Robert Teller, Neue Internationale 255, Mai 2021
Mitten in der dritten Welle stand auch „Querdenken“ wieder in den Startlöchern: Am 20. März in Kassel und am 3. April in Stuttgart waren jeweils an die 20.000 auf den Straßen – bewacht von einer Polizei, die sich nicht imstande sah, Auflagen zum Infektionsschutz auf den Demos durchzusetzen. Die Stuttgarter Polizei erklärte sich bereits im Voraus einfach für unzuständig. Der Versuch, Masken- und Abstandsregeln durchzusetzen, würde in der Praxis zu noch höheren Infektionsrisiken führen. Daher würde man lieber mündlich an die TeilnehmerInnen appellieren – so hieß es in den Tagen vor dem 3. April -, und eine Auflösung der Demo sei nicht ohne Gewalt möglich. Scheinbar ist Gewaltanwendung so gar nicht Sache der Polizei – jedenfalls nicht bei der „bürgerlichen Mitte“, die sich bei „Querdenken“ versammelt. Der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister Clemens Maier erklärte, dass aus seiner Sicht die Coronaverordnung ein Verbot der „Querdenken“-Demo nicht ermöglicht.
Nach der Demo erklärte Maier, man habe „das Beste draus gemacht“. Die Pressemitteilung der Stuttgarter Polizei konkretisiert, was damit gemeint sein könnte: „Insgesamt ist es durch den Polizeieinsatz gelungen, eine solche große Anzahl von Versammlungsteilnehmern ohne große Störungen von Gegendemonstrationen über mehrere Kilometer bis auf den Cannstatter Wasen zu lenken“. „Gelungen“ ist dies dadurch, dass die Polizei gegenüber den GegendemonstrantInnen eine weit weniger wohlwollende Haltung einnahm als gegenüber den Rechten. Zwei Gegendemonstrationen wurden einfach vorsorglich in ausreichender Entfernung zu den Rechten eingekesselt, noch bevor sich überhaupt Möglichkeiten ergeben hätten, die „QuerdenkerInnen“ zu stören. So konnte der Karneval der Empörten mit Aluhüten, Love & Peace und Reichsbürgerfahnen (aber ohne Masken) quer durch die ganze Stadt bis zum Cannstatter Wasen gelangen.
Die bemerkenswerte Passivität der Staatsmacht löste aber erheblichen öffentlichen Druck aus, diese Haltung zu ändern. So stieß Clemens Maier dann doch auf den einschlägigen § 11 der Coronaverordnung, und die Querdenken-Demos für den 17. April wurden prompt verboten. Auch in anderen Städten wurden Verbote verhängt. Das änderte allerdings nichts daran, dass die Polizei in Stuttgart ihre Hauptaufgabe weiterhin darin sah, die (genehmigten) Gegenproteste vom Zentrum fernzuhalten, wo die QuerdenkerInnen trotz Verbots teils ihren „Protest“ abhielten, überwiegend aber mangels besserer Ideen ziellos durch die Stadt bummelten oder Polonaise tanzten.
Die Gegenproteste waren in Stuttgart zwar sichtbar, ein Erfolg waren sie aber offensichtlich nicht. Am 3. April wirkte die Stuttgarter Linke unvorbereitet, und der Protest beschränkte sich hauptsächlich auf das Antifaspektrum der Region, dem eine übergroße Masse an rechten SpinnerInnen und ein noch immer großes Aufgebot an Bullen gegenüberstand.
Stuttgart bildet in dieser Hinsicht auch keine Ausnahme. Bei großen „Querdenken“-Mobilisierungen seit dem vergangenen Frühjahr waren linke Gegenproteste praktisch immer in der Unterzahl. Die Rechten sind in der Lage, mit ihrer Mischung aus zum Freiheitskampf hochstilisierter Rücksichtslosigkeit, demagogischem Aufgreifen wirklicher Existenzangst, Corona-Leugnung, Verschwörungstheorien und Irrationalismus Massen vor allem aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten, aber auch aus der ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren. Und dieser Mobilisierungserfolg scheint die für antifaschistische Proteste der Vergangenheit gewohnten Verhältnisse auf den Kopf zu stellen.
Beim Protest gegen offene Nazis oder gegen die AfD stellt sich nämlich meist ein „Konsens der Vernünftigen“ gegen die rechte Minderheit ein. Mit diesem Konsens kommt es zum Schulterschluss von linken Antifas bis hin zu „aufrechten DemokratInnen“, praktisch zu einer ganz großen Koalition für Demokratie und Grundgesetz. In der Praxis setzt diese Situation – so problematisch ihr klassenübergreifender Charakter auch ist – dem Handeln der Staatsmacht gewisse Grenzen und verbannt den rechten Zoo in sein Hamburger Gittergehege. In Stuttgart hat sich gezeigt, dass sich der breite demokratische, „antifaschistische Konsens“ im Angesicht einer derartigen kleinbürgerlichen Massenmobilisierung in Luft auflöst. Was bleibt, ist der gesellschaftliche Konsens zum Abstandhalten und Maske Tragen, aber der reicht nicht für eine Massenmobilisierung gegen rechts.
Trotz der öffentlichen Empörung über diese Missachtung des Infektionsschutzes hat sich der Rechtsstaat zunächst auf ihre Seite geschlagen und den QuerdenkerInnen Auftrieb gegeben. Auch das mittlerweile halbherzige Eingreifen gegen die Aufmärsche wird ihnen kaum nachhaltig schaden, sondern vielmehr ihr Narrativ der Merkeldiktatur bestätigen. Es hilft an dieser Stelle auch nichts, nach einem harten Eingreifen der Polizei gegen die Rechten zu rufen. Im Gegenteil, wie die Gegenproteste in Stuttgart gezeigt haben, nutzt die Staatsmacht ebendiese Mittel vor allem gegen Linke – und das werden die Bullen auch weiter tun. Der Handschlag eines Beamten mit einem Ordner von „Querdenken“ am 3. April verdeutlicht das nur zu symbolisch.
Diesem Kräfteverhältnis zugrunde liegt auch ein politisches Problem der deutschen Linken. Die Rechten mobilisieren mit einer reaktionären Kritik an der Regierung. Auch wenn in dieser Bewegung zahlreiche Nazis wie ReichsbürgerInnen und andere extrem rechte Kräfte marschieren und Einfluss gewinnen, so handelt es sich bei „Querdenken“ und anderen (noch) nicht um eine faschistische, sondern um eine rechtspopulistische Bewegung. Ihre Einheit und Kraft bezieht sie daraus, dass sie sich als Volksbewegung von unten gegen die Elite ausgibt. Hinter sozialdemagogischen Parolen versucht sie, eine klassenübergreifende Einheit von kleinen und großen Unternehmern sowie von deren Beschäftigten herzustellen, die allesamt nicht in erster Linie unter den Auswirkungen des Kapitalismus und der Pandemie, sondern unter einer imaginierten Lockdowndiktatur Merkels zu leiden hätten.
Da der Rechtspopulismus auch wirkliche soziale Folgen der kapitalistischen Krisen- und Pandemiepolitik aufgreift und pseudoradikale Lösungen anbietet, zieht er gesellschaftliche Verzweiflung an und formt sie zu einer reaktionären kleinbürgerlichen Bewegung, deren kleinster realer Nenner der Ruf nach „Öffnung“ aller Wirtschaftssektoren darstellt, also eigentlich eine Politik im Interesse des Kapitals. „Querdenken“ denkt konsequent und insofern geradlinig zu Ende, was es bedeutet, wenn gesagt wird, dass wir „mit dem Virus leben müssen“.
Blockaden und Proteste gegen die Aufmärsche von „Querdenken“ und Co. müssen zweifellos weiter einen Teil des Widerstandes gegen den Aufstieg der Rechten bilden. Aber dies wird nicht reichen. Vielmehr muss der kleinbürgerlichen Demagogie auf dem Feld des Klassenkampfes der Boden entzogen werden. Daher müssen wir den Kampf gegen rechts verbinden mit dem gegen die Krisenabwälzung, gegen die gescheiterte Pandemiebekämpfung und dafür, dass das Kapital die Kosten für die Krise selbst bezahlen muss.