Martin Suchanek, Infomail 1156, 23. Juli 2021
Im ersten Teil des Artikels beschäftigten wir uns mit den Gründzügen der aktuellen internationalen politisch-ökonomischen Lage. Im 2. Teil des Textes werden uns mit Schlussfolgerungen für den Klassenkampf beschäftigen.
Die konjunkturelle Entwicklung wie auch die unterschiedlichen, vorherrschenden Konstellationen bürgerlicher Politik werden jedoch für die nächste Periode wichtige Auswirkungen auf den Klassenkampf in den verschiedenen Ländern zeitigen.
Natürlich geht es im Großen und Ganzen dabei immer darum, wer die Kosten der Krise, der Rettungspakete, der Coronapolitik trägt – und alle bürgerlichen Regierung werden natürlich versuchen, die Last auf die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war.
Aber aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Bedingungen andere sein als für große Teil der Massen in den Halbkolonien.
Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung erlauben auch einen gewissen Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Hinzu kommt, dass die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen deutlich machte, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Schließlich kommt hinzu, dass die US-DemokratInnen unter Biden auch mit dem Versprechen gewählt wurden, der Polarisierung der Gesellschaft durch demokratische, antirassistische und soziale Reformen entgegenzuwirken. Ein ähnliches Versprechen beinhaltet auch der Green New Deal der EU.
Natürlich werden diese niemand geschenkt werden. Die bürgerlichen Regierungen werden diese unter dem Druck der Finanzmärkte und des Großkapitals weiter verwässern.
Für den Klassenkampf bedeutet es jedoch, dass RevolutionärInnen, kämpferische AktivistInnen in den Gewerkschaften, linken Parteien oder der radikalen Linken versuchen müssen, die konjunkturelle Lage und die Popularität allgemeiner politischer und sozialer Forderungen zu Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Forderungen nach einem Mindestlohn, dem Ausbau und der Verstaatlichung des Gesundheitswesens, der Kampf gegen Mietspekulation oder für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten beim sozialen und ökologischen Umbau unter ArbeiterInnenkontrolle usw. können ebenso wie solche nach vollen StaatsbürgerInnenrechten für MigrantInnen oder dem Recht auf Abtreibung wichtige Ausgangspunkte für die Bildung von Massenbewegungen abgeben, die in den Gewerkschaften und Betrieben verankert sind.
Zugleich werden wir natürlich auch in den imperialistischen Zentren massive Angriffe auf Jobs, eine Umstrukturierung der Industrie, Kürzungen infolge der Staatsverschuldung erleben.
In jedem Fall ist es unerlässlich, diese Themen zum Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Kampf, für eine politische Bewegung zu nutzen, zumal selbst oben genannte Reformen nicht einfach zugestanden werden, sondern durch Massenaktionen, Demonstrationen, politische Streiks, Besetzungen erkämpft werden müssen.
In den meisten halbkolonialen Ländern gestaltet sich die Lage anders aufgrund ihrer anderen konjunkturellen Entwicklung. Sie wird von einer Dauerkrise der Wirtschaft, die Pandemie und auch ökologische Katastrophen geprägt sein.
Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst.
Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird – bis hin zu vorrevolutionären und revolutionären Situationen wie in Myanmar.
Aufgrund der Tendenzen zum Bonapartismus, zu autoritären, despotischen Herrschaftsformen, aber auch sozialen Unterdrückung von Frauen, LGBTIAQ-Personen oder von nationalen Minderheiten werden demokratische Fragen eine zentrale Rolle im Klassenkampf spielen, oft genug den Ausgangspunkt für landesweite Massenbewegungen verkörpern.
Die Verbindung von demokratischen, sozialen und wirtschaftlichen Forderungen zu einem Aktionsprogramm, dem Programm der permanenten Revolution, das demokratische Fragen mit dem Ringen um die sozialistische und internationale Revolution verbindet, wird von entscheidender Bedeutung für Erfolg und Misserfolg diese Bewegungen sein.
Die Bedeutung dieser Frage kann kaum unterschätzt werden, da die globale Defensive und der Vormarsch reaktionärer Kräfte auch bei vielen ArbeiterInnen und Linken die Vorstellung nährten, dass wir in der aktuellen Lage nur zwischen zwei bürgerlichen Lagern, zwischen dem der pseudoradikalen, populistischen Reaktion und dem der „demokratischen“ Mitte wählen könnten. Eine eigenständige Klassenpolitik scheint für viele nur als erträumtes Ziel in einer unbestimmten Zukunft. „Zuerst“ müssten wir die Übel des Rechtspopulismus und Bonapartismus, ja müssten wir Trump, Bolsonaro, Modi, Orbán, Le Pen, Putin oder das Pekinger Regime im Bündnis mit dem demokratischen Flügel der Bourgeoisie bekämpfen. „Realistisch“ wären allenfalls eine antineoliberale Reformpolitik oder eine linkere Version des Green New Deal. Eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses wäre nur im Bündnis mit einem Flügel der herrschenden Klasse möglich – sei es mit der liberalen Bourgeoisie oder mit den vorgeblich „sozialeren“ und „antiimperialistischen“ Großmächten wie China und Russland.
Aber alle diese Strategien führen in die Sackgasse. Sie ordnen die Interessen der ArbeiterInnenklasse und der unterdrückten Massen dem Interesse des einen oder anderen Flügels der Bourgeoisie unter.
Eine besonders erbärmliche Rolle spielen dabei die großen Apparate der ArbeiterInnenbewegung, die bürokratisierten, von oben kontrollierten Gewerkschaften, die reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wie auch linkspopulistische Regime und Bewegungen in den Ländern des globalen Südens.
Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und SozialpartnerInnenschaft in den Betrieben hinaus. Unter bürokratischer Kontrolle können diese Organisationen, die trotz Mitgliederverlusten weiter Millionen und Abermillionen Lohnabhängige umfassen, ihr Potential nicht realisieren. Im Gegenteil, die bürokratischen Führungen fungieren als Hindernis, als Bremse, oft sogar als direkte GegnerInnen jeder Massenmobilisierung. Sie verfolgen nicht nur eine verfehlte Politik, sie verbreiten auch falsches Bewusstsein in der Klasse.
Eine Spielart dieser Abhängigkeit von den liberalen imperialistischen Mächten und Parteien ist der weit verbreitete Versuch, eine radikale Version der Sozialdemokratie wiederzubeleben, entweder durch die Gründung neuer Parteien auf der Grundlage eines radikalen keynesianischen Programms, das soziale Bewegungen mit Wahlkampf kombiniert, oder durch die versuchte Übernahme bürgerlich-liberaler oder tradierter sozialdemokratischer Parteien. Tatsächlich haben wir Ersteres im Fall von Syriza und Podemos scheitern sehen und Letzteres in Form des Corbynismus in der britischen Labour Party. Ehemalige stalinistische „Linksparteien“ haben lange mit der gleichen Methode experimentiert.
Heute sehen wir eine Mischung aus beidem im Fall der Demokratischen SozialistInnen von Amerika (DSA) und ihrem sogenannten „schmutzigen Bruch“ mit der Partei von Joe Biden und Hillary Clinton. IdeologInnen dieses Neoreformismus versuchen, einen seiner revolutionären Essenz entledigten Marxismus mit Hilfe eines wiederbelebten Luxemburgismus, Gramscianismus oder Kautskyianismus in ihre Politik zu inkorporieren. „TrotzkistInnen“, die sich dem anpassen, beschreiten einfach den Weg des ursprünglichen Revisionismus und Eurokommunismus und sind ein Teil des Problems, der ideologischen Verwirrung, nicht seiner Lösung.
Trotz dieser mächtigen Hindernisse, trotz Pandemie und Krise, regte sich auch im letzten Jahr ein beeindruckender Widerstand auf der ganzen Welt. Die Revolution in Myanmar, die Streikbewegung der indischen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen machen beeindruckende Höhepunkte demokratischer und sozialer Kämpfe aus. In Lateinamerika erleben wir einen massiven Aufschwung der Klassenkämpfe und Polarisierung. Sie stellen die Frage, wie der Kampf um grundlegende demokratische und soziale Forderungen mit dem für die sozialistische Revolution verbunden werden kann. Sie zeigen: Es braucht ein Programm der permanenten Revolution!
In Belarus, im Libanon, in Nigeria und vielen anderen Ländern mobilisierten Massenbewegungen gegen reaktionäre Regime und die soziale Misere, sodass sich vorrevolutionäre Situationen und Krisen entwickelten. Die explosive Lage in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika und großen Teilen Asiens bedeutet, dass Massenkämpfe auch in der kommenden Periode weiterhin wahrscheinlich sind und zu revolutionären Situationen eskalieren können. Wie in den Arabischen Revolutionen nach 2011 stellt sich dann die Frage, wie diese Bewegungen zum revolutionären Sieg gelangen können.
In den imperialistischen Ländern wiederum – allen voran in den USA – mobilisierten riesige Massenbewegungen, allen voran Black Lives Matter, Millionen Menschen und inspirierten die rassistisch unterdrückte Jugend auf der ganzen Welt. Ähnliche Ansätze eines spontanen Internationalismus zeigen auch die Frauen*streikbewegung und wichtige Teile der Umweltbewegung, die beide selbst in der Pandemie weltweit wieder Millionen mobilisierten. Auf der Ebene gewerkschaftlicher und betrieblicher Kämpfe erlebten wir Ansätze länderübergreifender, koordinierter Aktionen in einzelnen Konzernen wie z. B. bei Amazon.
Doch trotz einer historischen Krise und drohender tiefer Einschnitte standen die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse v. a. in den imperialistischen Ländern oft am Rande dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Die betrieblichen Abwehrkämpfe gegen Schließungen und Massenentlassungen waren zwar durchaus zahlreich, aber blieben in der Regel voneinander isoliert und unter fester Kontrolle von Gewerkschaftsbürokratie und betrieblichen FunktionärInnen.
Diese bremsende Stillhaltepolitik der reformistischen Apparate und Parteien erklärt auch, warum die ArbeiterInnenklasse in den meisten Bewegungen keine führende Rolle einnehmen konnte. Die Führung von Widerstandsbewegungen fiel dann fast unwillkürlich politisch kleinbürgerlichen Kräften und solchen Ideologien zu. Die Dominanz dieser Ideologien – z. B. Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postkolonialismus, Feminismus, Linkspopulismus – in den Bewegungen der letzten Jahre ist selbst ein Resultat der vorherrschenden bürgerlichen Politik und des damit verbundenen verbürgerlichten Bewusstseins in der ArbeiterInnenklasse. Dass viele AktivistInnen in radikalen kleinbürgerlichen Theorien und Programmen eine Alternative erblicken, ist die zwangsläufige Strafe für die sozialpartnerschaftliche und sozialchauvinistische Politik der Gewerkschaftsbürokratien und reformistischen Parteien sowie die Duldung dieser Hoheit durch viele Kräfte, die sich links von ihnen wähnen.
AktivistInnen der kleinbürgerlich geführten Bewegungen können nur für eine revolutionäre ArbeiterInnenpolitik gewonnen werden, wenn RevolutionärInnen die Kämpfe um Befreiung ohne Wenn und Aber unterstützen, wenn sie ihre Kritik an deren Programmen und Theorien geduldig erklären und einen schonungslosen Kampf gegen die bürokratischen und reformistischen Führungen in der ArbeiterInnenklasse selbst führen.
Konkret heißt das, dass sie um die klassenkämpferische Erneuerung der Gewerkschaften kämpfen müssen und oppositionelle demokratische Basisbewegungen gegen die Bürokratie aufzubauen haben. Um deren Vormacht zu brechen, müssen sie Forderungen an eben diese Führungen stellen, ohne ihre Kritik zu verschweigen. Sie müssen für den Bruch aller ArbeiterInnenorganisationen mit der Bourgeoisie kämpfen. Das heißt in Ländern wie den USA, in der DSA für die konsequente Abkehr von der Demokratischen Partei und den Aufbau einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse einzutreten. Das heißt in anderen Ländern wie Deutschland, sich für die Schaffung einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei zu engagieren.
In allen Fällen müssen RevolutionärInnen eine Einheitsfront aller Parteien, Organisationen und Bewegungen der ArbeiterInnenklasse sowie der Unterdrückten auf der Basis eines Aktionsprogramms gegen Krise, Pandemie, Umweltzerstörung, Rassismus und Sexismus vorschlagen. Ein solches Programm muss z. B. Forderungen gegen drohende Entlassungen, gegen Arbeitslosigkeit, Mietpreiserhöhungen und für den freien Zugang zu einem Gesundheitssystem für alle, für einen solidarischen Lockdown umfassen. Das bedeutet auch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln in Frage zu stellen, indem wir z. B. die Enteignung der Pharmaindustrie und einen globalen Plan zur Produktion und kostenlosen Verteilung von Impfstoffen für alle fordern. Es geht um die entschädigungslose Enteignung aller privaten Konzerne im Gesundheitssektor unter ArbeiterInnenkontrolle und aller, die mit Massenentlassungen und Kürzungen drohen.
Diese und alle anderen großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können nur gewonnen werden, wenn sie sich auf Massenmobilisierungen der ArbeiterInnenklasse stützen. Daher müssen alle ihre Organisationen dazu aufgefordert werden, sich am gemeinsamen Kampf zu beteiligen, um so die großen Massenorganisationen in Bewegung zu bringen und zugleich deren Führungen dem Test der Praxis auszusetzen.
Ein solcher Kampf erfordert demokratische Strukturen: Er muss sich auf Versammlungen in den Betrieben und Stadtteilen, auf gewählte Aktionskomitees und Ausschüsse stützen. Schließlich muss eine Massenbewegung auch Selbstverteidigungsorgane aufbauen, die sie vor den Angriffen von StreikbrecherInnen, rechten Banden oder der Polizei schützen können.
Um den Widerstand auf kontinentaler und globaler Ebene zu verbinden, braucht es eine internationale Bewegung, eine Wiederbelebung der Sozialforen, die jedoch nicht nur Organe zur Diskussion, sondern beschlussfähige Koordinierungen des gemeinsames Kampfes sein sollen.
Aber dies alleine wird nicht reichen, denn notwendig ist eine politische Antwort auf die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse selbst: neue revolutionäre Parteien und eine neue, Fünfte Internationale, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen für die sozialistische Revolution stützen – eine Weltpartei, die eine wirklich internationale, globale Antwort auf die Dreifachkrise der Menschheit vertritt.