Arbeiter:innenmacht

Israel: Rechte Regierung, Unterdrückung und Widerstand

Alex Rutherford und Marcel Rajecky, Infomail 1212, 6. Februar 2023

Am 30. Dezember wählte das israelische Parlament eine Regierung unter dem Vorsitz des Führers des Likud-Blocks, Benjamin Netanjahu, ins Amt. Diesmal hatte Netanjahu Vertreter:innen mehrerer extrem religiöser und rechtsextremer Parteien in seine Koalition aufgenommen, die den Block „Religiöser Zionismus“ (RZ) bilden.

Programm der Regierung

Eine Erklärung Netanjahus zu den wichtigsten politischen Maßnahmen der Regierung begann mit den Worten: „Das jüdische Volk hat ein ausschließliches und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel vorantreiben und ausbauen – in Galiläa, im Negev, auf den Golanhöhen und in Judäa und Samaria.“

Letzteres bezieht sich auf das besetzte Westjordanland, die zerfaserten Überreste Palästinas, die den 2,5 Millionen ursprünglichen Bewohner:innen, aber nun auch 500.000 zionistischen Siedler:innen gehören.

Der neue Finanzminister Bezalel Smotrich, Mitglied des RZ-Blocks und selbst ein illegaler Siedler, sagte in einem Artikel im Wall Street Journal, dass es niemals eine „Änderung des politischen oder rechtlichen Status“ des Westjordanlandes geben werde. Das bedeutet, dass die „Zweistaatenlösung“, die offiziell von den USA und der so genannten internationalen Gemeinschaft seit den 30 Jahre alten Osloer Abkommen unterstützt wird, nicht einfach nur tot ist, sondern durch Beschlagnahme des Landes, den Abriss palästinensischer Häuser und ständige Razzien in den über 50 Jahre alten Flüchtlings-Lagern ersetzt wurde.

Ein weiterer wichtiger rechtsextremer Minister in der neuen Regierung ist Itamar Ben-Gvir, ein Siedler aus dem besetzten Westjordanland. Im Alter von 16 Jahren schloss er sich der Kach an, der berüchtigten rassistischen und extrem „religiös-zionistischen“ Organisation von Meir Kahane. Im vergangenen Jahr war er aktiv an den Auseinandersetzungen im besetzten Ostjerusalem beteiligt, im Viertel Scheich Dscharrah, wo die israelischen Behörden versuchen, palästinensische Familien zu vertreiben. Dort fuchtelte er mit einer Waffe herum und forderte die Polizei auf, das Feuer auf palästinensische Demonstrant:innen zu eröffnen. Dieser Mann ist jetzt Minister für Nationale Sicherheit, zuständig für die Polizei, die Gefängnisse und den Grenzschutz. Er befürwortet die Einführung der Todesstrafe für „Terrorist:innen“ und noch härtere Bedingungen für die 4.450 palästinensischen Gefangenen (darunter 150 Kinder) in israelischen Gefängnissen.  Außerdem unterstützt er die Ausweisung aller palästinensischen Bürger:innen Israels, die sich weigern, dem jüdischen Staat die Treue zu schwören.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass in den Wochen seit dem Amtsantritt der Regierung Netanjahu die Angriffe des israelischen Staates auf das Westjordanland und ebenso der Widerstand der verschiedenen palästinensischen islamistischen Guerillaorganisationen stark zugenommen haben.

Erneut Dschenin

Am 26. Januar massakrierten die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) neun Palästinenser:innen im Flüchtlingslager Dschenin im besetzten Westjordanland. Ein zehnter Palästinenser wurde später von israelischen Truppen bei einem Protest gegen die Gräueltat getötet. Dschenin ist seit langem Schauplatz zahlloser brutaler Überfälle der so genannten Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Am 11. Mai letzten Jahres geriet die berühmte palästinensisch-amerikanische Journalistin Shireen Abu Akleh in die Schlagzeilen, als sie von einem IDF-Scharfschützen getötet wurde.

Das palästinensische Gesundheitsministeriums identifizierte drei der bei dem Anschlag am 26. Januar getöteten Menschen: Magda Obaid (61), Saeb Izreiqi (24) und Izzidin Salahat (26). Außerdem wurden 20 Menschen verwundet. Berichten zufolge wurden Krankenwagen zunächst von israelischen Truppen daran gehindert, die Verwundeten zu erreichen, und auch die Kinderstation eines örtlichen Krankenhauses wurde von israelischen Einheiten mit Tränengas beschossen.

Als Reaktion darauf brach die Palästinensische Autonomiebehörde (Israels gewöhnlich zuverlässige Kollaborateurin bei der Unterdrückung der im Westjordanland lebenden Palästinenser:innen) vorübergehend die Sicherheitsbeziehungen zu den Besatzungstruppen ab. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, rief drei Trauertage und einen Generalstreik im gesamten besetzten Westjordanland und in Jerusalem aus.

Die Ermordung von sieben Gläubigen vor einer Moschee am Rande der Jerusalemer Altstadt durch Khairi Alqam, einen 21-jährigen Palästinenser, hat bei den führenden Politiker:innen der Welt natürlich weitaus mehr Empörung ausgelöst als das Massaker von Dschenin am Vortag, das offensichtlich den Anstoß zu dem Anschlag gab, sowie die Tatsache, dass zwei Tage zuvor ein Verwandter von ihm von der israelischen Polizei getötet wurde. Einige palästinensische Organisationen lobten den Anschlag, und natürlich wird die weitaus höhere Zahl der Todesopfer auf ihrer Seite des Konflikts von vielen als ausreichende Rechtfertigung angesehen. Tatsächlich aber führen solche Taten zu weitaus größeren Repressionen, zur Zerstörung des Hauses der Familie des Schützen, zu Massenverhaftungen und zur Androhung noch härterer Vergeltungsmaßnahmen. Angriffe auf willkürliche Gruppen von Zivilist:innen sind ein Produkt der Verzweiflung und kein wirksames Mittel des Kampfes. Nur Massenaktionen wie die beiden Intifadas haben die Aufmerksamkeit der Welt auf die Brutalität der israelischen Unterdrückung gelenkt.

Die Gewalt ist nicht neu: Mindestens 30 Palästinenser:innen wurden in diesem Jahr bereits von israelischen Truppen im Westjordanland getötet, und im vergangenen Jahr waren es mehr als 150. Netanjahus neue Regierung signalisiert natürlich keinen Kurswechsel dieser gewaltsamen Unterdrückung. Trotz kleiner Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen zionistischen Parteien sind die Hauptpfeiler des Siedlungskolonialprojekts – Beschlagnahme von Land für den Bau illegaler Siedlungen, wiederholte Bombenangriffe auf Gaza, Lobbyarbeit gegen die Anerkennung Palästinas – Konsens in der israelischen politischen Klasse und bis zu einem gewissen Grad auch in der israelischen Zivilgesellschaft insgesamt.

Globaler Kontext

Die anhaltende Gewalt gegen die Palästinenser:innen wird mit stiller Billigung von Israels Hauptsponsorin, den Vereinigten Staaten, ausgeübt. Als regionaler Gendarm der USA haben Washington und Tel Aviv ein vereinbartes Programm: mehr Landkonfiszierung und Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten.

Während Trumps Präsidentschaft kam dieser Plan am deutlichsten im sogenannten „Deal des Jahrhunderts“ zum Ausdruck, der im Januar 2020 öffentlich wurde. Darin signalisierten die USA, dass sie umfangreiche Annexionen palästinensischen Landes und die „Judaisierung“ Ostjerusalems unterstützen würden, und schlossen die Möglichkeit eines palästinensischen Staates im eigentlichen Sinne aus. Außerdem versprachen sie ihren regionalen „Partner:innen“ Milliarden für Investitionen in Palästina und den Ausbau ihrer Beziehungen zu dem einst feindlichen zionistischen Staat.

Die USA sind derzeit stark in Konflikte mit Russland in der Ukraine und China in Ostasien verwickelt und können eine größere Explosion im Nahen Osten nicht oder nur schwer vermeiden. Das war auch der Hintergrund des Besuchs von US-Außenminister Antony Blinken in Israel. Deshalb versuchen sie, ihre wichtigsten arabischen Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar mit Israel zu verbinden. Dies soll weiter wirtschaftlich und strategisch forciert werden. Zugleich stärken sei diese Staaten gegen interne Bedrohungen, sei es die politische oder religiöse Opposition oder im Falle Israels die palästinensische nationale Befreiungsbewegung. Die aktuelle Verschärfung der zwischenimperialistischen Rivalität macht diese Ziele und den Unterordnung ihrer regionalen „Partner:innen“ für die USA immer dringlicher (zugleich aber auch immer schwieriger).

Netanjahus Block hat jedoch seine eigenen Probleme in der israelischen Gesellschaft. Seit Wochen finden Demonstrationen gegen die Pläne der neuen Regierung statt, den Obersten Gerichtshof Israels zu schwächen, damit eine Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, seine Entscheidungen außer Kraft setzen kann. Ein Grund dafür ist, die Verurteilung Netanjahus wegen Korruptionsvorwürfen verhindern zu können. Zudem würde dies der Regierung mehr Spielraum für den Bau neuer Siedlungen und die Verfolgung der theokratischen Sozialagenda der religiösen Rechtsextremen gegenüber LGBTIAQ-Rechten geben.

Diese Vorschläge haben in der israelischen Gesellschaft großen Widerstand mit wochenlangen Protesten hervorgerufen, die am 21. Januar in einer Demonstration von 100.000 Menschen in Tel Aviv(-Jaffa) gipfelten, an deren Spitze verschiedene zionistische Parteien, ehemalige Premierminister sowie Menschenrechtsgruppen und die LGBTIAQ-Community standen, denen die religiösen Fanatiker:innen mit neuen repressiven Gesetzen gedroht haben. Die Frage der Rechte der Palästinenser:innen wurde jedoch ausgeklammert, und palästinensische Flaggen waren nicht erlaubt, obwohl sie das erste Ziel einer Regierung wären, die sich völlig von allen gesetzlichen Beschränkungen befreit hat.

Solidarität mit Palästina!

Das politische System Israels ist ein Siedler:innenkolonialismus, der zu Recht mit dem rassistischen Apartheidsystem verglichen wird. Das bedeutet, dass trotz des Ausbruchs moralischer Panik in der israelischen liberalen bürgerlichen Presse in Bezug auf die neue Regierung Israels anhaltende Politik der Unterdrückung der Palästinenser:innen von der gesamten politischen Klasse gebilligt und durch keine israelische Wahl grundlegend geändert wird.

Heute ist zwar noch immer ein bedeutender Teil der israelischen Arbeiter:innenklasse in der 800.000 Mitglieder zählende Histadrut organisiert, der Organisationsgrad liegt aber bei rund 20 %. Seit ihrer Gründung im Jahr 1920 war sie nie eine echte Gewerkschaft, sondern ein wesentlicher Bestandteil des zionistischen Kolonisierungsprojekts, vollständig in das Siedlungskolonialprojekt integriert. Die offiziellen Arbeiter:innenorganisationen vertreten nicht einfach die israelischen Lohnabhängigen und ihre Interessen als Arbeiter:innen, sondern sondern faktisch auch als Besatzer:innen und die einer privilegierten Arbeiter:innenschicht gegenüber den Palästinenser:innen (auch wenn sich die Histadrut formal palästinensischen Arbeiter:innen geöffnet hat).

Natürlich müssen sich Sozialist:innen in Israel und in der ganzen Welt dieser jüngsten Manifestation israelischer Gewalt gegen die Palästinenser:innen widersetzen. Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns entschieden gegen den Zionismus in all seinen Formen stellen. Es handelt sich um eine rassistische Ideologie, die tagtäglich zur Rechtfertigung der Unterdrückung des palästinensischen Volkes benutzt wird. Unser Ziel muss daher die Zerstörung des rassistischen zionistischen Siedler:innenstaates und seine Ersetzung durch einen einzigen säkularen Staat für alle Menschen in Palästina sein: Araber:innen und Israelis, Muslim:innen, Juden/Jüdinnen, Christ:innen und Atheist:innen.

Dieses Ziel kann nur durch eine sozialistische Revolution erreicht werden, die die gesamte palästinensische Arbeiter:innenklasse mit fortgeschrittenen Teilen der israelischen Klassenbrüder und -schwestern einbezieht. Aber sie muss auch Teil einer solchen Revolution im gesamten Nahen Osten sein, die die autokratischen Reiche stürzt, seien es militärisch-säkulare wie Ägypten oder „islamische“ wie Saudi-Arabien oder die Golfstaaten. Die internationale Solidarität mit allen fortschrittlichen Kämpfen in der Region ist entscheidend.

Wir weisen das Argument, die Unterstützung Palästinas sei antisemitisch, mit Verachtung zurück und wenden uns gegen jedes Wiederauftauchen antijüdischer Hetze. Wir loben den Mut vieler jüdischer Menschen sowohl in Israel als auch in der ganzen Welt, die die Rechte der Palästinenser:innen unterstützen und die zionistische Unterdrückung anprangern. Wir müssen alle zusammenstehen im Kampf für den Sturz des zionistischen Apartheidstaates und seine Ersetzung durch einen binationalen säkularen sozialistischen Staat, in dem alle Einwohner:innen über gleiche politische und wirtschaftliche Rechte verfügen.

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