Arbeiter:innenmacht

Staatlicher Rassismus hat Moria niedergebrannt

Robert Teller, Infomail 1117, 11. September 2020

Das Camp Moria ist abgebrannt. Die Brandherde breiteten sich in der Nacht auf den 9. September laut Berichten an verschiedenen Stellen des Camps aus. Dass es angesichts der miserablen Unterbringung keine Todesfälle gab, scheint wie ein Wunder. Die meisten der 12.700 BewohnerInnen lebten hinter Stacheldraht auf engem Raum in dem Lager, das nur für weniger als ein Viertel der Personen ausgelegt ist. Wer oder was auch immer das Feuer am 9. September ausgelöst hat: wir wissen, dass es dort schon seit Jahren brennt, und schuldig daran ist die Abschottungspolitik der europäischen Regierungen. Sie haben erst dafür gesorgt, dass es Lager gibt für Menschen, deren einziger „Fehler“ darin besteht, dass sie in Europa ankommen und leben wollen. Die Zustände in den „Hotspot“-Lagern auf den griechischen Inseln, wo Menschen seit Jahren unter hoffnungslosen und unwürdigen Bedingungen leben müssen, zeigen deutlich, was „Grenzsicherung“ in der Praxis bedeutet.

Hilfsorganisationen, die in der Nacht zum Camp gelangen wollten, wurden daran von der Polizei gehindert, die ihrerseits nichts dafür tat, die Lage zu entschärfen: Tausende BewohnerInnen flüchteten aus dem Camp, wurden aber bald von staatlichen Sicherheitskräften und teils auch von AnwohnerInnen aufgehalten. Am Mittwochabend brachen erneut Brände aus. Die Polizei setzte nun Tränengas gegen die Flüchtenden auf der Straße in Richtung der Stadt Mytilini ein. Die BewohnerInnen des Camps schlafen am Straßenrand oder in den Olivenhainen. Über die Insel wurde ein 4-monatiger Ausnahmezustand verhängt. Zunächst wurde angekündigt, dass in den unversehrt gebliebenen Teilen des Lagers weiterhin Menschen untergebracht werden könnten. Nun soll nach dem Willen der griechischen Regierung ein neues Camp auf der Insel für die obdachlos gewordenen BewohnerInnen errichtet werden.

Situation in Moria

Niemanden, der von den menschenunwürdigen Zuständen weiß, kann die Katastrophe überraschen. Moria ist heute ein Gefangenenlager, das in dieser Form auf den EU-Türkei-Deal von 2016 zurückgeht. Es wurde ursprünglich für 2.800 Menschen gebaut. Im regulären Camp lebten zuletzt 12.800. Wenn man den „Dschungel“ außerhalb des Zauns einschließt, sind es geschätzt 20.000.

Das Camp stand bereits seit März faktisch unter Quarantäne und konnte nur mit Genehmigung verlassen werden. Abgesehen von dieser schikanösen Maßnahme gab es keinen Infektionsschutz, keine angemessene medizinische Versorgung und keine Labortests, dafür regelmäßiges Gedränge beim Warten auf Essen, Toiletten oder Duschen. Anfang September wurden im Lager die ersten 35 Covid-19-Fälle entdeckt. Anstatt sofort zu evakuieren, um die weitere Ausbreitung zu stoppen, wurde das Lager vollständig abgeriegelt. Nicht einmal Personen aus Risikogruppen wurde eine sichere Unterbringung außerhalb des Geländes gewährt. Stattdessen wird die Pandemie als Rechtfertigung für weitere Angriffe auf Geflüchtete benutzt, wie die rechtswidrige Aussetzung der Annahme von Asylanträgen durch die griechische Regierung im März.

Grundlage für das Lagersystem auf den griechischen Inseln ist der EU-Türkei-Deal von 2016, wo vereinbart wurde, dass Flüchtlinge, die sich auf den Inseln aufhalten und deren Asylantrag abgelehnt wurde, in die Türkei abgeschoben werden können. Hierfür wurden die „Hotspot“-Zentren eingerichtet. Hier gilt für die InsassInnen Residenzpflicht bis zu einer Entscheidung, ob sie Anrecht auf ein Asylverfahren haben. Rechtsstaatliche Prozeduren wurden mit der Einführung von Schnellverfahren untergraben. 2019 wurden sie auf die Hälfte aller Neuankömmlinge angewandt. Dennoch wurden die Hotspots nicht wie ursprünglich beabsichtigt zu Abschiebedrehscheiben, sondern faktisch zu Gefangenenlagern, in denen Tausende unter provisorischen Bedingungen teils Jahre ausharren müssen. Sie bilden damit den zweiten Grenzwall der Europäischen Union. Moria ist die zynische Botschaft an alle Geflüchteten, dass sie an der EU-Außengrenze ihre Hoffnung auf Schutz und Sicherheit begraben müssen. Ein neues Asylrecht, das seit Anfang 2020 in Griechenland in Kraft ist, hat die Situation nochmals verschärft. Das Instrument der Administrativhaft wurde ausgeweitet, Schnellverfahren wurden zum Regelfall und die Auskunfts- und Einspruchsrechte der Betroffenen im Asylverfahren weiter beschnitten.

All das ist gemeint, wenn gesagt wird, dass den Geflüchteten keine „falschen Anreize“ gesetzt werden sollen. Es bedeutet, dass die Grenzen, die Lager und das Asylverfahren noch abschreckender sein müssen als die Umstände, unter denen Menschen flüchten. Damit das so bleibt, darf es „keine nationalen Alleingänge“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen geben. Abgesehen von der Diskussion über symbolische Maßnahmen wie der Verteilung von einigen hundert Minderjährigen sind sich die Regierungen und die EU-Kommission daher auch einig, dass niemand irgendetwas tun darf, um die unmenschlichen Zustände an den Außengrenzen zu entschärfen. Wortführer der Koalition der Unwilligen ist Bundesinnenminister Horst Seehofer. Für einige hunderte Menschen stellt er zwar gerne Unterbringung in Deutschland in Aussicht – freilich nur, wenn die EU und ihre Mitgliedsstaaten gemeinsam mitziehen. Und auf die rassistischen HardlinerInnen in Ungarn, Polen oder in Österreich kann sich Horst Seehofer verlassen und auch noch eine humanitäre Miene zum bösen Spiel machen. Faktisch blockieren er und die Bundesregierung damit sogar jene Soforthilfe und damit die Aufnahme einiger hundert Flüchtlinge, die eine Reihe von Städten in Aussicht gestellt hat.

Während Seehofer den verhinderten Möchtegernhelfer spielt, geben Rechtskonservative wie der österreichische Kanzler Kurz und RechtspopulistInnen die rassistischen EinpeitscherInnen. Sie hetzen gegen angeblich „kriminelle“ BrandstifterInnen, die mit der Aufnahme von Geflüchteten ins Land kämen, schüren Hass gegen MigrantInnen und Geflüchtete.

Dabei wird in der aktuellen Diskussion die Situation auf den Fluchtrouten nach Europa, die ebenfalls eine einkalkulierte Katastrophe für die Betroffenen darstellt, noch nicht einmal erwähnt. In der Türkei werden Flüchtlinge, die von Griechenland illegal und ohne Verfahren über den Grenzfluss Evros abgeschoben wurden, in Gefängnissen inhaftiert. Im Mittelmeer haben die Regierungen mit der Kriminalisierung der Hilfsorganisationen und der Festsetzung ihrer Schiffe dafür gesorgt, dass die zivile Seenotrettung mittlerweile fast unmöglich und die Überfahrt gefährlicher als je zuvor geworden ist. In Libyen vegetieren Tausende, die von der Küstenwache aufgegriffen wurden, in Internierungslagern. Um dabei „behilflich“ zu sein, gibt es die EUNAVFORMED-Unterstützungs- und Ausbildungsmission „Operation Sophia“ (EUNAVFORMED: europäische Marinestreitmacht Mittelmeer).

Schließt die Lager!

Wir dürfen nicht die Behörden, die für das europäische Grenzregime zuständig sind, darüber entscheiden lassen, wer Anrecht auf Asyl hat und wer nicht. Wird dürfen nicht zulassen, dass neue, etwas „humanere“ Lager gebaut werden, die der Festung Europa einen notdürftigen moralischen Anstrich geben. Stattdessen müssen wir das rassistische System bekämpfen, das MigrantInnen nach Nationalität und Fluchtgründen selektiert, um ihnen schließlich das Bleiberecht abzusprechen.

  • Es kann keine andere Lösung geben als die sofortige Schließung der Lager. Nicht nur Minderjährige und „Gefährdete“ – alle Geflüchteten müssen sofort die Inseln verlassen dürfen und in Wohnungen an einem Ort ihrer Wahl untergebracht werden!
  • Für kostenlose medizinische Versorgung und jederzeit freiwillige Labortests, gegen rassistische Schikanen wie anlasslose und kontraproduktive Quarantäne!
  • Zugang zu Bildung, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu gleichen Bedingungen wie Einheimische!
  • Die europäischen Binnen- und Außengrenzen müssen bedingungslos für alle Geflüchteten geöffnet werden. Keine „Verteilung“ der Menschen, sondern Bewegungsfreiheit und StaatsbürgerInnenrechte für alle, Abschaffung der Dublin-Regeln!
  • Im Angesicht der Katastrophe in Moria gibt es in diesen Tagen bundesweit Aktionen von Seebrücke und anderen Gruppen. Beteiligt euch an den Kundgebungen!
  • Die Gewerkschaften, alle Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung müssen in Deutschland und europaweit den Kampf um das Bleiberecht für alle, für gleiche Arbeitsbedingungen und soziale und politische Rechte für Geflüchtete in allen europäischen Ländern unterstützen!
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