Jürgen Roth, Neue Internationale 220, Juni 2017
Macron hat erklärt, dass er sein neoliberales Programm auch ohne parlamentarische Debatte mittels Dekret durchsetzen will. Sein Problem besteht darin, eine verlässliche politische Stütze aufzubauen, die eine ihm ergebene parlamentarische Regierung anzuführen in der Lage ist, auch wenn die Umfragen voraussagen, dass seine neue Sammlungsbewegung „En Marche“ die größte Fraktion im Parlament werden dürfte.
Dieses Problem hat seine unterlegene Kontrahentin nicht. Sie schnitt weit besser als ihr Vater in der Stichwahl 2002 gegen Jaques Chirac ab. Ihre Partei, die Front Nationale (FN), dürfte bei den Parlamentswahlen erheblich mehr Sitze erringen als die jetzigen zwei.
Mit einem Ergebnis von nur 6 % für ihren Kandidaten Hamon im 1. Wahlgang sitzt die PS zwischen den Stühlen. In der Juni-Wahl werden ihre AnhängerInnen wahrscheinlich entweder für Macron oder Mélenchon stimmen. Ein Großteil ihrer SpitzenpolitikerInnen ist bereits ins offen bürgerliche Lager gewechselt wie der Ex-Premier Valls, der bereits im 1. Wahlgang Macron unterstützte.
Die PS droht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken oder sich ganz aufzulösen wie ihre Vorgängerin, die SFIO. Die ihr nahestehende Gewerkschaft CFDT, die im letzten Juni keinen Finger im Kampf gegen das neue Arbeitsgesetz El Khomris krumm gemacht hat, hat ebenso wie die KPF im 2. Wahlgang für Macron aufgerufen. Die ihr traditionell verbundene Gewerkschaft CGT bezog eine zweideutige Position. Sie versprach Bekämpfung und Blockade der extremen Rechten, versprach aber dem Sieger Macron keinen sozialen Frieden. Die organisierte ArbeiterInnenbewegung kann sie dafür zumindest beim Wort nehmen.
Mélenchon ging nicht darüber hinaus, keine Stimmabgabe für die FN zu empfehlen. Seine als linkspatriotisch daherkommende Bewegung „France Insoumise“ (FI) kopiert den Nationalismus Le Pens und den Bewegungscharakter der Macron tragenden Strömung. Letzteres ist auch Ausdruck der Krise der etablierten französischen Parteien, allerdings eine falsche politische Antwort darauf. Bei der Parlamentswahl wird es wohl keine Linksfront mit der KPF geben. Die KPF ist bis jetzt nicht bereit, sich bedingungslos in die FI hinein aufzulösen, wie es die linkspopulistische Strategie Mélenchons verlangt.
Auf der Sitzung ihres Nationalen Politischen Komitees (CPN) am 27./28. April kam es zu keiner einheitlichen Analyse der Ergebnisse der 1. Präsidentschaftswahlrunde. Der Mitte-Rechts-Block, die Mehrheit der Partei und hauptsächlich aus Mitgliedern der ehemaligen LCR bestehend, hatte bereits mehrere Verluste erlitten an „Ensemble“, einen Bestandteil der Front de Gauche (FdG) unter Führung der linkssozialdemokratischen PS-Abspaltung Parti de Gauche (PdG) Mélenchons und der KPF.
Er spaltete sich nun weiter auf in eine „historische Linie“ und die Mitglieder der ehemaligen VDT, einer Abspaltung von Lutte Ouvrière (LO), die sich vor 15 Jahren der NPA angeschlossen hatten. Die erste Strömung setzte kein Gleichheitszeichen zwischen Macron und Le Pen, gab aber keine Wahlempfehlung aus. Eine Stimme für Macron würde Illusionen in die bestehenden Institutionen ausdrücken, eine Enthaltung bzw. ein ungültig gemachter Wahlzettel unterschätzten die Gefahr der FN. Diese Linie ähnelt sehr der Mélenchons, an dessen Wahlkampf unter der Trikolore auch keine Kritik geübt wurde.
Die Position der Ex-VDT unterschätzt dagegen die Gefahr, die von der FN ausgeht. Sie erwähnt nicht einmal deren explosive Mischung aus ArbeiterInnenforderungen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie und die Tatsache, dass diese längst den Zugang zum Mainstream gefunden hat, äußerst salonfähig geworden ist. Ein Motiv für diese Verharmlosung scheint in ihrem Glauben zu liegen, dass ein „republikanischer Kampf gegen den Faschismus“ allemal gerechtfertigt wäre. Trotzki und seine Politik der ArbeiterInneneinheitsfront zur Verteidigung der Bollwerke von ArbeiterInnendemokratie und -errungenschaften innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wird hier über Bord geworfen.
Ähnlich gegenüber der FN argumentieren auch LO und die CCR. Die CCR ist Mitglied der FT-QI und damit RIOs Schwestersektion. Sie rechtfertigte ihre (richtige) Position der Wahlenthaltung bzw. ungültigen Stimme damit, dass kleine faschistische Gruppierungen durch Le Pens Wahlsieg zwar ermuntert würden, aber die Zusammensetzung ihrer Wähler- und Aktivistenbasis sowie ihrer Führung nicht den Aufstieg der FN zur faschistischen Partei, sondern einen Zug zum starken Staat bonapartistischen Typs verkörpern würde.
Es ist richtig: die FN ist keine voll entwickelte faschistische Massenpartei, aber im Gegensatz zu bspw. UKIP, der AfD oder Trump von Anfang an eine Partei mit organisiertem faschistischen Flügel in ihrem Kern, auch wenn dessen Einfluss auf die Politik wechselt. Außerdem ist der Übergang zwischen Faschismus und Bonapartismus durchaus vorstellbar. Marine Le Pen würde an der Regierung auch nicht auf das Aufbrechen der Widersprüche ihrer sozialen Basis warten. Es wäre ebenso denkbar, ja wahrscheinlich, dass die radikaleren Teile der FN dann als faschistische Kraft gegen die ArbeiterInnenklasse eingesetzt würden. Auch Aktionen faschistischer Minderheiten bedeuten zudem in dieser Situation für diese und insbesondere rassisch Unterdrückte und Geflüchtete Lebensgefahr!
Die aktuelle Lage in Frankreich, der tiefe Unmut unter breiten Bevölkerungsschichten kommt v. a. deshalb der FN zugute, weil die Linke schwach und ideologisch ausgesprochen konfus ist. Die Hauptgefahr geht dabei davon aus, dass breite ArbeiterInnenschichten einstweilen zur FN übergehen – dies insbesondere im vom Niedergang der traditionellen Industrien betroffenen Norden. Die PS und auch teilweise die KP haben diese im Stich gelassen oder ganz aufgegeben. Mélenchons Linkspopulismus orientiert sich auf diese, versucht, Le Pens blau-weiß-rote Kleider zu stehlen – von daher die Stimmenüberlappungen zwischen FI und FN.
Poutous Ankündigung am Abend des 1. Präsidialwahlgangs, in der 2. Runde für keine/n der beiden KandidatInnen zu stimmen, war richtig und wurde demonstrativ von 4 Millionen Franzosen und Französinnen befolgt. Am 1. Mai haben 50.000 in Paris gegen die Ankündigungen des neuen Präsidenten ihre Kampfbereitschaft in die Waagschale geworfen. Dies ist das Potential, was auch unsere kritische Wahlunterstützung für Poutou in der ersten Runde erreichen wollte und sollte. Es wird Zeit, dass mit seiner zweiten Aufforderung Ernst gemacht wird: eine neue antikapitalistische Partei aufzubauen!
Die NPA hat gezeigt, dass sie diese Partei nicht ist, ja noch nicht einmal in über 15 Jahren ein revolutionäres Programm dafür erarbeiten konnte. Der kleinste gemeinsame Nenner der NPA ist für jede Wendung des Klassenkampfes ein zu stumpfes Werkzeug. Doch die NPA versammelt in ihren Reihen die klassenbewusstesten ArbeiterInnen und AktivistInnen und kann sicher im Zentrum einer Initiative für eine neue ArbeiterInnenpartei stehen. as hat Poutou am Abend des ersten Wahlgangs verdeutlicht. RevolutionärInnen würden von Beginn für einen revolutionären Kurs in seine solchen Partei kämpfen.
Die NPA soll sich für einen solchen, dringlichen strategischen Kongress einsetzen und alle linken Parteien, Organisationen und Gewerkschaften dazu einladen. Angesichts der Schwierigkeiten Macrons, eine neue republikanische Front zusammenzuzimmern, angesichts des kaum verhüllten Konflikts zwischen FI und KPF würde diese Initiative vielleicht nicht nur bei LO und den gegen Macron und Le Pen am 1. Mai auf die Straße gegangenen GewerkschafterInnen auf Widerhall stoßen, sondern auch bei UnterstützerInnen der KPF, FI, PS usw., die mit dem linken Scherbenhaufen unglücklich sind. Die Propaganda für diese Initiative muss bei den anstehenden Parlamentswahlen eingebracht und mit einer kritischen Wahlunterstützung für die NPA im 1. Wahlgang verknüpft werden, wo sie antritt.