Jürgen Roth, Infomail 1187, 6. Mai 2022
2021 hatten das Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und die Arbeit„nehmer“:innenkammern Bremen und Saarland – die einzigen derartigen Institute im Bundesgebiet –, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, insgesamt 12.700 Aussteiger:innen und Teilzeitkräfte der Pflegeberufe online befragt unter dem Motto „Ich pflege wieder, wenn … “. Nach vorsichtiger Kalkulation entstünden lt. dieser Umfrage durch verbesserte Arbeitsbedingungen 300.000 zusätzliche Vollzeitkräfte.
Als stärkste Motivation für Berufsrückkehr bzw. Arbeitszeitaufstockung wurde genannt: eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Daneben werden genannt: Stärkung der Tarifbindung (nicht nur das Zurückgehen auf regionale Durchschnittswerte in der stationären Langzeitpflege als Kriterium für die Neuzulassung von Einrichtungen) sowie die Sicherung der Finanzierung. Auffällig war, dass ehemalige Beschäftigte aus der ambulanten Pflege diesen Bereich seltener als Ziel eines Wiedereinstiegs benannten. Dies wirft ein Licht auf die dortigen noch schlechteren Arbeitsverhältnisse, wo es kaum Ansätze zur Personalbemessung gibt.
Der Pflege- und sonstige Personalnotstand im Krankenhaus ließe sich also beheben, wenn v. a. die Zahl der Stellen und Arbeitsstunden aufgestockt würden. Jahrelange Auseinandersetzungen mit deutlichen Erfolgen in jüngster Zeit haben aber gezeigt: Das geht nur mit Arbeitskampf gegen Krankenhausträger, Kommunal- und Landesregierungen! Und hier liefern die Beschäftigten der 6 Unikliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gerade ein nachahmenswertes Beispiel ab. Ihrem Kampf gebührt volle Solidarität!
Nachdem NRW-Landesregierung und Arbeit„geber“verband des Landes (AdL) das 100-Tage-Ultimatum am Sonntag, dem 1. Mai 2022, verstreichen lassen hatten, gab ver.di auf einer Pressekonferenz am darauffolgenden Montag bekannt, dass sich die organisierten Beschäftigten in einer Urabstimmung mit 98,31 % – einem überwältigenden Ergebnis – für Ausweitung des Streiks ausgesprochen hatten. Bisher gab es einen zweitägigen Warnstreik, der der Sammlung von 500 Aktivist:innen diente, die sich in Oberhausen trafen, darunter auch im Niederrheinstadion des Ex-Erstligisten RWO. Näheres dazu in NI 264: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/28/unikliniken-in-nordrhein-westfalen-vor-einem-streik/.
An der Urabstimmung hatten sich nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Beschäftigte beteiligt, was wir mit einem weinenden wie lachenden Auge betrachten sollten. Die positive Seite dieser Methode aus dem Arsenal des Social Organizing: So gewinnt das Ergebnis noch mehr Schlagkraft; die negative: Nichtmitglieder entscheiden darüber mit, ob – noch nicht wie – ver.di streiken soll. Es geht jetzt auch darum, aus diesen stimmberechtigten Unorganisierten rasch Gewerkschaftsmitglieder zu machen, denn die Gefahr von Streikbruch lastet natürlich auf dieser Gruppe objektiv schwerer.
Ver.di Landesleiterin Gabriele Schmidt bestätigte, dass es zwar kurz vor Ablauf des Ultimatums „positive Signale aus der Politik“ gegeben habe, doch weder ein konkretes Angebot noch einen Vorschlag für einen Verhandlungstermin. Auf keinen der 7 (!) von ver.di unterbreiteten Terminvorschläge hätten die Arbeit„geber“:innen reagiert. Schmidt bekräftigte, dass ihre Gewerkschaft jetzt nicht mehr in der Situation stecke, zu Warnstreiks aufzurufen, sondern zu richtigen. Das ist die richtige und erstaunlich rasche Antwort auf deren Verweigerungshaltung, die letztlich auch von der Landesregierung gedeckt wird.
Im Vergleich zur Berliner Krankenhausbewegung sehen wir einen weiteren positiven Unterschied im raschen Übergang zu regulären Streiks direkt nach dem Ultimatum. Am Mittwoch, dem 5. Mai 2022, haben sich daraufhin 1.700 Beschäftigte an den 6 Standorten in den Ausstand begeben, wie ver.di-Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick am gleichen Tag mitteilte. Für Mittwochabend war ein Treffen der gewerkschaftlichen Verhandlungsführung mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) angesetzt.
Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Rechenschaftspflicht, Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees vor und durch Mitgliedervollversammlungen, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen).
Die Streikenden dürfen sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wie in Berlin. Dort wurde ihnen von Krankenhausträgern, Senat, aber leider auch der ver.di-Verhandlungsspitze vorgegaukelt, eine auskömmliche Finanzierung durch den Staat sei gegeben. Gar nicht weiter problematisiert wurde somit also die auf dem Fallpauschalen- oder DRG-Abrechnungssystem basierende Finanzierung der laufenden Betriebskosten. Der Senat bleibt trotz Mittelaufstockung weit unter dem nötigen Aufwand für Gebäude, Technik und sonstige Investitionen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbietet ihm das Krankenhausfinanzierungsgesetz dagegen vollständig. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs – und können wir die gewaltigen erforderlichen Mittel für deutlich mehr Personal, das für eine humane Pflege benötigt wird und unter diesen geänderten Bedingungen auch verfügbar wäre, nicht von den Reichen und ihrem Staat erzwingen, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.
All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.
Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.