Neue Internationale 273, Mai 2023

Selten sind Gewerkschaften so präsent wie in Tarifrunden. Gerade in Deutschland haben sie wenig Rechte gegenüber den Betriebs- und Personalräten, die Gewerkschaften an den Rand drücken oder hinter denen sich letztere verstecken können. Aber Tarife dürfen Betriebs- und Personalräte im Grundsatz nicht abschließen und schon gar nicht zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Die undemokratische Rechtslage in Deutschland erlaubt faktisch, Streiks nur zum Zwecke von Tarifregelungen durchzuführen und nur gewerkschaftlich organisierte Arbeitskämpfe garantieren ihren Mitgliedern Schutz vor Repression durch die Unternehmen.

Plötzlich unterbricht also eine Tarifrunde das gewohnte Arbeitsleben, die alltägliche Ausbeutung, für die Beschäftigten und für die Gewerkschaftsverantwortlichen ebenso: Wenn sie als Berufsfunktionär:innen in ihren Büros agieren, haben sie fast null Kontakt mit der Mitgliedschaft. wenn sie im Betrieb angestellt, vielleicht auch im Betriebsrat sind, ist ihr Kontakt zur dortigen Führungsebene gerade in den Großbetrieben und in der öffentlichen Verwaltung oftmals deutlich intensiver als zur arbeitenden Mitgliedschaft. In einer Tarifrunde muss also eine direktere Kommunikation und eine andere Entscheidungsfindung her.

Tarifkommissionen und Apparat

Es gibt also Urabstimmungen und Tarifkommissionen, eher neu sind „Teamdelegierte“ und Ähnliches, die aber im Grunde die Rolle ausfüllen, die eigentlich Vertrauensleute spielen sollten. Diese gibt es in den meisten Unternehmen kaum noch. Sie sind der immer stärkeren Entfremdung zwischen Gewerkschaftsapparat und Basis zum Opfer gefallen. Ihre Tätigkeit erfordert Engagement, das selten belohnt wird und von dem sich die Bürokrat:innen und Betriebsratsfürst:innen überwiegend gestört fühlen. Umgekehrt können einzelne engagierte Basisaktivist:innen nur dann etwas bewirken, wenn sie sich vernetzen und aufbauen, um durchzuhalten, auch wenn sich die Bürokrat:innen sehr gestört fühlen.

Tarifkommissionen können zwar auch für einzelne Konflikte gebildet werden, für die bestehenden Tarifstrukturen – eine bestimmte Branche in einem bestimmten Tarifgebiet – sind sie aber sehr beständig, z. B. für die Metall- und Elektroindustrie Bayern. Sie diskutieren vor einer Tarifrunde die Forderungen und beschließen sie. Sie wählen eine Verhandlungskommission, debattieren die Angebote der Gegenseite und beraten das Vorgehen. Sie können Verhandlungen für gescheitert erklären und beim Gewerkschaftsvorstand die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen, also Streiks, beantragen.

Sie könnten das Herzstück demokratischer, kollektiver Willensbildung im Kampf sein. Sie sind weit davon entfernt. Faktisch sind die meisten etablierten Tarifkommissionen eine von Führung und Bürokratie kontrollierte und sich selbst reproduzierende Struktur des Apparates und vom diesem ausgewählter Ehrenamtlicher.

Alle Gewerkschaften in der BRD regeln die Tarifkommissionen nicht in der Satzung, sondern in Richtlinien. Diese können von Vorständen oder Beiräten beschlossen werden, sie müssen nicht durch den Gewerkschaftstag. Damit ist einerseits sichergestellt, dass die Mitgliedschaft keine Rechte aus diesen Richtlinien erhält. Wegen des Verstoßes dagegen kann man zwar kaum jemanden ausschließen. Allerdings haben sich die Spitzen der Bürokratie abgesichert. Letztlich kommt in wohl keiner DGB-Gewerkschaft jemand in eine Tarifkommission gegen den Willen des Apparates.

Zur Illustration des Mechanismus nehmen wir kurz die Richtlinien der IG Metall zur Hand, wo es heißt: „Die Mitglieder der Tarifkommissionen werden von der Delegiertenversammlung gewählt. Die Vorschläge für die Wahl werden vom Ortsvorstand gemacht.“

Mit anderen Worten: Nur wer aus Sicht der lokalen Chef:innen geeignet ist, darf von den Delegierten gewählt werden – eine Wahl à la Volkskammer der DDR. Wer „falsch“ in der Tarifkommission abstimmt, riskiert seine „Wiederwahl“ beim nächsten Mal. Das erklärt die hohen „Zustimmungsraten“ zu schlechten Tarifverträgen. Andere Gewerkschaften haben ähnliche Richtlinien.

Die Sicherung der bürokratischen Kontrolle stellt daher auch den zentralen Zweck dar, warum Debatten und die Entscheidungsfindung der Tarifkommissionen geheim sind. Nur der Beschluss wird verkündet, meist ohne Abstimmungsergebnis. Welche Alternativen und Minderheitsmeinungen gab es? Welche Argumente dafür und dagegen? Wie hat mein/e Vertreter:in abgestimmt? Darüber erfährt die Mitgliedschaft nichts.

Die übliche Begründung für die Geheimhaltung ist, dass die Gegenseite ja nicht die Chance haben darf, auf einzelne Mitglieder der Tarifkommission Druck auszuüben. Die Bürokratie tut so, als ob sie die radikalen Basisvertreter:innen schütze. In Wirklichkeit kappt sie diese von ihrer Basis. Sie dürfen nichts berichten, schon gar nicht, dass sie möglicherweise einen Gegenvorschlag eingebracht haben, und mit welchen Argumenten und mit wessen Stimmen dieser abgelehnt worden ist. Der/die radikale Basisvertreter:in muss stattdessen die Meinung der Mehrheit präsentieren und verteidigen – nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern gegenüber der Basis, der damit jede Kontrolle und Einflussmöglichkeit auf die Entscheidungen genommen wird.

Verschwiegenheitspflicht

Die Logik der Verschwiegenheitspflicht ist „Einheit im Kampf“. Sie ist völlig richtig, wenn Gewerkschaften als Klassenorganisationen handeln und kämpfen. In den realen existierenden Gewerkschaften, die nicht nur hierzulande durch und durch von einer Bürokratie beherrscht werden, die bürgerliche Agent:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung sind, ist die Verschwiegenheitspflicht nur ein weiteres Mittel zur Kontrolle dieser Organisationen durch die reformistische Führung – ein Mittel, das sie gerade dort braucht, wo sie selbst am stärksten unter den Druck der Massen geraten kann. In einem Tarifkampf herrscht nicht die tägliche Gewerkschaftsroutine, wo es nur in Ausnahmefällen vorkommt, dass Massen sich spontan gegen die Zumutungen und Angriffe des Kapitals mobilisieren, und die Bürokratie nicht nur das Feld beherrscht, sondern sich auch als die Trägerin des Fortschritts und der gewerkschaftlichen Aktivität darstellen kann. Tarifkämpfe, erst recht in Streiks, können außer Kontrolle geraten – aus Sicht der Bourgeoisie und der Bürokratie, die hier dieselbe Sichtweise haben.

Die Rolle der Bürokratie aber ist eine besondere: Sie kann und soll sich nicht der Streikbewegung entgegenstellen wie so viele andere Agent:innen der Bourgeoisie in den Medien und ihren Parteien und natürlich deren Vertreter:innen selbst. Sie soll den Kampf kontrollieren und in ihrem Sinne lenken – von innen heraus. Deshalb braucht sie auch originäre Vertreter:innen des Kampfes in diesen Kommissionen. Einmal, um zu wissen, was die Avantgarde will, und zweitens, um deren Vertreter:innen möglichst gut einzubinden. Es hilft der reformistischen Gewerkschaftsführung nichts, wenn ein solches Organ nur mit eingesessenen Betriebsratsfürst:innen besetzt ist, die ihrerseits den Kontakt zur potentiell spontanen Basis verloren und bei dieser schon lange das Vertrauen verspielt haben.

Wie damit umgehen?

Die Verschwiegenheitspflicht muss bekämpft werden. Das ist ein wichtiger Bestandteil des gesamten Kampfes dafür, dass die Basis die Kontrolle über die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und die Gewerkschaften selbst bekommt. Bei Tarifkämpfen müssen sich alle Versammlungen das Recht nehmen, Beschlüsse und Aufträge zu erteilen: die Forderungshöhe, ihre Struktur, die Laufzeit, aber auch die Kampfmittel: Warnstreiks, Tagesstreiks, Vollstreiks. Für den Erfolg im Kampf – nicht nur in einer Tarifrunde, sondern in jedem Klassenkampf – ist es notwendig, dass die Klasse lernt, ihn selbst zu führen. Natürlich sind rein gewerkschaftliche Dispute noch weit davon entfernt, aber sie sind auch eine Form, in ihnen können nicht nur Selbstorganisation und -vertrauen der Lohnabhängigen massiv erhöht, sondern auch das Bewusstsein weiterentwickelt werden.

Gerade weil die Befreiung der Arbeiter:innen nur das Werk der Arbeiter:innen selbst sein kann, wäre es für revolutionäre Politik vollkommen unzulänglich, nur die Vertreter:innen in den Kommissionen (oder im Apparat und in den Vorständen) zu ersetzen. Revolutionäre Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit bedeutet auch, für ein grundlegend anderes Verhältnis von Basis und Führung einzutreten. Selbst, wenn es keinen reformistischen Apparat in den Gewerkschaften gäbe, sondern einen revolutionären, müssten die Entscheidungen über die Kampfführung so direkt wie möglich in den Händen der Basis liegen, die diese Entscheidungen durch aktuell gewählte und jederzeitige abwählbare Delegierte koordiniert. Die Autorität der Führung müsste sich darauf stützen, überzeugende und klare Vorschläge bezüglich der Forderungen und der Kampftaktik vorzulegen und politische und gewerkschaftliche Kämpfe mit Umsicht, Klarheit und Entschlossenheit zu führen.

Die aufgestellten Forderungen und vergebenen Aufträge müssen stets auch verfolgt werden. Vorstände und Delegierte, gerade auch die Tarifkommission, müssen berichten, was damit passiert ist und wie sie sich dabei verhalten haben. Dieser Rechenschaftspflicht versuchen Bürokrat:innen gerne zu entkommen, vor allem, wenn ihnen die Aufträge und Beschlüsse missfallen.

Wenn linke Basisaktivist:innen selbst für eine Tarifkommission kandidieren oder vorgeschlagen werden, ist es wichtig, von vornherein zu erklären, dass sie Rechenschaft ablegen und berichten werden. Dabei ist es wichtig und günstig, das nicht bloß als individuelle held:innenhafte Aktion durchzuführen, sondern von Beginn an die Basis (also die Wähler:innen) in diese Vorgehensweise einzubinden. Die versammelten Streikaktivist:innen z. B. sollen abstimmen, ob sie einen Bericht wollen über die Debatte und Entscheidung der Tarifkommission. Damit wird auch deutlich, dass das „Brechen“ der Verschwiegenheit kein Akt einer Person ist, sondern dem Willen der Mitglieder entspricht.

Die führenden Bürokrat:innen vollführen einen oft geübten Trick: Sie erzählen den frisch Gewählten nach der ersten Sitzung der Tarifkommission, dass es aber Verschwiegenheitspflicht gebe und diese unbedingt eingehalten werden müsse – ein erster Test, ob diese Kolleg:innen empört zurücktreten oder das erste Mal kapitulieren. Beides ist für die Reformist:innen o. k. Was sie nicht wollen, ist eine strukturierte und bewusste Opposition.

Diese ist aber letztlich das, was die kämpferischen Basisaktivist:innen brauchen, wenn sie die – für die oppositionelle Basis – errungene Position verteidigen und dabei nicht kapitulieren wollen. Das Bewusstsein und die mentale Stärke der und des Einzelnen sind wichtig, aber entscheidend ist der Aufbau einer von der reformistischen Bürokratie unabhängigen Kraft. Nur damit kann dem organisierten bürokratischen Vorgehen etwas entgegengesetzt werden.

Eine organisierte oppositionelle Kraft kann auch taktisch das bürokratische Spiel durchbrechen. Immer wieder kommen einzelne Fakten auch aus den Tarifkommissionen ans Licht, die die Tricks und Kungelei des Apparates enthüllen. Denn die Bürokratie hält sich nicht an ihre eigenen Regeln. Sie selbst darf ihr Informationsmonopol nutzen, wenn sie es für opportun hält. Eine vernetzte Basis kann diese Infos sammeln und verbreiten.

Das gilt nicht nur für Tarifkommissionen. Eine beliebte Methode ist es, kritischen Versammlungen zu erklären, dass leider niemand außer ihnen das so sehe, vor allem nicht in anderen Bezirken. Also sollte, um überhaupt ernst genommen zu werden, die Forderung etwas moderater, die Kritik etwas entschärft werden. Auch dagegen ist Öffentlichkeit unersetzbar. Berichte und Beschlüsse aus anderen Gremien und Versammlungen müssen verbreitet werden, gerade damit sich die Mitglieder ein objektives Bild machen können und nicht aufs Informationsmonopol des Apparates angewiesen sind.

Um ernsthaft Tarifrunden unter die Kontrolle der Gewerkschaftsmitglieder zu bekommen, ist nicht nur eine massive Demokratisierung der Gewerkschaften nötig. Es braucht vor allem einen politischen Kampf gegen den Reformismus, die Unterordnung der Arbeiter:innenorganisationen unter die Bourgeoisie und ihren Staat. Für die Tarifkommissionen und Tarifrunden allgemein heißt das:

  • Recht jedes Mitgliedes zu kandidieren.
  • Nur von den Tarifverträgen Betroffene können gewählt werden. Hauptamtliche Gewerkschafter:innen haben also nur beratende Funktion.
  • Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit.
  • Keine Verschwiegenheitspflicht, gewerkschaftsinterne Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse.
  • Öffentliche Tarifverhandlungen, keine Abschlüsse ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung der Mitglieder.
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