Arbeiter:innenmacht

Vorläufige Bilanz des Berliner Klinikstreiks: Vor der Entscheidung?

Jürgen Roth, Neue Internationale 259, Oktober 2021

In der Entgelttarifrunde für den öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden in diesem Frühjahr wurde er angekündigt: der Kampf für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) bei den Berliner Kliniken Vivantes und Charité. Die dortigen Beschäftigten holten ihre KollegInnen der ausgegliederten Vivantes-Tochterunternehmen (VSG) für eine Angleichung an den TVöD ins Boot, steigerten ihren gewerkschaftlichen Organisationsgrad deutlich und organisierten eine erfolgreiche Unterschriftensammlung für ihre Vorhaben in den Betriebsteilen. Lt. ver.di (Ver.di Publik 6/2021) sind seit März weit über 2.000 KollegInnen Gewerkschaftsmitglied geworden, davon 1.000 allein in den letzten 2 Monaten. Mit der Corona-Pandemie war die Situation noch schlimmer geworden. Das hatte viele dazu gebracht zu sagen: „Jetzt reicht’s!“

Fast 9.000 Unterschriften konnten sie sammeln und Ende Mai dem Senat übergeben, verknüpft mit einer 100-Tagefrist, um die Forderungen umzusetzen. Nach deren Ablauf und diesbezüglicher Untätigkeit der Landes- und Stadtregierung erfolgten ab Ende August mehrtägige Warnstreiks. Nach äußerst erfolgreicher Urabstimmung (ca. 98 % Zustimmung) kam es dann ab dem 9. September zu Vollstreiks, unbefristet beim nichtärztlichen medizinischen Personal und übers Wochenende ausgesetzt bei der VSG. Die Tochterunternehmen der Charité blieben mit Ausnahme des Labors Berlin, einer gemeinsamen Einrichtung mit Vivantes, außen vor, weil sie schon zuvor eine Angleichung an den TVöD erkämpft hatten.

Ablauf

Viele Teams auf Station und in den Funktionsabteilungen hatten ausgerechnet, wie viel Personal nötig ist, um gut arbeiten zu können. Frühzeitig kündigten die Pflegekräfte an, wie viele sich am Streik beteiligen wollten, und forderten die Arbeit„geber“Innen auf, die Bettenbelegung bis hin zur Schließung der ganzen Station zu reduzieren. Bereits während des dreitägigen Warnstreiks im August wurden auf diese Weise bei Charité und Vivantes über 10 Stationen stillgelegt. Die Notfallversorgung war gesichert, oft genug durch von den Beschäftigten aufgestellte Pläne, denn nicht immer kam es zu einer einvernehmlichen Notfallregelung. Nichtsdestotrotz gab es Einrichtungen, wo während der Arbeitszeit kaum eine/r streiken konnte angesichts der dürftigen Personalausstattung im „Normalzustand“ (z. B. im Mutter-Kind-Zentrum Vivantes Neukölln).

Verhandlungen

Eigentlich sollte vor den Wahlen alles in Sack und Tüten sein, doch die Gespräche scheiterten. Viele Streikende werden sicher darauf hoffen, dass eine Lösung Teil der Berliner Koalitionsverhandlungen wird. Am Tag 20 der Arbeitskampfmaßnahmen (28.9.2021) standen mehr als 1.000 KollegInnen im Vollstreik, noch einmal mehr als in der Woche zuvor.

Eine „gewisse Ungleichzeitigkeit“ bei den Verhandlungsständen konstatiert Melanie Guba (ver.di-Tarifkommission Charité). Hier habe man sich bzgl. Mindestpersonalbesetzung, Freizeitausgleich und Ausbildungsverbesserungen angenähert. Unklar bleibe, wie die Personalsituation verbessert werden soll. Deshalb reicht auch die Forderung nach Freizeitausgleich nicht, wenn es nicht zu einer Qualifizierungs-, Ausbildungs- und Einstellungsoffensive kommt!

Tim Graumann, Verhandlungsführer für den TVE bei den Vivantes-Mutterunternehmen, spricht dagegen von einem deutlich schleppenderen Verlauf. Das alte Angebot war sehr vage gehalten und knüpfte die Aufnahme von Unterredungen an die Bedingung, den Streik auszusetzen. Man wollte Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verbessern. Zu den gewerkschaftlichen Forderungen nach mehr Praxisanleitung für Azubis und personeller Mindestbesetzung bzw. Belastungsausgleich bei deren Unterschreitung fand sich kein Wort. Konkret war nur vom Ende des Arbeitskräfteleasings die Rede.

Trotz fortlaufender Streiks legte die Geschäftsführung dann am 23.9.2021 ein Eckpunktepapier vor, das Graumann als unzureichend in puncto Verbindlichkeit der Umsetzung des Tarifwerks bezeichnete. Nach Sondierungen am 26.9. sollten weitere Gespräche folgen. Laut dem Bündnis Gesundheit statt Profite hatte der Konzern diesen Gesprächstermin abgesagt (Neues Deutschland, 29. September 2021).

Stand Ende September hatte Vivantes immerhin zugesagt, über den von ver.di gewünschten TVE überhaupt zu verhandeln. Im Einzelnen: Einen Ausgleichstag  bei Unterschreitung der Mindestpersonalgrenzen bietet der kommunale Konzern erst nach 12  unterbesetzten Schichten an, bei den Auszubildenden erst nach 48 (zum Vergleich: bei den Uniklinka gibt es diesen Ausgleichstag bei 5 Schichten).

Zum zweiten Thema neben Entlastung, der Angleichung der Einkommen und Bedingungen der Tochterunternehmen der beiden Klinikmütter (VSG im Fall von Vivantes und Labor Berlin auch bei der Charité), schlug Vivantes eine Angleichung bis 2028 (!) unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Häuser vor. Also wenig mehr als nichts. Auch nichts dazu, wie hoch Zulagen, Zuschläge und Weihnachtsgeld und die Angleichungsschritte in den Tabellen ausfallen sollen. Die Verhandlungssituation ist lt. ver.di-Unterhändler, Ivo Garbe, seitdem eskaliert: Erstens habe man mit den Medizinischen Versorgungsunternehmen (MVZ), niedergelassenen Praxen, die die Kliniken mit angestellten ÄrztInnen betreiben, und dem gemeinsam mit der Charité unterhaltenen Labor Berlin zwei Betriebe von den Verhandlungen für einen TVöD ausgeschlossen. Zweitens habe ver.di die Arbeit„geber“Innen zweimal an den Verhandlungstisch gebeten – bisher ohne Rückmeldung.

Die Krankenhausbewegung darf sich von solchen Schikanen nicht spalten lassen! Sie muss auf gemeinsamem Abschluss für alle drei Betriebe bestehen und darf die VSG, insbes. die MVZ und das Labor Berlin nicht im Regen stehen lassen. Analog gilt dies auch für den TVE: Kein Separatabschluss bei der Charité ohne Gleiches für die Vivantes-Häuser! Angesichts der Streikstärke erscheint das als realistisches Unterfangen. Es ist aber ratsam, die während der Verhandlungen weitestgehend unterbrochenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Beschäftigten gerade jetzt wieder aufzunehmen, wo Vivantes, Labor Berlin, MVZ und VSG dringender denn je die Solidarität der KollegInnen und Berliner ArbeiterInnenschaft brauchen!

Stärken des Streiks

Neben dem versuchten Schulterschluss mit anderen Beschäftigten und sozialen AktivistInnen, der erfolgreichen Mitgliederwerbung für ver.di, der Unterschriftensammlung seien hier 2 Punkte erwähnt, die bei sonstigen Arbeitsstreitigkeiten oft fehlen: Die Krankenhausbeschäftigten wurden von Anfang an nicht müde, ihr Anliegen in die breitere Öffentlichkeit zu tragen und in diesem Sinne zu politisieren. Es verging kaum ein Streiktag, an dem nicht auch Kundgebungen oder Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen stattgefunden hätten. Nicht zu unterschätzen war hierbei auch die Mobilisierung von UnterstützerInnen, seien es ver.di-SeniorInnen oder Bündnisse wie Gesundheit statt Profite, die bei der Organisierung von Online-, aber auch Freiluftveranstaltungen wie Anfang Juli im Stadion an der alten Försterei, dem Kulttempel der mittlerweile überraschend auf europäischem Niveau kickenden BalltreterInnen des FC „Eisern“ Union, eine wichtige Rolle spielte. Die Berliner Krankenhausbewegung geht weit über das Spektrum der unmittelbar Beschäftigten hinaus.

Dies ist richtungsweisendes „Social Organizing“, ein Fingerzeig für hoffentlich zukünftige Auseinandersetzungen in breiterem Rahmen. Schon 2015 hatte ja der Charitéstreik für mehr Personal der bis dahin auf Sparflamme von Petitionen an PolitikerInnen und Bundesrat sowie halbstündigen „Streiks“ in der Mittagspause vor sich hinköchelnden ver.di-Kampagne „Der Druck muss raus!“ überhaupt Leben eingehaucht und greifbare, wenn auch unbefriedigende und schwer zu kontrollierende Ergebnisse erzielt.

Zweites Faustpfand für diesen Arbeitskampf stellt das Gerüst an Teamdelegierten dar. Vorher hießen sie TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen. Ohne sie wären die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, die vielfältigen Mobilisierungen nicht möglich gewesen. Sie spielten auch eine entscheidende Rolle bei der Aufstellung der Forderungen und schalten sich auch unseres Wissens nach in die Tarifkommission ein, damit der Gewerkschaftsapparat diese nicht so leicht für einen billigen Kompromiss unter den Tisch kehren kann. Zudem bilden sie praktisch das Rückgrat des Streiks, agieren de facto als Streikkommission. Daneben und darüber hinaus scheint es eine solche nicht zu geben. Von ihnen ausgehend kann einerseits eine Reaktivierung gewerkschaftlicher Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper in Szene gesetzt, die Kontrolle über den Streik von unten erfochten werden, falls sie jederzeit den Streikvollversammlungen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwähl- und ersetzbar bleiben.

Letztere sind allerdings ein unverzichtbares Inventar wirklicher Basisdemokratie. Ohne sie drohen die Teamdelegierten, die ja auch die Schnittstelle zu den FunktionärInnen verkörpern und diese kontrollieren sollen, zu einer Geisel des Apparates zu werden. Kurz: es gilt für die Vernetzung kämpferischer Gewerkschaften (VKG), diese Schicht von BasisaktivistInnen mit in ihr Boot zu holen, will sie einen wirklichen Schritt hin zu einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsbasisbewegung gehen!

Fallstrick Umsetzung und Kontrolle eines TVE

Darüber hinaus sind die Teamdelegierten bei der Umsetzung eines TVE wichtig, soll diese im Interesse der Beschäftigten und PatientInnen und unter deren Kontrolle erfolgen (mehr Personal, bessere Pflege und Medizin, Umstrukturierung des Gesundheitswesens). Bisher kranken die oft schwerfälligen Interventionskaskaden daran, dass die Entscheidungsmacht über Aufnahmestopps, Bettensperrungen, Stationsschließungen und Personalausgleich bei Unterschreitung der tariflich vereinbarten Mindestbesetzungen in der Hand der Klinikleitungen, also letztlich beim Kapital verbleibt.

Ausgehend von ArbeiterInnenkontrolle im Fall eines durchgesetzten TVE könnten diese Organe aber die Aufgabe anpacken, diese auf eine bundesweite über das gesamte Gesundheitswesen auszudehnen. Als Sprungbrett müssen sie im Gleichschritt mit der gesamten Berliner Krankenhausbewegung auch für die dringend notwendige Überwindung des leider zur ver.di-Tradition verkommenen Häuserkampfschemas fungieren.

Zusammenführen!

Gerade in dieser Hinsicht war es ein Fehler, die beiden wichtigsten Anliegen der Krankenhausbeschäftigten nicht mit der Entgelttarifrunde bei Bund und Kommunen zu verknüpfen, wo man die Kraft aller dort Beschäftigten somit dafür hätte einsetzen und ausnutzen können.

Im Oktober geht das Ringen um einen neuen TvöD-L bei den Lohn- und GehaltsempfängerInnen der Bundesländer los. Die berechtigten Forderungen der dortigen Krankenhausbeschäftigten (z. B. Uni-, psychiatrische Landeskliniken), aber z. B. auch der „Arbeiterwohlfahrt (AWO)“ nach Entlastung und für Angleichung der Arbeitsbedingungen bei deren Töchtern an den TVöD, besser für vollständige Gleichstellung und am allerbesten für deren Rückkehr unters Dach ihrer Mütter, müssen in der kommenden Tarifrunde aufgegriffen und dürfen nicht für das Linsengericht eines Gesundheits(katzen)tisches geopfert werden!

Die Arbeit„geber“Innen spielen in ihrer Begründung für Ablehnung der Tarifbelange schließlich auf ihrer Argumentationsklaviatur neben der Fallpauschalenpartitur (Ertragseinbrüche) die Sonate des drohenden Rauswurfs aus ihren Verbänden Kommunaler Arbeitgeberverband (KAV) und Tarifgemeinschaft Länder in G(eh!) Moll. Nehmen wir ihr diese Noten aus der Hand, indem wir das Anliegen der Beschäftigten in Landeskliniken zu dem aller (dort) Arbeitenden im nächsten Schritt machen – und im übernächsten den Fall der DRGs durch politische Massenstreiks.

Die Keime eines solchen Schulterschlusses sehen wir in Streiks unter Kontrolle der Basis und in eindrucksvollen Bewegungen wie an den Berliner Krankenhäusern. Lassen wir diese jetzt aufblühen und die Ernte einfahren, um der giftigen Saat des Gesundheitskapitals von hier ausgehend ihr Ende einzuläuten!

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