Jürgen Roth, Infomail 1193, 21. Juli 2022
In der Nacht von Montag auf Dienstag einigten sich die Leitungen der 6 Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) auf einen Tarifvertrag Entlastung (TVE).
Der nach Gewerkschaftsangaben längste Streik im Gesundheitswesen ist vorbei. Nach 79 Tagen Arbeitskampf einigten sich beide Seiten auf einen TVE. Es war beileibe kein leichter!
Anfang des Jahres hatten die Beschäftigten ein 100-Tage-Ultimatum für einen TVE verabschiedet. Das Kalkül dahinter: die damals amtierende schwarz-gelbe Landesregierung werde wohl kaum riskieren, dass dieses 2 Wochen vor der Wahl auslaufe und ein großer Streik ausbreche. Sie irrten gründlich! Alter und neuer Gesundheitsminister Laumann (CDU) und Landesregierung schoben bürokratische Probleme vor: Die Unikliniken könnten nicht aus dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) ausscheiden, dies sei auch nicht im Interesse ver.dis.
Was sie „vergaßen“ zu erwähnen: Sie hatten sich gar nicht erst bei den Verbänden der „Landesarbeitgeber:innen“ für die Aufhebung von deren Blockadehaltung gegen einen bundesweit geltenden TVE eingesetzt, sondern drohten mit der Keule eines Rauswurfes aus der Tarifgemeinschaft, um auch den landeseigenen AdL (Arbeitgeberverband des Landes NRW), in dem sie ja schließlich die Unternehmensseite verkörpern, nicht mit solchem „Schnickschnack“ zu belasten.
Die Streikenden waren überdies mit einer Klage der Uniklinik Bonn vor 2 Arbeitsgerichtsinstanzen zwecks einstweiliger Verfügung zur Aussetzung des Streiks sowie einer nahezu vollständigen Mediensperre über ihre Arbeitsniederlegung konfrontiert. Das hielt sie nicht ab, ihre Stärken eindrucksvoll zu demonstrieren. Notdienstvereinbarungen sahen Bettensperrungen (1.800) und Abteilungsschließungen (50) vor, auch wenn das Landesarbeitsgericht Köln auf Klage der UKB hin die Öffnung zusätzlicher 25 OP-Säle in 2. Instanz landesweit anordnete. Machtvolle Kundgebungen und Demonstrationen, zuletzt am 21.6. in Münster und am 29.6. in Düsseldorf, Solidaritätsbekundungen bis in weite Teile der sog. Zivilgesellschaft hinein und die Vorstellung des Schwarzbuchs Krankenhaus in einer gerammelt vollen Kölner Kirche trugen das Ihrige dazu bei, der Verweigerungshaltung der „Arbeitgeber:innenseite“ die Stirn zu bieten.
2018 hatte ein fast gleich langer Streik an den Unikliniken Düsseldorf und Essen dort bereits zu einer Entlastung des Personals geführt. Doch wurde dieser von ver.di im Vorfeld der diesjährigen Auseinandersetzungen gekündigt. Die Unterschreitung der vereinbarten Mindestpersonalbesetzung blieb weitgehend konsequenzlos. Nach Abstimmung an den 6 Klinikstandorten segnete am Dienstagnachmittag auch die 75-köpfige Tarifkommission die Einigung mit überwältigender Mehrheit ab. Ob der Rat der 200 tatsächlich dabei wie versprochen das letzte Wort behielt, erschließt sich aus den Medienberichten nicht. Seit Mittwochmorgen ist der Streik ausgesetzt.
Der TVE gilt erst ab 1.1.2023. Für große Teile des Pflegepersonals wurde ein schichtgenaues Verhältnis von Beschäftigten zu Patient:innen festgelegt. Wird dieses unterschritten bzw. kommt es zu anderweitigen zusätzlichen Belastungen, erhalten die Beschäftigten entweder finanziellen Ausgleich oder einen Belastungspunkt. Für 7 gibt es 1 Tag Freizeitausgleich. Im 1. Jahr der Umsetzung können so bis zu 11, im 2. 14 und im 3. 18 Tage herauskommen. Erstmals wurden für viele Gruppen außerhalb der Pflege Mindestbesetzungen und Entlastungsausgleiche vereinbart (Radiologie, Betriebskitas, Therapeut:innen). Auszubildende erhalten mehr persönliche Anleitung und Tage für die Selbstlernzeit, Mindeststandards für Praxisanleitung und Zahl der Lehrkräfte sowie Belastungsausgleich bei Unterschreitungen.
Das kurze Streichholz zog das Personal in Servicebereichen, IT und Technik. Hier wurden pro Krankenhaus lediglich 30 zusätzliche Vollzeitstellen ausgehandelt, was zu vielen Diskussionen in den Belegschaften geführt haben soll.
Das Berliner Ergebnis wurde übertroffen, weil erstmals auch außerpflegerische Bereiche erfasst wurden. Katharina Wesenick, Landesfachbereichsleiterin Gesundheit im ver.di-Landesbezirk NRW, spricht von einem „wichtigen Etappensieg“, man habe die eigene Gesundheit und das Patient:innenwohl gegen die „Profitlogik“ im Krankenhaus durchsetzen müssen. An der Streikbewegung seien der demokratische Prozess, die große Beteiligung der Beschäftigten und deren Selbstermächtigung gewesen. Tausende hätten sich nicht nur am Streik, sondern auch als Expert:innen ihrer Arbeitssituation an Aushandlungsprozessen beteiligt.
Diesem Euphemismus können wir uns nur bedingt anschließen. Zum Ersten: Die Kliniken haben anderthalb Jahre Zeit, ihre Computersysteme auf das neue System umzustellen, was sich nicht in nennenswerter Aufstockung der IT niederschlägt! Für diese Übergangsphase gelten die vereinbarten Belastungsausgleiche nicht, sondern pauschal 5 Entlastungstage (nur) fürs Pflegepersonal.
Zum Zweiten: Interventionsmöglichkeiten des Personals bei Unterschreitung der Mindestbemessungsgrenzen wie Aufnahme- und Behandlungsstopps inkl. Bettensperrungen und Abteilungsschließungen finden ebenso wenig Niederschlag wie in Berlin. Kommt es also bei gleicher oder zunehmender Zahl von Fällen bzw. Fallschwere nicht zur Neueinstellung von Personal – bundesweit fehlen 200.000 Stellen allein in der Pflege –, droht eine Art von Langzeitarbeitskonto, dessen freie Tage sich zwar hübsch summieren, die die Beschäftigten aber mit ins Grab nehmen können.
Zum Dritten: Der Häuserkampf geht weiter, auch wenn Wesenick von einem flächendeckenden Ergebnis faselt. Schlimmer noch: Der TVE gilt nicht für den AdL! Der neue Landtag änderte das Hochschulgesetz und signalisierte so grünes Licht für das Ausscheiden der Unikliniken aus der Tarifgemeinschaft zwecks Abschlussmöglichkeit für einen TVE. In einem Anerkennungstarifvertrag ist festgelegt, dass sie in den kommenden 7 Jahren sämtliche Tarifregelungen des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L) automatisch übernehmen (Arbeitszeit, Entgelt, betriebliche Altersversorgung … ). Und danach? Bedeutet dies etwa, dass das gewerkschaftlich organisierte Uniklinikpersonal während der nächsten 3 – 4 TV-L-Runden außen vor bleibt, wo es doch neben angestellten Lehrer:innen und Erzieher:innen in den letzten Jahren deren Speerspitze darstellte? Die Befürwortung der Änderung des Hochschulgesetzes durch ver.di-NRW stellt also ggü. Berlin eine Verschlechterung dar.
Zum Vierten: Immer wieder suggerierte die ver.di-Führung ihren Mitgliedern, ein TVE finanziere sich wie von selbst. Doch zahlen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nur die von Spahns Pflegepersonalstärkungsgesetz eingeräumten mageren zusätzlichen Stellen direkt am Krankenbett. Des Weiteren wurde sie nicht müde, den Beschäftigten zu versichern, der Staat werde die übrig gebliebene Lücke zur notwendigen Personalaufstockung schließen und man hoffe auf einen starken Anreiz für Personalaufbau durch den abgeschlossenen Tarifvertrag. Doch der Landtagsbeschluss deckt nur die Bezahlung des Anerkennungstarifvertrags für 7 Jahre ab, denn die Unikliniken hatten sich bis zuletzt gegen die durch den TVE entstehenden Zusatzkosten mit Händen und Füßen gesträubt und angedroht, dies durch Abstriche am TV-L wettzumachen.
Die Erfahrung der siegreichen Beschäftigten an der Charité und bei Vivantes Berlin beweist: All das sind Phantastereien! Der Senat betonte dort ausdrücklich, er dürfe lt. Krankenhausfinanzierungsgesetz den laufenden Betrieb gar nicht subventionieren, und erhöhte lediglich das Budget für Investitionen in die Substanz, zu denen er demnach verpflichtet ist. Trotz dieser Erhöhung bleibt es lt. Berliner Krankenhausgesellschaft immer noch weit unter dem an Instandhaltung und Erneuerung von Gebäuden und Technik Nötigem. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz gilt auch für NRW ebenso wie die langjährige Vernachlässigung der Pflichten durch die Landesregierung und das Subventionsverbot für den laufenden Betrieb.
Aus all diesen Gründen sollten die Gewerkschaftsmitglieder das Ergebnis ablehnen und den Streik wiederaufnehmen. Wichtig ist, die von Wesenick beschriebenen demokratischen Prozesse an der Basis – ja, diese ist umfänglicher als früher in die Auseinandersetzungen einbezogen und darf ihre Meinung äußern – auf die Kampfesführung auszuweiten: der Rat der 200 muss auf Mitgliederversammlungen als Streikkomitee und verhandlungsführende Tarifkommission gewählt werden, jederzeit neu wählbar und rechenschaftspflichtig sein. Ferner muss er als Kern von nach den gleichen direkt- oder rätedemokratischen Prinzipien fungierenden Veto-, Inspektions- und Kontrollorganen operieren, die die Umsetzung des TVE überwachen und energische Schritte einleiten, wirklich massenhaft zusätzliches Personal einzustellen. Dabei kommt man um die Frage der Finanzierung nicht herum. Eine einheitliche staatliche Zwangskrankenversicherung für alle mit progressiven Betragssätzen muss ebenso her wie eine Finanzierung der Investitionsmittel durch progressive Besteuerung von Gewinnen, Einkommen und Vermögen.
Nach der Urabstimmung gilt als unmittelbare Aufgabe der Opposition gegen die bisherigen TVEs: Einberufung einer Konferenz aller Beschäftigten in Gesundheitswesen, Alten- und Behindertenbetreuung einzuberufen, um die ver.di-Führung zur Aufnahme eines Kampfes um einen bundesweit geltenden TVE aufzunehmen bis hin zum politischen Streik aller Gewerkschaften des DGB und darüber hinaus (GDL, Marburger Bund, UFO, Gorillas … ) für eine gesetzlich verbindliche Personalregelung, entschädigungslose Verstaatlichung der Privatkliniken, Wegfall der Fallpauschalen und Ersatz durchs Selbstkostenprinzip. Diese Personengruppe gilt es ferner, für die Idee einer klassenkämpferischen, antibürokratisch-oppositionellen Gewerkschaftsbasisbewegung zu gewinnen. Schließt Euch der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) an! Damit könnte ein wichtiger Grundstein auf dem Weg zu einem integrierten, sozialistischen Gesundheitswesen gelegt werden.
https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/
https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/06/unikliniken-nrw-im-streik/
https://arbeiterinnenmacht.de/2022/05/27/uniklinken-in-nordrhein-westfalen-4-wochen-streik/
https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/
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