Arbeiter:innenmacht

Der Handlungsspielraum ist nicht besonders groß

Interview mit Freddy von [’solid] Berlin-Nord, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

GAM: Hey, cool, dass du dir Zeit für das Interview nimmst. Vielleicht stellst du dich erstmal kurz vor?

Hey, danke für die Einladung. Ich bin Freddy, 24 Jahre alt, und eine der Sprecher:innen der Linksjugend [’solid] Berlin-Nord. Beruflich bin ich Erzieherin. Seit 5,5 Jahren bin ich in der Linksjugend [’solid] Berlin aktiv, in drei verschiedenen Basisgruppen nacheinander. Ich bin erst vor ungefähr einem Jahr in die Linkspartei eingetreten, aber mache dort nichts und denke auch, dass ich  bald wieder austreten werde.

GAM: [’solid] Berlin-Nord hat im letzten halben Jahr immer wieder auf sich aufmerksam gemacht. Warum ist das so? Welche Rolle habt ihr in [’solid] Berlin?

Am Anfang hatten wir gar nicht den Plan, eine revolutionäre Opposition innerhalb der Linksjugend aufzubauen, das hat sich aber dann irgendwie so entwickelt dadurch, dass sich unsere Mitglieder auch weitergebildet haben und uns viele Positionen innerhalb des Verbandes auffielen, denen wir nicht zugestimmt haben. Die Linksjugend [’solid] ist ja sehr pluralistisch ausgelegt, d. h. aus jeder linken oder linksliberalen Strömung, die man sich vorstellen kann, gibt es dort Leute. Wir haben auch nicht als Basisgruppe immer die gleiche Meinung, aber die meisten Leute verstehen sich schon explizit als Kommunist:innen, das macht auch noch mal einen Unterschied. Durch Anträge bei Landesvollversammlungen oder allgemein Diskussionsbeiträge haben wir in letzter Zeit versucht, auf unsere Positionen aufmerksam zu machen. Wir wollen aber auch nicht nur bei Papierbeschlüssen stehenbleiben, sondern versuchen, unsere Positionen auch auf die Straße zu tragen. Ich habe den Eindruck, dass auch einige andere Berliner Basisgruppen wie z. B. die Linksjugend Friedrichshain einen „Linksrutsch“ hingelegt haben.

GAM: [’solid] Berlin hat sich seit der letzten Landesvollversammlung (LVV) als Gesamtorganisation weiter nach links bewegt. Woran liegt das? Und was sind deine Perspektiven, Wie man das fortführen kann?

Auf jeden Fall gibt es in der Basis eine große Offenheit für linke Positionen, wie die Beschlüsse der letzten LVV gezeigt haben. Ich denke, dass es jetzt wichtig ist, sich nicht auf den Beschlüssen auszuruhen, sondern diese offensiv zu vertreten und zu verteidigen und sie auch zu nutzen, um z. B. die Linkspartei herauszufordern.

GAM: Auf der letzten LVV wurden auch Teile des Landessprecher:innenrats (LSPR) neu gewählt. Wie stehst du zum gegenwärtigen LSPR? Was sollte man an der Struktur des LSPR verändern, wenn überhaupt?

Meiner Meinung nach muss man da stark zwischen den einzelnen Mitgliedern des Gremiums und dem Gremium an sich und seiner Funktion unterscheiden. Ich war auch zwei Jahre lang im LSPR und es ist ein enormer Druck, der da auf einem lastet, auch von der Seite der Linkspartei. Das ist politisch so gewollt. So wurden während des Wahlkampfs zur Abgeordnetenhauswahl einmal mehrere Mitglieder, zum Glück nicht ich, abends von jemandem aus der Partei angerufen und angeschrien, weil der Person etwas, ich glaube es war ein Post, nicht gepasst hatte. Es wurde, sowohl von der Partei als auch von anderen Mitgliedern des Jugendverbandes, die schon lange dabei waren und denen man vertraut hat, suggeriert, dass wir als LSPR-Mitglieder die Vernünftigen seien und die Basismitglieder versuchen sollten, im Zaum zu halten, also darauf achten, dass kein schlechtes Licht auf die Linkspartei geworfen wird. Zusätzlich wird betont, dass man seine eigene Position zurückstellen soll. Der sogenannte Pluralismus in Partei und Jugendverband wird oft als etwas sehr Positives dargestellt. Die Beschlüsse, die der LSPR trifft, sollen möglichst so sein, dass niemand etwas gegen sie hat. Man steht da, wie gesagt, unter einem sehr großen Druck. Ich habe auch opportunistisch gehandelt, als ich im LSPR war, und ich glaube, das ist gerade das Gefährliche. Egal mit welchen Plänen und welchen Werten man sich in das Gremium wählen lässt, am Ende macht es eigentlich gar keinen so großen Unterschied, wer genau da drin sitzt.

Die LSPR-Mitglieder werden dazu benutzt, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ich glaube, vielen ist das auch nicht bewusst. Trotz meiner zwei Amtszeiten habe ich lange gebraucht, um das zu merken.

Und dazu arbeiten die Linksjugend [’solid] und damit auch ihre Gremien sehr bürokratisch. Es werden umständliche und intransparente Wege gewählt, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig wird oft suggeriert, dass im Grunde alles basisdemokratisch sei.

GAM: Wie stellt du dir revolutionäre Praxis innerhalb eines reformistischen Jugendverbandes vor?

Ich denke, dass es sehr schwer ist, eine revolutionäre Praxis innerhalb von reformistischen Strukturen zu haben und diese konsequent durchzusetzen. Wichtig ist es, das Gespräch mit verschiedenen Leuten zu suchen und zu versuchen, ihnen aufzuzeigen, was die Probleme sowohl mit den Standpunkten der Linkspartei als auch dem Organisationsprinzip sind. Zu der Struktur des Verbandes und des LSPR habe ich ja schon etwas gesagt. Ich glaube, ein zusätzliches Problem ist die Kommunikationskultur. Vor ein paar Jahren war die damalige Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, als Rednerin bei unserer Landesvollversammlung eingeladen. Damals war ich total geschockt, dass einige Leute ihr kritische Nachfragen gestellt haben. Ich fand das total gemein und dachte: „Sie ist doch auch nur ein Mensch und niemand kann seinen Job perfekt machen“. Ich glaube, dass viele so denken und das auch genau so gewollt ist. Es wird oft als anstößig angesehen, politische Diskussionen öffentlich auszutragen. Man soll alles mit sich selber ausmachen oder im Hinterzimmer klären.

Das ist aber ein strukturelles Problem einer reformistischen Partei und kein Problem, das sich ändern kann, wenn die Leute lernen, besser miteinander zu kommunizieren. Zudem sind wir finanziell von der Linkspartei abhängig, was auch eine gewisse politische Abhängigkeit bedeutet.

Nachdem der Landesvorstand der LINKEN Berlin erst gedroht hatte, uns die Gelder zu streichen, müssen nun Summen ab 500 Euro einzeln beantragt werden. Davor hatten wir ein jährliches Budget, über das wir frei verfügen konnten. Das ist natürlich immer noch sehr viel Geld, aber eben nicht gemessen an dem, was die Linkspartei für den Jugendverband aufwenden könnte und würde, wenn er politisch gefügsamer wäre.

Zusätzlich zu den Konflikten und den Maßregelungen durch die Linkspartei kommen noch die Konflikte mit dem überwiegend sozialdemokratischen Bundesverband der Linksjugend [’solid] hinzu. Viele Gliederungen dort hegen eine starke Abneigung, z. T. schon leidenschaftlichen Hass, gegen die Berliner Sektion, da die Beschlüsse ihnen zu links sind und sie z. B. auch ein Problem damit haben, dass wir uns für Solidarität mit Palästina aussprechen.

Das sind also viele Widrigkeiten, mit denen wir als kleine revolutionäre Opposition zu kämpfen haben.

Wir können versuchen, Leute zu bilden, wir können Gespräche mit Menschen führen, wir können auch coole Aktionen machen. Dennoch sind wir dadurch eingeschränkt, dass wir Teil einer reformistischen Organisation sind.

GAM: Treptow-Köpenick ist aus dem Berliner Landesverband von [’solid] ausgetreten. Was ist deine Meinung dazu?

Die Spannungen zwischen Treptow-Köpenick und dem Rest des Landesverbandes haben sich schon lange abgezeichnet. Diese Gruppe vertrat aus meiner Sicht viele Positionen, die nicht mal als linksliberal zu bezeichnen sind. So baten sie den Landesverband der Linkspartei öffentlich, der Linksjugend [’solid] die Gelder zu kürzen, da ihnen die auf der Landesvollversammlung demokratisch gefällten Beschlüsse nicht gefielen. Auch setzten sie eine Ablehnung der NATO mit „Putinsolidarität“ gleich und distanzierten sich von palästinensischen Demonstrationen. Ich finde es gut, dass die Linksjugend Treptow-Köpenick aus der Linksjugend [’solid] rausgegangen ist. Einige der Mitglieder, die nicht auf der Linie der Gruppe waren, sind nun in andere [’solid]-Basisgruppen gegangen.

GAM: Seit der Bundestagswahl geht es ziemlich steil abwärts mit der Linkspartei. Im Saarland wurden 10 % verloren. Ramelow argumentiert für die Wehrpflicht. In Bremen fordert man Waffenlieferungen. Was ist da los und welche Perspektive siehst du für die Partei?

Eines der großen Probleme der Linkspartei sehe ich darin, dass sie letzten Endes leider doch eine bürgerliche Partei ohne ein einheitliches politisches Programm ist. Zudem ist der Parteiapparat sehr bürokratisch. Das sieht man z. B. auch gut an #linkemetoo. Sexualisierte Gewalt gibt es wahrscheinlich in den meisten Organisationen und Gruppen, aber dass sich eine Klasse von Berufspolitiker:innen ausbildet, die sich über Seilschaften an der Spitze halten möchte, da sie finanziell von ihren Mandaten abhängig ist, ist ein krasses Problem. Das steht Aufarbeitung von z. B. sexualisierter Gewalt im Wege, aber führt auch dazu, dass kein echter Austausch möglich ist und viele Debatten nichts bringen, da sowieso immer die gleichen Leute in den führenden Positionen bleiben werden. Aber auch zu versuchen, Marxist:innen in führende Positionen in Linkspartei oder der Linksjugend [’solid] zu bekommen, kann kein Ausweg sein. Selbst wenn die bürokratischen Prozesse nicht verhindern würden, dass sich wirklich Dinge ändern und zudem revolutionäre Mehrheiten in Gremien erreicht würden, wäre das in meinen Augen kein wirklicher Sieg. Dadurch, dass Partei und Jugendverband sehr viele verschiedene linke Strömungen beinhalten, würden dann getroffene Entscheidungen nicht konsequent vertreten und wahrscheinlich in der nächsten Wahlperiode gleich wieder revidiert werden. Die Linkspartei ist natürlich keine marxistische Partei. Aktuell würde ich auch in Frage stellen, ob sie eine Arbeiter:innenpartei ist. Dafür fehlt meiner Meinung nach eine Abgrenzung zu anderen bürgerlichen Parteien. Die Linkspartei schiebt mit ab, die Linkspartei positioniert sich nicht konsequent antimilitaristisch, die Linkspartei ist in Berlin an der Verschleppung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ beteiligt. Ich glaube, dass die Linkspartei in den nächsten Jahren nach und nach immer mehr an Wähler:innen verlieren wird, und ich finde es absolut nachvollziehbar, wenn Leute sie nicht wählen.

GAM: Abschließend: Was sollten Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] jetzt tun? Wie könnt ihr unterstützt werden?

Ich glaube, das Wichtigste ist, die Widersprüche in der Linkspartei und ihrer Bürokratie aufzuzeigen, was ja die meisten revolutionären Gruppen bereits machen. Zudem freuen wir uns über Solidaritätsbekundungen, z. B. in Form von Unterstützung bei Aufrufen wie zuletzt dem offenen Brief unserer Basisgruppe gegen die geplanten Geldkürzungen von Seiten des Landesvorstandes der Berliner Linkspartei. Wie ich schon dargelegt habe, glaube ich nicht, dass der Handlungsspielraum von Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] besonders groß ist. Man kann die Linkspartei und die Öffentlichkeit mit den Fehlern der Strukturen konfrontieren, was wir ja auch bereits tun. Es ist aber meiner Ansicht nach verschwendete Energie, wenn man sich über Jahre hauptsächlich auf den Fraktionskampf innerhalb der eigenen Organisation konzentriert bzw. eher konzentrieren muss. Dieser ergibt nur Sinn, solange man Mitglieder vom Apparat loslösen und für ein revolutionäres Programm gewinnen kann.

Mittelfristig wären Revolutionär:innen in der Linkspartei und der Linksjugend, denke ich, besser beraten, sich revolutionären Organisationen anzuschließen.

GAM: Vielen Dank für das Interview und alles Gute für Euren Kampf!

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