Martin Suchanek, Neue Internationale, November 2022
Die iranische Revolution steht an einem entscheidenden Punkt. Seit Wochen gehen Tausende, ja insgesamt wohl Millionen auf die Straße. In den kurdischen Regionen legten Generalstreiks das öffentliche Leben lahm. Die Universitäten bilden einen Hort des Widerstandes. Und seit Wochen breiten sich auch Streiks im Land aus.
Die Massen zeigen seit Wochen, dass sie nicht mehr leben wollen wie bisher. Ihre Kraft, ihr Heroismus, ihr Widerstand, an dessen Spitze bis heute vor allem junge Frauen stehen, konnte vom Regime bisher nicht gebrochen werden – trotz massiver Repression, trotz hunderter Toter, trotz Tausender Verletzter, Festgenommener und trotz inszenierter regierungstreuer Aufmärsche.
Doch die Bewegung steht auch an einem entscheidenden Punkt. Sie konnte zwar das islamistische Regime erschüttert. Brechen konnte sie es bisher jedoch nicht. Die Mullahs verfügen nach wie vor über einen zentralisierten Staats- und Repressionsapparat. Sie kontrollieren nach wie vor die Reichtümer des Landes, die Medien, die öffentlichen Institutionen, vor allem Hunderttausende in den Polizeikräften, Armeeeinheiten, Geheimdiensten und Milizen wie die Pasdaran und die Basidsch-e Mostaz’afin, die zu jedem Verbrechen bereit sind, um die Massenbewegung in Blut zu ertränken. Unverhohlen drohen die Führer der Reaktion wie der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, mit Worten wie: „Die Demonstranten sollten die Geduld des Systems nicht überstrapazieren.“ Was damit gemeint ist, zeigen Bilder aus Mahabad, wo Kräfte des Regimes am 28. Oktober in die Menge schossen.
Bislang hat die Bewegung trotz der Brutalität des Regimes standgehalten, ja sie hat sich über Wochen ausgeweitet und verbreitet. Doch wir nähern uns täglich einem Punkt, an dem das Regime versuchen wird, die Offensive wieder zu erlangen. Für die Bewegung stellt sich daher die Überlebensfrage: Wie kann die Massenbewegung zu einer organisierte Kraft werden, die selbst den Apparat der Mullahs brechen und zerschlagen kann? Wie kann die Revolution siegen?
Der Mord an der 22jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini war jener berühmte Funke, der das Pulverfass explodieren ließ. Drei Tage nach der Festnahme durch die sog. Sittenpolizei wegen angeblichen Verstößen gegen die reaktionäre Kleiderordnung verstarb die junge Frau.
Ihr Schicksal war kein Einzelfall. Willkür, Misshandlung und Erniedrigung von Frauen, von nationalen Minderheiten, Unterdrückung der Jugend und die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse gehören zum Sittenbild einer „rechtschaffenen“ Theokratie, deren inszenierte moralische Autorität regelmäßig in Barbarei umschlägt. Dieses Regime fordert jährlich Tausende und Abertausende Opfer, deren Schicksal, deren Namen, deren Angehörige und Freund:innen unter dem Druck von Repression und Unterdrückung in der Anonymität verschwinden. Die Herrschaft des islamistischen Regimes umfasst alle Ebenen des Staates, durchdringt über sämtliche religiösen und andere reaktionäre Institutionen die Gesellschaft und ist eng mit der wirtschaftlichen Elite verflochten.
Doch dieser allmächtige staatliche, klerikale und wirtschaftliche Apparat, dieser Moloch, der die gesamte iranische Gesellschaft zu ersticken droht, hat seit dem 16. September den Nimbus seiner Allmacht verloren. Die seit Jahren und Jahrzehnten angehäuften Widersprüche der iranischen Gesellschaft treten seither offen zutage.
Täglich riskieren tausende Frauen im ganzen Land ihre Leben, bilden die Speerspitze der Bewegung. Sie legen öffentlich den Schleicher ab, lassen sich ihr Haar schneiden, riskieren ihr eigenes Leben, um ein zukünftiges zu erkämpfen. Dieser Heroismus, diese Entschlossenheit verweisen aber auch auf die Tiefe der gegenwärtigen Bewegung. Sie treffen einen ideologischen und materiellen Kern der islamistischen Diktatur, die geschlechtsspezifische Unterdrückung. Zweitens zeigen sie aber auch, dass die große Mehrheit der iranischen Frauen und der gesamten Bevölkerung nicht mehr bereit ist, weiter so zu leben wie bisher. Viele fürchten ein Leben in Unfreiheit, partriarchaler und klerikaler Unterdrückung mehr als den Tod.
Dieser Heroismus bezeugt sehr viel mehr als Mut, Opferbereitschaft, Kampfeswille und Unbeugsamkeit Einzelner. Dass er zum Massenphänomen wurde, dass er breite Schichten ergriff, verdeutlich das revolutionäre Potential der Massen.
In den letzten Wochen hat sich die Bewegung gegen das Regime ausgeweitet. In den kurdischen Gebieten hat der Kampf teilweise die Form von lokalen Aufständen angenommen. In Sine (Sanandadsch, Sanandaj) wurden Anfang Oktober Sicherheitskräfte aus Teilen der Stadt zurückgedrängt. Das Regime versuchte, die Bewegung mit brutaler Repression, Einsatz von Kriegsgerät durch die Polizei und willkürlichen Morden niederzuschlagen und die kurdische Bewegung zu einer verfrühten bewaffneten Konfrontation zu provozieren.
Ein entscheidender Grund dafür, dass das Regime bisher die Bewegung nicht brechen konnte, liegt darin, dass sie alle Schichten der Gesellschaft, Frauen, Studierende, die unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber auch die Arbeiter:innenklasse ergriffen hat. Deren soziale Lage hat sich über Jahre besonders dramatisch verschlechtert. Seit gut einem Jahrzehnt liegt die offizielle Inflationsrate bei 10 – 20 %. 11,3 Prozent sind offiziell als arbeitslos registriert. Frauen, Jugendliche, aber auch Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten sind davon besonders stark betroffen.
Schon im Frühjahr und Sommer 2022 fanden im Iran wichtige illegale oder halblegale Streiks der Arbeiter:innen gegen Preissteigerungen, schlechte Arbeitsbedingungen und für die Auszahlung ausstehender Löhne statt. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Arbeiter:innenklasse im September rasch hinter die Protestbewegung stellte.
Seither weiteten sich die Streiks und Aktionen rasch aus. Seit dem 10. Oktober ergriffen sie auch die Ölindustrie. So streiken die Arbeitenden der Öl- und Gaswerke in Asaluyeh und Kangan, im South-Pars-Gasfeld, in Buschehr im Süden Irans. Am 19. Oktober befanden sich Beschäftigte von Asalouyeh Petrochemical, Bandar Abbas Petrochemical, Abadan Petrochemical, Bushehr Petrochemical, South Pars Petrochemical, Haft Tappeh Sugar Cane Company, Neyriz Ghadir Steel in Fars im Ausstand.
Der Versuch, auf die Opposition mit eigenen, regierungstreuen, islamistischen Massenkundgebungen zu antworten, erwies sich im September als politisches Eigentor. Die inszenierten Aktionen blieben zahlenmäßig weit hinter der Protestbewegung zurück. Offenkundig können die Mullahs die alte Ordnung bisher nicht einfach wieder herstellen, weder durch massive Repression noch durch inszenierte Zurschaustellung ihrer eigenen Anhänger:innen.
Auch wenn das Regime erschüttert ist, so wird es nicht freiwillig oder aufgrund von Straßenprotesten und unkoordinierten Besetzungen und Streiks weichen. Im Gegenteil: Es sammelt seine Kräfte, reorganisiert sie und verfügt über einen zentralisierten Apparat, der zwar in der Defensive, aber intakt geblieben ist. Es monopolisiert weiter die Medien und öffentliche Propaganda, verfügt über ein Monopol der bewaffneten Kräfte und ist eng mit der herrschenden Kapitalist:innenklasse verbunden.
Die Bewegung wiederum kann nicht ewig auf diesem Stand verharren. Sie muss vielmehr einen entscheidenden Schritt vorwärts gehen, wenn sie die vorrevolutionäre Krise in eine echte Revolution umwandeln, das Regime stürzen will.
Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben haben längst Parolen wie „Jin Jiyan Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes verbunden. Ihnen ist längst schon bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Auch anderen Schichten der Unterdrückten ist bewusst, dass sie zur Zeit an einem Scheideweg, vor einer klaren Alternative stehen: Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.
Diese Frage ist untrennbar verknüpft mit der, welche gesellschaftliche Kraft der Revolution ihren Weg weisen, sie zum Sieg führen und die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen erfüllen kann.
Die gegenwärtige Bewegung erscheint zwar als spontane, doch ihre Aktionen sind auf lokaler, auf universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet haben. In den kurdischen Gebieten existiert auch ein Koordinierungsausschuss von bislang natürlich illegalen Parteien. Doch die Bewegung hat kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.
Und eine solche Koordinierung und Zentralisierung kann aus einzelnen lokalen Aktionen, Streiks, Demonstrationen nicht entstehen. Es braucht vielmehr eine die Bewegung zusammenfassende Kampfform, die das gesamte Land erschüttern kann – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.
Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.
Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Entscheidend ist aber, dass diese auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung.
Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.
Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufruf an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.
Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.
Schon in der iranischen Revolution bestand ein Kernproblem darin, dass die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten die Hauptlast des Kampfes gegen den Schah trugen, aber ihre Interessen jenen des Bündnisses mit anderen Klassen gegen den Thron untergeordnet wurden. Damals führten vor allem die Stalinist:innen die Arbeiter:innenklasse und Frauen dazu, ihre eigenen Befreiungsinteressen, Klassenforderungen zurückzustellen zugunsten eines Bündnisses mit vermeintlich „antiimperialistischen“ Kräften und dem „nationalen“ Flügel der Bourgeoisie. Diese Politik führte dazu, dass die Frauen auf ihre emanzipatorischen Ziele verzichten sollten, damit die Mullahs für ein Bündnis gegen den Schah und den US-Imperialismus gewonnen werden konnten. Diese Politik führte dazu, dass zugunsten einer sog. „demokratischen Etappe“ der Revolution die Arbeiter:innenklasse die Enteignung des Kapitals und den Kampf für eine sozialistische Umwälzung zurückstellen sollte. Diese Politik führte nicht zur „demokratischen“ Etappe, sondern zur islamistischen Diktatur, zur Entrechtung der Frauen und der Arbeiter:innenklasse.
Dieser Fehler darf heute nicht in anderer Form wiederholt werden. So wie die Beschränkung der iranischen Revolution auf eine bürgerlich-demokratische Etappe damals der Konterrevolution zum Sieg verhalf, so dürfen die Lohnabhängigen, die Frauen, die Jugend, die unterdrückten Nationalitäten heute keine Hoffnung in ein Bündnis mit der monarchistischen oder demokratisch-imperialistischen bürgerlichen Opposition hegen.
Es braucht vielmehr ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuer:innenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:
Ein solches Programm wird nicht einfach spontan aus dem Kampf entstehen. Es braucht bewusste, revolutionäre Kräfte, die es weiter ausarbeiten, dafür unter den Arbeiter:innen, Studierenden, den Frauen, den nationalen Minderheiten eintreten und Kräfte sammeln. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen sich alle jene revolutionären und klassenkämpferischen Kräfte, die diese Perspektive teilen, jetzt organisieren, eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei schaffen, eine Partei, die legale und illegale Arbeit geschickt verbinden muss. Die Zeit drängt in jedem Fall. Die nächsten Tage und Wochen können für Jahre entscheidend sein.
Keine Frage, es wird überaus schwer, in dieser kurzen Zeitspanne eine Partei der Revolution zu schaffen, eine Kraft, die wirklich unter den Massen verankert ist, und diese Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit den Unterdrückten zum Sieg führen kann. Allein, es gibt dazu auch keine Alternative.
One thought on “Die iranische Revolution hat begonnen – wie kann sie siegen?”