Michael Märzen, Infomail 1150, 25. Mai 2021
Auf so etwas haben viele vernünftige Menschen nur gewartet – trotz Message-Control, penibel vorgefassten Ansprachen und Rhetoriktricks: Gegen den Bundeskanzler wird wegen des Verdachts auf Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss ermittelt. Seither beschäftigt die Republik die Frage, ob die weiteren Entwicklungen zu Neuwahlen führen könnten, und welche politischen Perspektiven das beinhaltet.
Am Dienstag, den 11. Mai, benachrichtigte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) den Bundeskanzler Sebastian Kurz über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen seine Person. Am nächsten Tag gab jener das der Öffentlichkeit bekannt. Bei den Vorwürfen der Falschaussage geht es um die Bestellung des ehemaligen Generalsekretärs und Kabinettschefs im Finanzministerium Thomas Schmid zum Alleinvorstand der Österreichischen Beteiligungs AG (ÖBAG) vor zwei Jahren. Die ÖBAG verwaltet die Beteiligungen des Staates an börsennotierten Unternehmen und ist das Produkt einer Umstrukturierung der Österreichischen Bundes- und Industriebeteiligungen GmbH (ÖBIB) durch Türkis-Blau. Im Rahmen der Ermittlungen in der „Causa Casinos“ wurde im Herbst 2019 das Smartphone von Thomas Schmid beschlagnahmt und es wurden Chatnachrichten rekonstruiert.
Diese zeigten, dass Schmid an den Vorbereitungen zur Umstrukturierung der ÖBIB beteiligt war, selbst ÖBAG-Chef werden wollte, sogar den Ausschreibungstext für den Alleinvorstand mitverfasste und bei der Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder mitmischte. Für seine Bestellung wandte er sich mit Bitten an Finanzminister Gernot Blümel und Bundeskanzler Sebastian Kurz. Letzterer schrieb in einer Chatnachricht an Schmid: „Kriegst eh alles, was du willst“ – drei Bussi-Emojis inklusive. Die WKStA wirft Kurz nun vor, er habe im Untersuchungsausschuss tatsachenwidrig behauptet, in die Nominierung des Alleinvorstands nicht eingebunden gewesen zu sein, keine Wahrnehmungen zur Besetzung des Aufsichtsrats sowie keine Kenntnisse über gewisse Absprachen zu haben.
Auf die Ermittlungen gegen den Bundeskanzler könnte ein Strafantrag folgen, allerdings wird es dafür noch etliche Monate brauchen. Die Strafe auf eine Verurteilung wegen Falschaussage kann bis zu drei Jahre Haft betragen. Dazu ist jedoch die Frage entscheidend, ob eine Falschaussage vorsätzlich getätigt wurde. Sebastian Kurz behauptet natürlich, er habe „bewusst alles getan, um die Wahrheit auszusagen“, und dass er „nicht vorsätzlich eine Falschaussage“ gemacht habe. Die Opposition nutze dagegen „jede kleinste Feinheit“, um „Falschaussagen zu konstruieren“ mit dem Ziel: „Kurz muss weg“. Tatsächlich dürfte es für den Kanzler eng werden. Eine Anklage würde das Image von Kurz und der ÖVP beschädigen und ihn unter Druck setzen, auch wenn er schon bekannt gab, nicht zurücktreten zu wollen.
Die ganze Angelegenheit zeugt von einem weit verzweigten Netz aus Postenschacher, Freunderlwirtschaft, Korruption und Verdunkelung in der ÖVP, das vermutlich weit in den Ibiza-Skandal hinein reicht. Das ist aber spätestens seit der Schredder-Affäre offensichtlich, in der, kurz vor dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die erste Kurz-Regierung, ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramts unter falschem Namen Festplatten vernichten ließ. Es ist auch nicht überraschend, dass diese Machenschaften auch in der „neuen ÖVP“ existieren.
Korruption ist ein geläufiges Treiben von bürgerlichen Parteien und im bürgerlichen Staat, wo Politik ein großes Geschäft im Interesse einiger FunktionärInnen und KapitalistInnen darstellt. Das Neue und Wichtige an dieser Sache ist aber, dass direkt gegen den ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz ermittelt wird. Das könnte nicht nur die aktuelle Regierung sprengen, sondern insbesondere den Höhenflug der ÖVP über die letzten Jahre beenden und das politische Kräfteverhältnis in Österreich bedeutend verschieben.
Während Neuwahlen wie ein Fragezeichen über dem österreichischen Parlament schweben, scheint sie kaum eine der politischen Parteien wirklich anzustreben. Kurz selbst möchte Neuwahlen nicht, weil die ÖVP vermutlich geschwächt aus einer solchen hervorgehen würde und eine neue Koalition unter seiner Führung zumindest beim derzeitigen Kräfteverhältnis schwierig zu bilden wäre. Die Grünen wollen sie nicht, weil sie vermutlich geschwächt und nicht mehr als RegierungspartnerInnen daraus hervorgehen würden und sie für sich selbst wichtige Regierungsprojekte nicht gefährden wollen. Die SPÖ würde sich in einer Koalition mit Kurz schwertun. Immerhin war das Projekt Sebastian Kurz dazu da, die damalige Große Koalition zu sprengen und der SozialpartnerInnenschaft eine neuerliche Abfuhr zu erteilen. Auch die FPÖ, die sich mit Herbert Kickl sehr scharf auf Kurz einschießt, tut sich schwer, weil sie im Fall von Neuwahlen eine Eskalation des Führungsstreits in der Partei befürchten muss.
Für die ArbeiterInnenbewegung wäre es auf jeden Fall wichtig, sich im Falle von Neuwahlen nicht auf eine von Kurz geführte Große Koalition einzulassen. Das wäre ein Projekt die Krisenlast unter Einbeziehung der Gewerkschaften auf Arbeitende, Arbeitslose, Frauen und Jugendliche abzuwälzen. Statt dessen gilt es, eine Antikrisenbewegung aufzubauen, die den Klassenkampf von unten gegen das korrupte und ausbeuterische kapitalistische System organisiert.