Jürgen Roth, Neue Internationale 264, Mai 2022
In Nordrhein-Westfalen haben sich Beschäftigte der 6 Universitätskliniken (Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Münster) zusammengeschlossen. Sie fordern einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) nach Berliner Vorbild.
Die Warnstreiks in der Länderentgelttarifrunde des öffentlichen Dienstes im November 2021 hatten den gewerkschaftlichen Organisationsgrad dort in die Höhe getrieben. 4.000 Beschäftigte beteiligten sich an Arbeitsniederlegungen, über 1.000 schlossen sich der Gewerkschaft an. Viele wurden Tarifbotschafter:innen, vergleichbar mit Tarifberater:innen bzw. Teamdelegierten an der Charité und bei Vivantes. Im Januar 2022 stellten 700 Aktive ein 100-Tage-Ultimatum an Landesregierung und -arbeit„geber“:innenverband, das am 1. Mai abläuft. 12.000 Unterschriften kamen bei einer Petition zusammen, die zusätzlich am 23. März überreicht wurde. Das entspricht einem Anteil von 63 % der von der Tarifforderung betroffenen Kolleg:innen. Am 12. und 13. April rief ver.di zu einem Warnstreik auf, der ohne Beeinträchtigung des Klinikbetriebs zunächst einmal der Sammlung der Aktivist:innen dienen sollte. Dem Aufruf folgten 500 Pflegekräfte nach Oberhausen in Stadthalle und Niederrheinstadion zu einem „Krankenhausratschlag“. Mit ernsthafteren Warnstreiks vor der Landtagswahl am 15. Mai ist zu rechnen, denn bisher gab es keine Reaktion von der Seite, an die sich das Ultimatum richtet.
Die Beschäftigten tauften ihr Bündnis „Notruf NRW – Gemeinsam stark für Entlastung“. 5.000 Überlastungsanzeigen an den 6 Uniklinken im Jahr 2021 verdeutlichen den Ernst der Lage: Es geht den Kolleg:innen um Mindestpersonalausstattungen für alle Bereiche, angemessene Belastungsausgleiche und Verbesserung der Ausbildungsqualität. Wichtig ist den Kolleg:innen der Einbezug aller Servicebereiche.
Doch nicht nur Forderungen und Umfang der von ihnen betroffenen Beschäftigtengruppen, 100-Tage-Ultimatum, Auftakt im Fußballstadion, Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, Existenz von Tarifbotschafter:innen gleichen den Verhältnissen vor den großen letztjährigen Berliner Krankenhausstreiks aufs Haar. Wöchentliche Aktiventreffen an jeder Uniklinik, ständige Gespräche mit den Kolleg:innen in allen betroffenen Abteilungen zwecks Erklärung der Tarifforderungen, Mitgliederwerbung und Aufforderung zur Unterzeichnung der Mehrheitspetition treten in die gleichen Fußstapfen. Des Weiteren ist positiv zu werten, dass auch in NRW, dem Vorbild aus der Hauptstadt folgend, offensichtlich Kontakte in die sog. Zivilgesellschaft geknüpft werden konnten: In digitalen Stadtversammlungen bekundeten Bürger:innen, Parteien und Verbände ihren Zuspruch, ihre Solidarität mit dem Kampf um den TVE.
Möglicherweise heben sich 2 Unterschiede fortschrittlich von den in Berlin ausgetretenen Pfaden ab: Zum einen scheint der Ruf nach Mindestpersonalbesetzung auch die Bereiche außerhalb der Pflege (ohne ärztliches Personal) zu umfassen, während es bei Vivantes „nur“ um eine Angleichung der Tochtergesellschaften an den Lohn- und Gehaltstarif des TVöD ging. Inwieweit in NRW diese Bereiche in einen Niedrigtarif ausgelagert worden waren bzw. noch sind, ist uns nicht bekannt. In Düsseldorf und Essen wurde aber seinerzeit auch für ihre Rückkehr unter Dach und TV der Klinikmütter gestreikt und dortige (Teil-)Erfolge könnten weitergehende Forderungen ermutigt haben. In jedem Fall muss aber ein Streikziel – anders als in der Hauptstadt – ihre vollständige Rückführung in Klinikhände sein! Zweitens zeigt sich, wie richtig wir lagen, als wir die Verknüpfung der Tarifrunde TVöD-L mit dem Kampf für einen TVE forderten. Das haben zwar GEW- und ver.di-Tarifkommissionen und -vorstände peinlichst herauszuhalten vermocht, doch die Beschäftigten der Uniklinken haben es an der Basis umgesetzt. Für sie war die Gehaltstarifrunde nicht Ende, sondern nächster Schritt in ihrer weitergehenden Auseinandersetzung!
So weit, so gut! Es wurde mehr als gelernt aus den positiven Seiten der Berliner Krankenhausbewegung. Nun gilt es, deren Fehler und Schwächen zu überwinden. Erstens: Von den Tarifbotschafter:innen mit informellem Status muss der Impuls für eine vollständige und formale Kontrolle über den zukünftigen Arbeitskampf und die Umsetzung des Ergebnisses ausgehen (Wahl und jederzeitige Abwahl von Streikkomitees, Kontrollorgane mit Vetobefugnissen bis hin zu Bettensperrungen, Aufnahmestopps und Stationsschließungen). Am 25. April demonstrierten Beschäftigte der Charité und von Vivantes gegen die schleppende Umsetzung der Tarifbeschlüsse. So hat der Senat zwar die Landesinvestitionsmittel erhöht (2019: 80 Mio. Euro, 1922: 148 Mio., 1923: 154 Mio.).
Damit meint er, die Gewichtung im Budget der Kliniken zu ändern in Richtung auf mehr Mittel für die Finanzierung zusätzlichen Personals. Die Berliner Krankenhausgesellschaft rechnet aber allein mit einem jährlichen Investitionsmittelbedarf von 350 Mio. Euro. Stärkung der Eigenkapitalzuführungen allein für Vivantes (1922: 128,3 Mio.; 1923: 131,7 Mio.) sollen die Möglichkeit des Unternehmens verbessern, Kredite aufzunehmen. Tarifverträge zu finanzieren, das verbiete aber das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Die Krankenhausträger müssen ihre laufenden Kosten selbst erwirtschaften – zuvorderst aus Fallpauschalen (DRGs)! Ver.di und Senatsparteien haben die Streikenden damals also getäuscht mit der Beschwichtigung, eine staatliche Finanzierung des TVE sei gewährleistet. Wird die Krankenhausfinanzierung nicht grundsätzlich geändert – Abschaffung der DRGs -, kann bei gleichem oder steigendem Behandlungsaufwand das Personal nur entlastet werden, wenn es wie oben beschrieben in den Betriebsablauf eingreift.
Vorbereiten muss sich die Krankenhausbewegung auch auf eine andere, kapitalistische „Lösung“ des Dilemmas Personalknappheit, die sich in der steigenden Zahl von Krankenhausschließungen bereits abzeichnet: den Rückzug aus der stationären Grundversorgung in der Fläche! Die kommende Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Doch gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.
All das zeigt, dass der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand über die rein betriebliche Ebene hinausgehen muss. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.