Kapitel 2, Unite Against G20, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Juli 2017
Die Bedeutung der G20 in der kapitalistischen Weltordnung ist heute nur schwer zu unterschätzen. Sie umfassen die wichtigsten Länder der Erde. In den 19 Staaten und der EU lebten Ende 2016 4,638 Milliarden Menschen, geschätzte 66,2 Prozent der Weltbevölkerung. Diese Länder brachten 88,3 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts hervor. Sie bestreiten rund drei Viertel des Welthandels. In diesen Ländern wird ein Großteil aller Waren produziert und lebt die Mehrzahl der ArbeiterInnen. Noch deutlicher sind die Finanzinstitutionen, Banken, Versicherungen, Fonds, die AkteurInnen auf den Finanzmärkten in diesen Staaten konzentriert. Alle wichtigen, „harten“ Währungen der Welt sind – mit Ausnahme des Schweizer Franken – die der G20-Staaten.
In den G20-Staaten konzentriert sich auch die politische und militärische Macht. Rund 80 Prozent aller Rüstungsausgaben von jährlich rund 1,6 Billionen US-Dollar gehen auf ihr Konto, wobei auf die USA bis heute der weitaus größte Anteil entfällt. An praktisch allen Kriegen sind Staaten aus der Gruppe der 20 – vorzugsweise unter dem Deckmantel der „Friedensstiftung“ – beteiligt. Es gibt keinen bedeutenden Konflikt, in dem sie nicht ihre Finger mit im Spiel haben – in Fällen wie der Ukraine oder Syrien oft genug auf verschiedenen Seiten. Allerdings stellen die G20 anders als die G7 (oder die G8) keine vergleichsweise einheitliche Staatengruppe dar. Sie umfassen nicht nur tradierte und neue, aufstrebende Weltmächte, sondern auch für die globale Ordnung wichtige, letztlich jedoch von den führenden kapitalistischen Staaten beherrschte Länder, die allenfalls um eine Stellung als regionale Ordnungsmacht ringen können.
Um die Bedeutung der G20, ihre inneren Gegensätze, die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu verstehen, reicht es aber nicht, mit oberflächlichen Begriffen zu operieren, die allenfalls bestimmte Erscheinungen der globalen Ordnung fassen. Es ist vielmehr notwendig, einen Blick auf die Entwicklung des Kapitalismus als globale Gesellschaftsformation zu werfen, um die Rolle der G20 im Rahmen der aktuellen impeRialistischen Weltordnung zu verstehen.Anders als frühere Klassengesellschaften war der Kapitalismus von Beginn an global ausgerichtet. Der Weltmarkt, die Ausdehnung kapitalistischer Ausbeutung über den ganzen Erdball liegt nicht nur im Begriff des Kapitals, wie ihn Marx zuerst umfassend entwickelte.
Die Weltmarktorientierung stand dem Kapitalismus schon in seiner Entstehung Patin. Zwar entwickelte sich die Produktionsweise zuerst im großen Maßstab in Großbritannien. Die industrielle Bourgeoisie kam dort zuerst auf, weil sie einerseits die Verhältnisse am Land umwälzte und mit der englischen Revolution die politischen Bedingungen dafür geschaffen hatte, aber auch weil sie über den Kolonialismus und die Expansion des spanischen Handelskapitals einen enormen Schub erhielt.
Dieser vergrößerte die Nachfrage nach industriell gefertigten britischen Waren. Der aus Amerika geplünderte Reichtum landete nicht im absolutistischen Spanien, sondern im kapitalistischen England. Der Raub und Handel mit SklavInnen erlebte eine gigantische Dimension inklusive extrem barbarischer Formen, weil er funktional in die Entwicklung der Akkumulation (Anhäufung) und Ausweitung des Kapitals eingebunden war. Die kapitalistische Warenproduktion unterminierte und zerstörte, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest schrieben, die ökonomischen Strukturen aller tradierten, teilweise tausende Jahre existierenden Gesellschaften und großer Reiche. Die chinesischen Mauern mochten den Kanonen von Invasoren trotzen, gegen die kapitalistisch betriebene Warenproduktion waren sie nutzlos.
Das Kapital schuf sich mit der Entwicklung der großen Industrie eine ihm gemäße technische Grundlage. Vorhergehende Produktionsweisen wurden jetzt noch viel rascher zerstört, an den Rand gedrängt oder zeitweise in die kapitalistische Produktion funktional eingegliedert. Die Verallgemeinerung der großen Industrie legte auch die Grundlage für eine enorme Zentralisation und Konzentration des Kapitals. Die schwächeren Unternehmen unterlagen in der Konkurrenz, die siegreichen begannen, ganze Branchen zu beherrschen und ihr Geschäft mehr und mehr auszudehnen.Mit der Entwicklung der Industrie prägten den Kapitalismus auch periodisch wiederkehrende industrielle Krisen, die bis heute normalerweise in sieben bis zehn Jahren wiederkehren. An Beginn eines Zyklus steht in der Regel eine Erneuerung der Produktionsmittel, eine Umwälzung der technischen Basis der Produktion, an deren Ende eine Krise, die zur Freisetzung von Arbeitskräften, Entlassungen, Zusammenbrüchen und somit auch zur Grundlage für eine Erneuerung der Dynamik des Kapitalismus führt.
Sie offenbaren aber immer auch das irrationale Wesen des Kapitals. In der Krise wird der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter und der privaten Aneignung des Reichtums sichtbar. Zweck ist nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die Aneignung von Mehrwert, von Mehrarbeit der Lohnabhängigen, die selbst keine Produktionsmittel besitzen und ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, welche Produktion sinnvoll war, welche „unnötig“. In den Krisen erscheint es so, als gebe es zu viele Güter, zu viele Arbeitskräfte, zu viele Menschen und zu viel Geld. Es müssen Reichtümer vernichtet werden, damit der ganze Kreislauf von neuem in Schwung geraten kann. Damit einher geht aber auch eine beständige Erneuerung der Produktionsmittel. Immer größere Mengen werden in konstantem Kapital (Produktionsmittel) veranlagt. Der Anteil des Kapitals, das für den Kauf von Arbeitskraft verwandtwird, nimmt im Verhältnis dazu ab. Dieselbe Menge ArbeiterInnen setzt eine immer größere Masse an Produktionsmitteln und darin vergegenständlichten Werten in Bewegung. Für eine vernünftige, planmäßig organisierte Wirtschaft wäre das überaus sinnvoll, weil die Menschen entweder mehr freie Zeit hätten oder mehr Güter zu ihrer Bedürfnisbefriedung produzieren könnten.
Nicht so im Kapitalismus. Die stetige Umwälzung des Kapitals infolge der Konkurrenz, dessen wachsende „organische Zusammensetzung“ (= der immer größere Anteil an konstantem Kapital) führt auch zum Fall der Profitrate und schlägt an einem bestimmten Punkt in die Krise um. Selbst wenn diese durch Kapitalvernichtung „bereinigt“ wird, so wird das Problem im folgenden industriellen Zyklus nur auf höherer Stufenleiter, mit noch mehr Kapital reproduziert. Marx nannte dies das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, in dem sich die innere Widersprüchlichkeit des Kapitalismus ausdrückt und die Notwendigkeit seiner Aufhebung durch die sozialistische Revolution.
Es ist kein Wunder, dass dieses Gesetz auch seit jeher ein Hauptangriffspunkt aller bürgerlichen und pseudo-linken Kritik am Marxismus war. Doch der Kapitalismus erschöpft sich nicht in einer Wiederkehr von regelmäßigen industriellen Zyklen und Krisen. Er ist nicht nur ein ökonomisches System, sondern eine Gesellschaftsformation, die darauf aufbaut. In der Entwicklung des Kapitalismus können wir ganze Phasen feststellen, die von einer eher expansiven Dynamik getragen waren und längere Perioden von Krisen und Stagnation. So trat der Kapitalismus nach 1873 in eine längere Periode der Stagnation, des Niedergangs, weil die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Expansionsphase nach der Niederlage der Revolution von 1848 begleitet hatten, nicht mehr dem Gesamtsystem entsprachen. Mit Deutschland und den USA waren zwei kapitalistische Staaten auf den Plan getreten, die die Vorherrschaft der britischen Industrie in Frage stellten und sie später auch die britische Industrie überflügelten. Zugleich blieb aber das Empire die führende Weltmacht, sowohl was den Handel, die Währung mit dem britischen Pfund als Leitwährung, die Flotte und das Kolonialreich betraf.
Aus der Krise und Stagnation im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bildete sich aber auch eine neue Form des Kapitals heraus, dessen Durchsetzung einen Epochenwechsel markiert. Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert treten wir in die imperialistische Epoche ein, die bis heute fortdauert. Das heißt nicht, dass es seither keine wichtigen Veränderungen gegeben hätte, aber die grundlegenden Charakteristika dieser Entwicklungsstufe des Kapitalismus sind die gleichen geblieben.
Ende des 19. Jahrhunderts war die Erde zwischen den damaligen Großmächten aufgeteilt. Die großen Kolonialreiche wie Britannien und Frankreich beherrschten die Welt. Mächte wie die USA verfügten über eine formell unabhängige Einflusssphäre in Lateinamerika wie auch einen noch zu erschließenden inneren Markt. Russland, aber auch die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich waren zwar industriell rückständig, verfügten aber über „innere Kolonien“, die direkt den Reichen eingegliedert waren. Der deutsche und japanische Kapitalismus waren bei der Aufteilung der Welt zu kurz gekommen und es ist kein Zufall, dass sie eine Neuaufteilung ebendieser anstreben mussten. Für deren große Industrie, für die Produktkräfte, die sich entwickelt hatten, war der nationale Markt zu klein geworden. Sie stießen an die Schranken des europäischen Staatensystems und der kolonialen Aufteilung der Welt.
Zugleich hatten Ende des 19. Jahrhunderts die Zentralisation und Konzentration des Kapitals in allen großen kapitalistischen Staaten eine Stufenleiter erreicht, die in eine neue Qualität umschlug. Es bildeten sich Monopole, Trusts, Kartelle, Großkonzerne, die ganze Branchen dominierten und untereinander den nationalen und Weltmarkt aufteilten (oder umkämpften). Zugleich veränderte sich auch die Beziehung zwischen den großen Monopolen und dem Banken- und Kreditsektor. Industrielles Kapital und Geldkapital (zinstragendes Kapital) verschmolzen, wenn auch in national sehr unterschiedlicher Form zum Finanzkapital. Unter Finanzkapital verstehen MarxistInnen im Anschluss an Lenin nicht nur Kredit, Spekulation, Aktienkapital usw., sondern die Verschmelzung von Industrie- und Bankenkapital unter der Regie des letzteren.
„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzen oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.” (Lenin, Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, S. 230)
Lenin betont zu Recht die dominierende Rolle des Bankenkapitals in diesem Verhältnis. Das ergibt sich logisch daraus, dass letzteres zumeist Kapital in Geldform ist. Als solches ist es im Unterschied zum in Maschinen, Rohstoffen usw. vergegenständlichten industriellen Kapital an keine bestimmte stoffliche Grundlage gebunden. Ebenso korrekt erkannte er, dass mit der Vorherrschaft des Finanzkapitals dem Export von Kapital gegenüber dem Warenexport eine immer größere Rolle zukommen muss (wiewohl letzterer selbst im Gefolge des Kapitalexportes zunimmt).
Die Entwicklung zum Finanzkapital begreift Lenin als eine nicht rückgängig zu machende notwendige Entwicklungsstufe des Kapitals. Die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise sind dabei nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: sie wirken gewissermaßen auf „höherer“ Stufenleiter fort.
„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausmaße erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht’ besitzen.” (Lenin, Imperialismus, LW, S. 242)
Folgerichtig lehnt Lenin die kleinbürgerliche Kritik am Finanzkapital und am Imperialismus ab, weist jeden Versuch, den Kapitalismus kleiner und mittlerer ProduzentInnen wieder herzustellen, als reaktionär und utopisch zurück (z. B. die Anti-Trust-Bewegung). Lenins Theorie wäre unvollständig und unverständlich, wenn wir nicht einen anderen Aspekt der Entwicklung des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts in Betracht ziehen würden: Die Welt ist unter den kapitalistischen Monopolen und Großmächten aufgeteilt. Das heißt nicht, dass damit jegliche vorkapitalistische Produktionsweise schon verschwunden wäre. Allerdings sind diese Überreste mehr und mehr in den kapitalistischen Weltmarkt integriert, ihm untergeordnet, werden durch moderne Klassenverhältnisse ersetzt, aber – auch diese Paradoxie ist nicht neu – gar noch unter der Fuchtel des Kapitals konserviert.
Das bedeutet auch, dass die „zu spät gekommenen“ kapitalistischen Länder nicht den Weg der „fortgeschrittenen“ einfach nachvollziehen können. Sie sind von Beginn an als imperialisierte – ob in kolonialer oder in formell unabhängiger, halb-kolonialer politischer Form – in den Weltmarkt integriert. Für Lenin ist „Imperialismus“ eine ökonomische, politische und historische Gesamtheit. Imperialistische Politik ist Resultat der verschärften Konkurrenz zwischen den Mächten und Großkapitalen, ist selbst politische Folge der Vorherrschaft des Finanzkapitals über alle anderen Kapitalformen. Lenin lehnt es daher kategorisch ab, „Imperialismus“ als eine besondere („schlechte“ oder „aggressive“) Form der Politik zu definieren. Eine nicht-imperialistische Politik der kapitalistischen Großmächte ist vielmehr unmöglich.
Ob ein Staat imperialistisch ist oder nicht, kann somit nur im Rahmen der globalen politischen und ökonomischen Ordnung verstanden werden – nicht durch eine bloße Betrachtung ökonomischer Kennziffern eines Landes. Innerhalb dieser Gesamtheit, der auch eine politische und ökonomische Arbeitsteilung entspricht, wird einem Land sein Platz zugewiesen. Die Vorherrschaft des Finanzkapitals bedarf immer der staatlichen Absicherung dieser Herrschaft gegen die ArbeiterInnenklasse, aufbegehrende Kolonien oder halb-koloniale Staaten. Insbesondere tendiert sie immer wieder zum Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den verschiedenen Gruppen des Finanzkapitals und den imperialistischen Mächten – zum imperialistischen Krieg.
MarxistInnen lehnen im Kampf gegen den Imperialismus den Versuch, „vor-monopolistische“ Zustände wiederherzustellen, ebenso wie die Gegenüberstellung von „gutem“, schaffendem Kapital und „schlechtem“, raffendem als reaktionär ab. Die einzig fortschrittliche Perspektive besteht vielmehr in der Enteignung der Enteigner, der Reorganisierung der Produktion auf großer Stufenleiter unter Leitung des Proletariats und im Weltmaßstab! Wenn Lenin vom Imperialismus als einem „sterbenden, verfaulenden“ Kapitalismus spricht, betont er damit vor allem, dass der Imperialismus in seiner Gesamtheit ein Entwicklungsstadium darstellt, in dem die kapitalistische Produktionsweise reaktionär geworden ist. Es ist eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, daher auch eine Epoche massiver sozialer Erschütterungen, von Krieg, Konterrevolution und Revolution.
Die Imperialismustheorie erlaubte dem marxistischen Flügel der Zweiten Internationale und der kommunistischen Bewegung, nicht nur die Ursachen des Ersten Weltkriegs zu verstehen, sondern auch eine revolutionäre, internationalistische Antwort zu entwickeln. Der Erste Weltkrieg war Ausdruck der inneren Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems, das nach einer „Neuordnung“ drängte. Er eröffnete eine ganze Periode von revolutionären Möglichkeiten, die am Verrat der Sozialdemokratie wie auch an der politischen Unreife der kommunistischen Bewegung scheiterten. Die grundlegenden Probleme, die zum Ausbruch des Krieges geführt hatten, vermochte er jedoch nicht zu lösen. Mit dem Russischen Reich, der Doppelmonarchie und dem Osmanischen Reich waren zwar drei Anwärter auf eine Weltmachtrolle auf unterschiedliche Art zerfallen – der Kampf um die Neuaufteilung der Welt nahm hingegen viel schärfere Formen an.
Die Vormachtstellung Britanniens wurde immer prekärer. Es war nicht in der Lage, das Pfund als Leitwährung stabil zu halten – aufgeben mochte es es aber auch nicht. Der französische Imperialismus war noch schwächlicher und versuchte, sich durch Reparationen schadlos zu halten. Deutschland schwenkte – auch als Antwort auf die drohende proletarische Revolution – auf einen besonders aggressiven Kurs und zur faschistischen Herrschaft. Japan entwickelte sich und stieß an die Einflusssphären Britanniens, Frankreichs und der USA. Die USA waren zur führenden Industrienation aufgestiegen. So wie Deutschland sich zum Ziel setze, Europa durch einen Krieg neu zu organisieren, musste der US-Imperialismus auf eine Neuorganisation der Welt drängen. Protektionismus und nationale Abschottung als Antwort auf die Krise im Verbund mit den Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung führten zu einem enormen Anstieg von Chauvinisums und Antisemitismus, dem „Sozialismus des dummen Kerls“. Der Faschismus ist in dieser Situation, wie Trotzki es im „Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg“ 1940 formulierte, der Imperialismus in chemisch reiner Form. Er ist Ausdruck der Unlösbarkeit der imperialistischen Widersprüche für die bürgerliche Politik, so dass sie direkt zu Krieg und industrieller Massenvernichtung führen. Der Imperialismus stellte in dieser Periode ganz unmittelbar die Alternative “Sozialismus oder Barbarei”: Einer Barbarei, die nicht nur 60 Millionen Soldaten und ZivilistInnen das Leben kostete, sondern auch den historisch beispiellosen industriellen Massenord des Holocaust bedeutete.
Der Zweite Weltkrieg führte zu einer enormen Kapitalvernichtung. Nicht nur der deutsche und japanische Imperialismus wurden geschlagen, auch die Vorherrschaft Britanniens und Frankreichs gebrochen. Ihre Kolonialreiche zerbrachen. An ihre Stelle trat eine neue, von den USA entworfene politische und ökonomische Ordnung, die den Dollar als Leitwährung und Weltgeld vorsah. Neben der Lösung der inner-imperialistischen Führungsfrage legten auch die Vernichtung von Kapital und die extreme Erhöhung der Ausbeutungsrate im Weltkrieg den Grundstein für eine umfassende Neuzusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und für eine Periode der kapitalistischen Expansion. Die Profitraten konnten aufgrund der Kapitalvernichtung im und nach dem Weltkrieg (Währungsreformen …) stabilisiert werden. Die Märkte in Europa, Japan und den Kolonien boten Anlagemöglichkeiten für überschüssiges US-Kapital, das im Gegensatz zur Konkurrenz nicht vernichtet werden musste. Im Ersten Weltkrieg war auch ein grundlegender Widerspruch aufgebrochen, der dem Kapitalismus innewohnt – der zwischen dem Nationalstaat und der grenzüberschreitenden Tendenz des Kapitals. Die Produktivkräfte treiben über diese Grenzen hinaus, andererseits ist die Welt zwischen Nationalstaaten aufgeteilt, sind die Kapitale in bestimmten Staaten verankert und selbst in ihrer globalen Konkurrenz auf diese bezogen. Der Zweite Weltkrieg beseitigte den Widerspruch nicht, aber er trat für einige Jahrzehnte nicht so explosiv zum Vorschein aufgrund der Resultate des Weltkrieges und der dominanten Position der USA, die gleichzeitig den geschwächten imperialistischen Konkurrenten auch Raum zur wirtschaftlichen Expansion bot. So war die wirtschaftliche Entwicklung nach Etablierung der Nachkriegsordung von einer – im Nachhinein oft verklärten und übertriebenen – Expansion geprägt. Ende der 60er Jahre zeigten sich die ersten großen Risse der Weltordnung. Ökonomisch betrachtet hat der Fall der Profitraten Anfang der 70er Jahre zu einer Krise geführt, die globale Dimensionen annahm und die seither die Weltwirtschaft mit dem Problem einer strukturellen Überakkumulation von Kapital schwanger gehen lässt.
Damit ist gemeint, dass die angehäuften Mengen fixen, in Produktionsmittel vergegenständlichten Kapitals „zu groß“ geworden sind, um vorhergehende durchschnittliche Profitraten zu reproduzieren bzw. wieder herzustellen. Um die Grundlagen einer neuen, dynamischen Akkumulationsperiode zu legen, müsste jedoch Kapital in einem „historischen“ Ausmaß vernichtet werden – was selbst jedoch auch die Vernichtung bedeutender Massen an Finanzkapitals erfordern würde. Die imperialistischen Bourgeoisien haben auf dieses Problem mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, die alle auf die Erhöhung der Ausbeutungsrate hinausliefen (Entwertung der Arbeitslöhne durch Inflation, Massenentlassungen, Privatisierungen, Niedriglohnsektoren, Zerstörung von Rechten der Gewerkschaften …) und/oder die Last den Ländern der sog. „Dritten Welt“ aufbürden sollten. Die Schulden dieser Staaten wurden jetzt zu einem politischen Kampfmittel gegen diese, indem sog. „Strukturanpassungsprogramme“ Privatisierungen, die Öffnung von Märkten und die Zerstörung von Rechten der ArbeiterInnenklasse, der Bauern und Unterdrückten erzwangen. Hinzu kam drittens ein aggressives Aufrüstungsprogramm der USA und des Westens, um die selbst stagnierenden degenerierten ArbeiterInnenstaaten Osteuropas, die Sowjetunion und China in die Knie zu zwingen.
Die Periode von 1970 bis 1990 war zwar von einer Vormachtstellung der USA geprägt – aber einer niedergehenden. Japan und Deutschland holten auf wirtschaftlichem Gebiet auf. Der Dollar musste seine Bindung an den Goldstandard aufgeben. Die Niederlage in Vietnam offenbarte, dass auch der US-Imperialismus besiegt werden konnte. Unter Reagan und dem Banner der neo-liberalen Doktrin konnten zwar verlorenes Terrain zurückgewonnen, die UdSSR weiter geschwächt und auch Japan und Deutschland gezwungen werden, die niedergehende US-Wirtschaft zu stützen. Aber dennoch konnte die langfristige Niedergangstendenz nur aufgeschoben werden.
Daran änderte auch der Zusammenbruch des Stalinismus nichts. Die demokratischen, anti-bürokratischen Massenbewegungen erschütterten zwar die bürokratischen Regime und leiteten ihre Todeskrise ein, aber es gab keine klassenkämpferische, revolutionäre Kraft, die sie zu einer politischen Revolution und zur Errichtung der Räteherrschaft geführt hätte. So scheiterte die halbe Revolution und die kapitalistische Konterrevolution siegte. In China stellte sich die Bürokratie selbst nach 1992 an die Spitze der kapitalistischen Transformation und kombinierte die Einführung des Kapitalismus mit der Beibehaltung der politischen Diktatur. In jedem Fall schien nach 1990 für die USA und die Ideologen des Westens unverhofft ein neues Zeitalter imperialer Herrschaft und Stabilität angebrochen. Die Mär vom „Ende der Geschichte“, dem endgültigen Sieg von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie, ging um. Die demokratische (im Unterschied zu einer offen diktatorischen) Form der kapitalistischen Konterrevolution schien dies zu bestätigten. Hinzu kam, dass die Restauration neue Investitionsmöglichkeiten eröffnete und eine neue „finanzmarktgetriebene“ Akkumulation die Probleme der „Realwirtschaft“ – also die Überakkumulation von Kapital – zeitweilig entschärfen oder jedenfalls abmildern konnte. Weltpolitisch präsentierten sich die USA als einzig verbliebene Großmacht, deren Vorherrschaft nach dem Zusammenbruch der UdSSR gesichert wie nie wirkte. Die kampf- und vor allem kopflose Kapitulation des Stalinismus, die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie und Gewerkschaften festigten den Vormarsch der bürgerlichen Ideologie. Die „radikale Linke“ war selbst ein Abklatsch dieses Rückzugs und ergeht sich seither in der Suche nach ständig neuen Alternativen zum revolutionären Kommunismus.
Aber die Periode der kapitalistischen Globalisierung löste die Probleme langfristig nicht – sie verschärfte sie. Das Wachstum und die Dynamik des Kapitalismus waren auf Sand gebaut. Die Asien-Krise Ende der 90er Jahre brachte schon viele der Probleme zum Vorschein, die sich 2007/2008 massiv offenbaren sollten: Trotz Ausdehnung von Märkten, Entwicklung neuer Technologien, Fortschritt in Kommunikation und Transport war die Weltwirtschaft weiter von struktureller Überakkumulation geprägt. Ein beträchtlicher Teil der Expansion erwies sich als fiktiv. Die Zuwächse an den Börsen entsprachen immer weniger dem Wachstum in der Industrie, die spekulativen Gewinne waren keineswegs real gedeckt. Die Überakkumulation des Kapitals andererseits führte dazu, dass die Investitionen im industriellen Sektor nur mühsam in Gang kommen, da an anderen Stellen viel leichter und verlockender Renditen zu erwarten sind.
Aber die Krise konnte damals begrenzt werden. Ein wesentlicher Grund dafür war auch, dass in den 90er Jahren „neue“ Länder eine wichtige Funktion für die globale Konjunktur einnahmen. China wurde nicht nur zu einer zentralen Stätte globaler industrieller Produktion, sondern auch zu einem wichtigen Faktor, der einem wirtschaftlichen Einbruch entgegenwirkte. In geringerem Maße erfüllten auch andere Länder der sog. „BRICS“ diese Funktion. Aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben. Mit dem Platzen der US-Immobilienblase wurde nicht nur ein großer Teil des fiktiven, real nicht gedeckten Kapitals auf den Finanzmärkten entwertet. Die Krise nahm zwar in den USA ihren Ausgang, sie verbreitete sich aber schockartig auf alle im Weltfinanzsystem integrierten Staaten. China und einige Schwellenländer waren nur deshalb weniger betroffen, weil sie noch nicht so stark mit dem westlichen Finanzsystem verzahnt waren.
Die Krise im Finanzsystem brachte aber nicht nur dieses in die Bredouille, sie ergriff auch die „Realökonomie“. Dort lag letztlich auch die eigentliche Ursache der Probleme. Was sich als Finanzkrise manifestierte und der industriellen Rezession voranging, war letztlich ein Resultat der tiefer liegenden, schon länger die Weltwirtschaft umtreibenden Überakkumulationskrise. Die kapitalistischen Staaten und auch die G20 vermochten zwar so weit ihre Aktionen zu koordinieren, dass sie einen Zusammenbruch des Welthandels und des Währungssystems verhindern konnten.Sie versprachen sogar Abhilfe gegen die „Verursacher“ der Krise, womit natürlich nicht der Kapitalismus, sondern nur die SpekulantInnen und Finanzleute gemeint waren. Vor allem aber retteten sie alle „systemrelevanten“ Institutionen, also die großen Banken, institutionellen Anleger und industriellen oder kommerziellen Monopole. Kurzum, sie retteten das Finanzkapital. Diese Rettungsaktionen zeigen, dass die herrschenden Klassen, geht es um ihr Überleben, durchaus „undoktrinär“ handeln können. Gemäß der neo-liberalen oder neo-klassischen Wirtschaftslehre sind eigentlich staatliche „Interventionen“ in den „freien Wettbewerb“ Teufelszeug. Sie würden nur verhindern, dass der Markt sich selbst reguliere, ein „Gleichgewicht“ etabliere. Nun war die Krise von 2007 und in den folgenden Jahren eine einzige praktische Widerlegung der neo-liberalen Grundannahmen – weshalb manche auch etwas verfrüht auf das Ende dieser Doktrin hofften.
In jedem Fall blieb den westlichen imperialistischen Staaten wenig übrig, als zur Rettung „ihrer“ Banken und Konzerne deren Schulden auf die eine oder andere Weise zu übernehmen, zu verstaatlichen. Teilweise ging das mit einer vorübergehenden Verstaatlichung von Unternehmen einher, um sie – nachdem ihre Schulden ausgelagert waren – wieder den heiligen Privateigentümern zu überlassen.
Auch vor keynesianischen, die Konjunktur belebenden Maßnahmen schreckten die Regierungen nicht zurück, die noch am Tag davor strenge AnhängerInnen des Neoliberalismus waren. So wurden Konjunkturprogramme aufgelegt. Das Großkapital konnte sich mit Hilfe von billigem Geld rasch refinanzieren. Auch die deutsche Bundesregierung schreckte vor der Entschuldung ganzer Banken, die Milliarden in den Sand gesetzt hatten, oder Konjunkturprogrammen für die Autoindustrie (Abwrackprämie) nicht zurück.
In jedem Fall gingen diese Maßnahmen mit einer Zunahme der Staatsschulden einher. Dafür – also für die Rettung ihrer AusbeuterInnen – sollen die Lohnabhängigen zahlen. Das trifft natürlich vor allem jene aus den schwächeren imperialistischen Ländern oder aus der Peripherie. So wurden Staaten wie Griechenland, denen der sog. „Dritten Welt“ generell „Austeritätsprogramme“, zu deutsch Sparprogramme, vom IWF und führenden G20-Mächten aufgezwungen. Die EU und der deutsche Imperialismus nahmen hier eine Vorreiterrolle ein, wie das griechische Beispiel zeigt.
Die sog. „Sparprogramme“ sind in mehrfacher Hinsicht ein Sittenbild der aktuellen Weltordnung. Griechenland muss, um die Schulden deutscher und anderer westlicher Banken und KreditgeberInnen zu bedienen, weitere Kredite aufnehmen. Im Gegenzug muss der griechische Staat Staatsangestellte entlassen, Renten und Löhne kürzen und das Land mehr oder weniger flächendeckend privatisieren. Dass bei einem solchen sozialen und ökonomischen Kahlschlag die Wirtschaft nicht vom Fleck kommt, sollte niemanden wundern. So steht das Land, vor allem aber die Lohnabhängigen und Bauern am Ende ärmer da als zuvor. Die Gläubiger sind jedoch ein gutes Stück reicher geworden und können, wenn sie denn wollen, das Geld, das ihnen Griechenland zurückgezahlt hat, nun zum Aufkauf der Unternehmen investieren. Das ist zugleich auch ein typisches Beispiel dafür, wie die imperialistische Ordnung konkret zu einer Vertiefung von weltweiten Unterschieden zwischen Nationen und Klassen führt.