Robert Teller, Neue Internationale 231, September 2018
Der Rechtsruck bestimmt in Europa den öffentlichen Diskurs und die politische Realität. Vor wenigen Jahren galt es noch als moralischer Makel, dass Tausende im Mittelmeer vor den Toren des „zivilisierten“ Europa den Tod fanden. Heute gilt deren Rettung auf See nicht nur als unmoralisch, sondern als kriminell. Die Weigerung der italienischen und maltesischen Regierungen, Schiffe mit aus Seenot Geretteten einlaufen zu lassen, behördliche Maßnahmen der Flaggenstaaten gegen die Schiffe wie im Fall der „Aquarius“ und das Strafverfahren gegen den Kapitän der „Lifeline“ Claus-Peter Reisch sollen nicht nur die private Seenotrettung unterbinden, sie sollen auch den MigrantInnen vor Augen führen, dass ihr Leben in Europa nichts bedeutet und ihre Flucht übers Mittelmeer aussichtslos ist.
Allein im Juni 2018 starben laut der mit der UNO eng verbundenen Organisation IOM (Internationale Organisation für Migration) mindestens 629 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer. Obwohl weniger Menschen als früher die Überfahrt wagen, ist der Sommer 2018 der bislang tödlichste im Mittelmeer. Das ist auch eine direkte Folge dessen, dass Seenotrettungs-NGOs durch behördliche Schikanen zeitweise nicht einsatzfähig waren, weil ihre Schiffe in Häfen festlagen oder – wie im Falle der „Lifeline“ und der „Aquarius“ – auf der Suche nach einem Hafen durchs Mittelmeer irrten. Die italienische Regierung beabsichtigt, unter Bruch internationalen Rechts Schiffbrüchige an die libysche Küstenwache zu übergeben. Diese interniert die Aufgegriffenen in Gefangenenlagern, wo Krankheiten, Folter und Tod an der Tagesordnung sind.
Das Massensterben im und um das Mittelmeer ist ein Teil der transkontinentalen „Kraftanstrengung“ der europäischen Regierungen, den „Flüchtlingsstrom“ zu stoppen. Während im Nahen Osten und südlich der Sahara ganze Regionen militärisch durch imperialistische Konflikte oder wirtschaftlich durch die Gesetze des Weltmarkts verwüstet werden, wollen hierzulande die ImperialistInnen selbst bestimmen, für wie viele der von ihnen Ruinierten sich die Tür nach Europa öffnet. Der grassierende Rassismus und die Abschottung Europas ist aber nicht einfach nur ein Problem mangelnder Menschlichkeit. Er ist vor allem eine Konsequenz der allgemeinen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und des Versagens der ArbeiterInnenbewegung und der Linken, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen.
In Italien, Polen, Österreich und Ungarn sind rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt. In ganz Europa befinden sie sich im Aufschwung. Der Rechtsruck in Italien wird seit Anfang des Jahres begleitet von einer Welle teils tödlicher rassistischer Gewalttaten gegen MigrantInnen. Matteo Salvini möchte 500.000 „illegale“ MigrantInnen abschieben. Ganz Europa sieht sich scheinbar bedroht von einer Migrationswelle, auf die mit Gesetzesverschärfungen, neuen Schikanen und Fluchthindernissen sowie Aufrüstung des Polizeiapparats reagiert wird.
Nach dem Beinahe-Bruch der Unionsparteien im Juni am „Asylstreit“ folgt nun die Umsetzung des Beschlossenen. An der deutsch-österreichischen Grenze werden in Zukunft Menschen zurückgeschickt, für die nach den Dublin-Regeln andere Länder zuständig sind. Auch wenn der „Asylstreit“ stellenweise wie ein Stück aus dem Tollhaus wirkt, so hat die neue bayerische Grenzpolizei innerhalb des ersten Monats nach ihrer Aufstellung genau eine Person an der Grenze abweisen können. Somit ist der reaktionäre Charakter der beschlossenen Maßnahmen ebenso klar wie deren ganz realen Auswirkungen für MigrantInnen. Die Errichtung der lange diskutierten „Transitzentren“ hat den Sinn und Zweck, ein Kasernierungssystem für Flüchtlinge zu schaffen, in welchem in Schnellverfahren und mit eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten über Asylanträge entschieden wird. Die Transitzentren verfolgen auch den Zweck, die Segregation der „Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive“ – d. h. der Unerwünschten – zu verschärfen, um dem „Problem“ zu begegnen, dass die Integration der MigrantInnen in die hiesige Gesellschaft oftmals rechtliche oder faktische Abschiebungshindernisse schafft. Letztlich zeigen auch die bekanntgewordenen Fälle rechtswidriger Abschiebungen nach Afghanistan und Tunesien, wohin die Reise gehen soll: Der bürgerliche Staat erträgt es nicht, dass jede/r – unabhängig von ihrer/seiner Herkunft – Anspruch auf rechtliches Gehör haben soll. Im Zweifelsfall werden dann einfach Fakten geschaffen.
Gegenüber dem Beschluss im „Asylkompromiss“ gehen Seehofers Vorstellungen im „Masterplan Migration“ noch weiter: Er sieht u. a. vor, dass in Zukunft laufende Rechtsmittelverfahren nicht mehr unbedingt ein Hinderungsgrund für Abschiebungen darstellen sollen, der Rechtsschutz damit zur Farce wird. Beschleunigte Asylverfahren sollen ausgeweitet werden. Bei ausbleibender Mitwirkung, fehlenden Papieren usw. sollen auch Widerrufsverfahren automatisch zum Nachteil der Betroffenen entschieden werden. Neben weiteren Ländern soll u. a. Algerien als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft werden, wo die Regierung regelmäßig Flüchtlinge nahe der Grenze zum Niger in der Sahara zur Rückkehr per Fußmarsch absetzt. Zudem fordert Seehofer, einen weiteren rechtlichen Status für Flüchtlinge unterhalb des Duldungsstatus einzuführen.
Das Ziel der Bundesregierung ist die „Verbesserung“ der rassistischen Selektion von MigrantInnen. Die dauerhafte „Bleibeperspektive“ soll daran geknüpft werden, wie nützlich eine MigrantIn fürs Kapital ist. Natürlich ist genau das schon immer eine wesentliche Funktion von nationalstaatlichen Grenzen. Die von der SPD geforderte „Spurwechsel“-Regelung und das geplante Einwanderungsgesetz zielen darauf ab, „brauchbaren“ Flüchtlingen mit Berufsausbildung eine Bleibeperspektive zu bieten. Diese Logik rechtfertigt im Umkehrschluss natürlich auch, die „unbrauchbaren“ Arbeitskräfte umso schneller loszuwerden, wogegen die SPD keine Einwände hat. Vor allem aber ist damit auch klar, als was die MigrantInnen im Kapitalismus gelten: als TrägerInnen der Ware Arbeitskraft, die bisweilen durchaus willkommen sind, sofern die Arbeitskraft fürs Kapital verwertbar ist. Im Kapitalismus kann die Einwanderungsgesetzgebung daher aber auch nichts anderes sein als institutionalisierte rassistische Selektion im Interesse des Kapitals. Das bedeutet keinesfalls, dass wir keinen Kampf für Verbesserungen im Asylrecht führen sollten. Es bedeutet aber, dass der Kampf gegen Rassismus nicht einfach eine Frage von Menschlichkeit ist, sondern eine Klassenfrage.
Für den 29. September wird zur „Welcome United“-Parade nach Hamburg mobilisiert. Die Kampagne richtet sich gegen die Gesetzesverschärfungen gegen AsylbewerberInnen, zunehmende staatliche Schikanen, Abschiebungen und die allgegenwärtige chauvinistische Hetze. Die Mobilisierung wird bislang von etwa 300 linken, antirassistischen und Refugee-Gruppen unterstützt und kann durchaus zu einem wichtigen Bezugspunkt antirassistischen Protests werden. Damit eine solche Bewegung zu einer realen gesellschaftlichen Kraft werden kann, muss sie aber eine Strategie entwickeln, die Antirassismus als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung, d. h. als Teil des politischen Klassenkampfes auffasst. Der Mobilisierungsaufruf unter dem Titel „Gegen Abschiebung, Ausgrenzung und rechte Hetze – für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle!“ wirft zwar viele wichtige Fragen auf. Die Schlussfolgerung, für welche Forderungen und Ziele wir kämpfen sollten, bleibt er jedoch schuldig – getreu dem Motto: „Der Weg ist das Ziel“.
„Mit Lautsprecherwagen, Performances, Texten, Musik und Karneval verjagen wir die Kälte, den Rassismus, die Herzlosigkeit aus den Straßen der Stadt. Gemeinsam zeichnen wir ein Bild auf der Straße: das Bild unserer Freundschaft, das Bild eines solidarischen, vielfältigen und angstfreien Lebens. Wenn wir uns bewegen, bewegt sich die Welt!“
Leider kann man den Rassismus nicht einfach mit Musik wegfeiern und mit Blumen kann man die Festung Europa nicht überwinden. Dem wird ein großer Teil der linken UnterstützerInnen des Aufrufs auch zustimmen. Der „Vorteil“ der politischen Beliebigkeit des Aufrufs besteht wohl darin, dass sich von „ganz links“ bis zu offen bürgerlichen Kräften fast jede/r darin wiederfinden kann. Der Nachteil ist allerdings, dass mit einem solchen Bündnis kein Kampf gegen Asylrechtsverschärfungen, rassistische Übergriffe und den Ausbau der Festung Europa zu gewinnen ist. Dies deshalb, weil „breite BürgerInnenbündnisse“ in der Praxis immer im Fahrwasser bürgerlicher Kräfte enden, auch wenn die „radikale Linke“ im antikapitalistischen Block ihr eigenes Ding inszeniert.
Linke sollten in der „Flüchtlingsfrage“ für die Forderung nach offenen Grenzen kämpfen, d. h. für das Recht auf Bewegungsfreiheit aller. Dabei sollten wir auch klar machen, dass dies nicht die „utopische“ Forderung ist, als die sie oft verstanden wird, sehr wohl aber einen grundlegenden Angriff auf das „Recht“ des bürgerlichen Staates zu entscheiden, wer sich im Land aufhalten darf und wer nicht, zum Ausdruck bringt. Wer nicht für offene Grenzen ist, muss zwangsläufig für eine Selektion der MigrantInnen durch den bürgerlichen Staat sein. Das Ziel dieser Forderung ist daher, jede Ungleichbehandlung von MigrantInnen durch ihn zu bekämpfen. Solche Ziele können nur auf Grundlage einer ArbeiterInneneinheitsfront erkämpft werden. Dafür sollten wir an die gesamte ArbeiterInnenbewegung herantreten, einschließlich ihrer reformistischen Teile.
Den Anti-Rassismus als Teil des Klassenkampfes begreifen bedeutet, die Forderungen der Geflüchteten und MigrantInnen mit jenen der Masse der Lohnabhängigen zu verbinden. Wir treten für volle Bewegungsfreiheit, das Recht auf Arbeit und uneingeschränkte StaatsbürgerInnenrechte für alle ein – auch, weil so der Kampf viel leichter gemeinsam geführt werden kann, ohne ständige Ausgrenzung und drohende Abschiebung. Ein gemeinsame Kampffront gegen den Staat und die RassistInnen kann geschaffen werden, wenn wir gegen Armut, Kürzungen, Ausspielen von MigrantInnen und InländerInnen vorgehen, indem wir die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, nach Beschäftigung zu tariflichen und Mindestlöhnen oder nach bezahlbarem Wohnraum für alle in den anti-rassistischen Kampf integrieren. Hier zeigt sich auch, warum die ArbeiterInnenklasse, der die meisten Flüchtlinge und MigrantInnen ohnedies angehören, zur zentralen Kraft im Kampf gegen Rassismus werden kann und muss.
Die Überwindung der bestehenden rassistischen Spaltung der ArbeiterInnenklasse liegt nämlich im Interesse aller Lohnabhängigen. Die Tatsache, dass die Masse der Arbeitenden von diesem Bewusstsein weit entfernt ist, spricht nicht gegen diese Notwendigkeit. Wohl aber verdeutlicht sie, dass es eines organisierten, hartnäckigen Kampfes in den Gewerkschaften, in den Betrieben, in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung gegen Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus und Standortdenken bedarf.
Um diesen Kampf organisiert, gemeinsam – als Kampf von Linken, MigrantInnen, klassenkämpferischen GewerkschafterInnen, anti-rassistischen Bündnissen und linken Parteien – zu führen, bedarf es der Klärung unserer Ziele und der Verabredung verbindlichen gemeinsamen Vorgehens, kurzum der koordinierten bundesweiten und europaweiten Aktion gegen staatlichen Rassismus, gegen die Festung Europa.