Arbeiter:innenmacht

Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!
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