Jürgen Roth/Martin Suchanek, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021
Wohnst Du noch oder übersiedelst Du schon? Für Millionen Menschen wird die Wohnungsfrage zunehmend zu einer des Überlebens.
Durchschnittlich betrugen die Wohnungskosten (Miete, Wasser, Heizung, Versicherungen etc.) Ende 2019 25,9 % der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland. Bei der sog. armutsgefährdeten Bevölkerung betrug ihr Anteil sogar 49 % – und das vor Rezession und Corona! In den städtischen Zentren ist der Anteil, sofern Menschen mit geringen oder mittleren Einkommen dort überhaupt noch wohnen, noch höher. Eine gigantische Verdrängung findet, wie wir in dieser Broschüre dargelegt haben, statt. Private InvestorInnen, Finanzkapital, GrundbesitzerInnen bereichern sich an der Masse der lohnabhängigen MieterInnen, die zugleich angesichts von Kurzarbeit, stagnierenden Löhnen, viel zu geringen Renten und Sozialleistungen noch mehr vor die Alternative Verarmung oder Umzug mit etwas weniger Verarmung gestellt werden.
Als Antwort darauf entwickelt sich seit Jahren eine MieterInnenbewegung, deren größte und zur Zeit wichtigste die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen darstellt.
Damit die Bewegung weiter wächst, an Dynamik und Schlagkraft gewinnt, gilt es die Erfahrungen aus den einzelnen Städten und Regionen auszutauschen und zu bündeln sowie die verschiedenen Bündnisse, Initiativen, Kampagnen zu einer bundesweit koordinierten Bewegung zusammenzuführen. Dazu braucht es eine organisierte, gemeinsame Diskussion und auch einen Aktionsplan.
Zugleich müssen in diesem Zuge aber auch grundlegende, in der Bewegung durchaus umstrittene programmatische und perspektivische Fragen diskutiert und geklärt werden, insbesondere wenn die Wohnungsfrage als Teil des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus begriffen werden soll und nicht nur als Forderung nach einem Ende der „spekulativen Auswüchse“ der Marktwirtschaft.
Daher wollen wir im abschließenden Beitrag dieser Broschüre einige programmatische Grundfragen einer antikapitalistischen und revolutionären Politik in der Wohnungsfrage zur Diskussion stellen.
Ein Aktionsprogramm zur Wohnungsfrage muss dabei in der aktuellen Lage an den unmittelbaren und zentralen Problemen der MieterInnen anknüpfen. Daher werden wir uns im Folgenden mit sechs, miteinander verbundenen Themen beschäftigten.
1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe
2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt
3. Programm für den Neubau von Sozialwohnungen und günstigen Wohnraum für die Masse der Lohnabhängigen
4. Kampf gegen Armut, für Mindestlohn und Anpassung der Löhne an die Steigerung der Mietpreise und anderer Lebenshaltungskosten
5. Enteignung von Grund und Boden, der privaten Immobilienkonzerne und des Wohnungsbaukapitals
6. Kontrolle durch MieterInnen und die lohnabhängige Bevölkerung
Angesichts der eklatanten Mietpreissteigerungen braucht die Dringlichkeit dieser Frage wohl nicht weiter betont zu werden. Grundsätzlich unterstützen wir jede Maßnahme, die zu einer Beschränkung der Mieten führt, mag sie auch für sich genommen unzulänglich und zu gering sein.
Wie die Aufhebung des Berliner Mietendeckels durch das Verfassungsgericht verdeutlicht hat, können wir uns auf die bürgerliche Justiz und Gesetzgebungsverfahren nicht verlassen. Um solche Reformen durchzusetzen, braucht es den gemeinsamen Druck, die gemeinsame Mobilisierung aller MieterInnenvereinigungen und -initiativen, der Gewerkschaften und aller linken Parteien, die vorgeben, die Interessen der MieterInnen zu vertreten. Schlüsselforderungen sollten dabei sein:
Die Freiheit des Wohnungsmarkts reproduziert und verstärkt offen oder verdeckt gesellschaftliche Unterdrückung. Von Rassismus, Frauenunterdrückung, Unterdrückung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität Betroffene werden auf dem Wohnungsmarkt besonders benachteiligt. Das betrifft ebenso Menschen mit Behinderungen und insbesondere alle mit geringen Einkommen. Dass Diskriminierung offiziell verboten ist, ist eine Farce angesichts der Realität des Marktes. Wer sich für eine Wohnung bewirbt, muss seine Einkommensverhältnisse, seine Herkunft, familiäre Situation, ja selbst Lebensplanung offenlegen. Und wer dies verweigert, hat unter dutzenden oder hunderten Bewerbungen schon verloren. Diskriminierungsverbote müssen daher zwar verteidigt werden, angesichts der Konkurrenz unter den MieterInnen findet die Selektion jedoch verdeckt durch die blinde Macht des Marktes statt. Zugleich reproduzieren die verschiedenen Formen der Benachteiligung die Spaltung unter den lohnabhängigen MieterInnen. Auch deshalb ist der Kampf gegen diese für die gesamte Bewegung unerlässlich.
Wohnungsmangel und Wohnungsnot resultieren nicht nur aus der spekulativen Bewegung des Anlage suchenden Finanzkapitals und ihrer Verschärfung durch rassistische und geschlechtliche Unterdrückung, Armut und geringe Einkommen. Sie werden ergänzt durch einen Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und generell kostengünstiger Wohnungen. Unter dem Diktat des spekulierenden Großkapitals wird natürlich auch neu gebaut oder umgebaut – aber in erster Linie im Bereich höherpreisiger Marktsegmente oder infolge von Sanierung und Modernisierung, die den Bestand zwar kaum verbessern, aber kräftige Mietpreissteigerungen und infolge dieser höhere Aktionskurse und Renditen erlauben. Deshalb:
Die Wohnungsnot trifft v. a. prekär Beschäftigte, Erwerbslose, alleinerziehende Frauen und MigrantInnen, weil sie zu den am meisten ausgebeuteten und am schlechtesten bezahlten Teilen der ArbeiterInnenklasse gehören. Selbst wenn alles ohne Diskriminierung durch VermieterInnen abginge, selbst wenn die Mietpreise weniger steigen würden, würden sie aufgrund von sinkenden oder stagnierenden Einkommen immer mehr unter Druck geraten.
Der Kampf gegen die Mietpreissteigerungen ist daher gerade für die Lohnabhängigen eng mit dem um höhere Löhne, einen ausreichende/n/s Mindestlohn, Arbeitslosengeld, Renten und Mindesteinkommen, die die Reproduktionskosten decken, eng verbunden.
Um die Eigentumsfrage führt kein Weg herum. Solange Grund und Boden ihren EigentümerInnen horrende Gewinne bringen, solange der Wohnungsbau in privater Hand bleibt und vor allem den Unternehmen Profite bringt und vor allem solange der Wohnungsmarkt von Immobilienunternehmen dominiert wird, die auf rasche, spekulative Gewinne an den Börsen setzen, werden die Preise weiter steigen und wird die Wohnungsfrage noch brisanter werden.
Die massiven Mieterhöhungen für die Lohnabhängigen gehen Hand in Hand mit Privatisierungen und horrenden Gewinne der Immobilienhaie einher.
Diese Entwicklung führt übrigens auch zu erhöhten Kaufpreisen für persönlich genutztes Wohnungseigentum und damit zu höheren Schulden privater Haushalte wie auch zu einer extremen zusätzlichen Belastung für kleine Gewerbetreibende, die ebenfalls durch überhöhte Mieten verdrängt werden.
An der Enteignung der großen PlayerInnen am Wohnungsmarkt, von Grund und Boden wie der Baufirmen führt letztlich kein Weg vorbei. Wir treten für die Öffnung von deren Bilanzen, Verträgen sowie der Verstrickung von Tochterunternehmen und Beteiligungen ein, um ihre wirklichen Vermögen und ihre EigentümerInnenstrukturen offenzulegen.
Die Milliarden, die sie sich über Jahre bei den MieterInnen oder bei viel zu günstigen Wohnungsverkäufen angeeignet haben, sind selbst Resultat einer rücksichtslosen, ja räuberischen Geschäftspolitik. Die Gelder müssten für Neubau, ökologische und kostengünstige Erneuerung und Erhaltungskosten verwandt werden.
Daher sollten alle diese Konzerne entschädigungslos enteignet werden. Das betrifft auch ihre GroßaktionärInnen. Nur die kleinen AnlegerInnen sollten so weit entschädigt werden, dass sie ohne Verluste aus dem spekulativen Geschäft aussteigen können. Die entschädigungslose Enteignung bedeutet natürlich eine massive Konfrontation nicht nur mit dem Kapital im Wohnungssektor, sondern in allen Bereichen, weil eine Enteignung der großen Immobilienkonzerne und von Grund und Boden auch eine Beispielwirkung für die gesamte Ökonomie hätte.
Das trifft selbst zu, wenn Kampagnen wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen eine Entschädigung in Aussicht stellen. Als RevolutionärInnen sind wir zwar gegen die Entschädigung, doch wir kämpfen ungeachtet ohne Wenn und Aber an der Seite dieser Initiative. Gerade weil die Eigentumsfrage so grundlegend für den Kapitalismus ist, müssen wir uns zugleich auf eine massive Konfrontation darum, auf eine Kontroverse um die Höhe von Entschädigungen vorbereiten, die nur mit den Mitteln des Klassenkampfes, also einer Massenmobilisierung, zu gewinnen sein wird.
Selbst wenn die privaten Unternehmen enteignet würden, stellt sich unwillkürlich die Frage, wem diese gehören und wer die Kontrolle darüber ausübt. Im Kapitalismus bedeutet Enteignung von Unternehmen entweder deren Überführung in genossenschaftliches Eigentum oder Verstaatlichung – egal nun Bund, Länder oder Kommunen als EigentümerInnen fungieren oder es die Form einer Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) annimmt.
Genossenschaftliches Eigentum stellt im Grunde eine Form des Privateigentums dar, auch wenn sich mehrere Personen den Besitz teilen.
Auch in einer kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaft, ob nun als AöR oder sonst wie organisiert, herrscht immer noch das kapitalistische Wert- und Aneignungsgesetz. Staats- und Wohnungsschulden, Bodenpreise verschaffen sich letztlich immer wieder Geltung und verhindern eine Transformation staatskapitalistischen Eigentums in vergesellschaftetes. Kurzum, der Klassenkampf um die Wohnungsfrage endet nicht mit der Enteignung, er nimmt nur eine andere Form an.
Daher treten wir in allen privaten, staatlichen und auch genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaften für die Kontrolle durch gewählte Ausschüsse/Komitees der MieterInnen ein. Die genauen Formen der Kontrolle werden sich logischerweise im Zuge der Entwicklung verändern. Es versteht sich von selbst, dass die VertreterInnen von MieterInnenvereinen, Gewerkschaften, migrantischen und linken Organisationen und Parteien der ArbeiterInnenbewegung darin einbezogen werden müssen.
Aber es gibt keine sozialistischen Inseln im Kapitalismus. Wirkliche Vergesellschaftung kann nur in Form der Assoziation der direkten ProduzentInnen umgesetzt werden, erfordert also letztlich den Sturz des Kapitalismus.