Helga Müller, Neue Internationale 255, Mai 2021
Nachdem Anfang diesen Jahres der Höhepunkt der Coronavirus-Infektionen erreicht war, steigen seit Wochen die Ansteckungen mit dem gefährlicheren Typ B 1.1.7 erneut an. IntensivmedizinerInnen und VirologInnen fordern daher drastische Maßnahmen und einen harten Lockdown. Und in der Tat bräuchte es einen solchen. Einen Lockdown, der nicht nur das Privatleben einschränkt, sondern vor allem endlich sämtliche nicht zwingend notwendigen Betriebe miteinbezieht! Wir brauchen drei Wochen bezahlte Arbeitspause zusammen mit einer systematisch geplanten Impf- und Teststrategie, so wie #ZeroCovid es fordert. So könnte die dritte Welle gebrochen, viele Tote und Langzeitkranke verhindert und Krankenhausangestellte vor enormer Belastung geschont werden.
RKI-Chef Wieler und viele ÄrztInnen warnen davor, dass die Intensivbetten mit Beatmungsgeräten bereits jetzt knapp werden und schon bald nicht mehr ausreichen könnten. Schon jetzt müssen in einigen Regionen wie z.B. Thüringen PatientInnen mit schwerem Erkrankungsverlauf in Krankenhäuser anderer Bundesländer verlegt werden. Obendrauf kommt noch, dass die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gar nicht genau weiß, wie viele Intensivbetten mit Beatmungsgeräten in Deutschland tatsächlich verfügbar sind, da zwar Betten gemeldet werden, es aber keine ausreichenden Pflegekräfte vor Ort gibt, die auf Intensivstationen eingesetzt werden können.
All dies wirft ein katastrophales Bild auf die Politik der Bundesregierung, die, seitdem die Pandemie in Deutschland herrscht, nichts dafür getan hat, um die Situation der Pflegekräfte trotz gesellschaftlicher Notsituation zu verbessern: keine bessere Bezahlung und schon gar keine Einführung eines gesetzlichen Pflegeschlüssels für alle Kliniken, obwohl Letzteres seit über einem Jahr als Entwurf vorliegt. Die PPR 2.0 (Pflegepersonal-Regelung 2.0; Neuauflage der Personalbemessung, die kurze Zeit in den 1990er Jahren galt), ausgehandelt von ver.di, Deutschem Pflegerat und Deutscher Krankenhausgesellschaft, könnte sofort umgesetzt werden. Aber außer Beifall nichts gewesen. Dazu passt, dass zu Beginn der Pandemie die vollkommen unzureichende Verordnung zu Personaluntergrenzen ausgesetzt wurde und die Pausenregelung zwischen den Schichten im Arbeitszeitgesetz von 12 auf bis zu 9 Stunden gekürzt wurde. Somit ist es auch kein Wunder, dass im letzten Jahr tausende von Pflegekräften den Beruf verlassen haben, weil sie die zusätzliche psychische und physische Belastung nicht mehr ertragen konnten: Nach Angaben von Spiegel-Online „ging die Zahl der Beschäftigten in der Pflege zwischen Anfang April und Ende Juli 2020 um mehr als 9000 zurück – ein Rückgang um 0,5 Prozent in sehr kurzer Zeit.“
In der ganzen Krise blieben die Gewinnmargen der großen Gesundheitskonzerne unangetastet. Allein der Fresenius-Helios-Konzern, der größte in Deutschland, konnte im Krisenjahr 2020 sein Ergebnis um zwei Millionen auf 666 Millionen Euro steigern. Dies ist mit darauf zurückzuführen, dass die Krankenhäuser im letzten Jahr für den Aufbau von Intensivkapazitäten ca. 50.000 Euro pro Bett und zusätzlich noch eine Pauschale von 560 Euro für jedes freigehaltene Bett erhielten, um den Ausfall nicht dringender, geplanter OPs zu kompensieren. Viele Klinikleitungen bedankten sich für den Zuschuss mit dem Versäumnis, an den Intensivbetten mit Beatmungsgeräten Personal einzuweisen und zu qualifizieren. Zudem wurden trotz Pandemie im letzten Jahr 20 Kliniken geschlossen und dieses Jahr sollen nochmal 31 dazu kommen!
Angesichts des Regierungsversagens bei Pandemie und Pflegenotstand, angesichts des ungehinderten Profitierens der Klinikkonzerne auf Kosten des Personals und unser aller Gesundheit stellt sich die Frage: Was treiben eigentlich die Gewerkschaften? Während der Pandemie hat ver.di Appelle an die Politik gerichtet, doch endlich für mehr Personal zu sorgen. Das höchste der Gefühle war eine von der Linkspartei organisierte Anhörung im Bundestag und eine Unterschriftensammlung zur PPR 2.0.
Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen, in der vor allem die Beschäftigten aus Krankenhäusern die Warnstreiks trugen, wurde nicht genutzt, um zumindest die Frage eines gesetzlichen Personalschlüssels mit den öffentlichen Arbeit„geberInnen“ zu diskutieren oder ihn gar gegen sie durchzusetzen. Zwar wurde auf Druck vieler aktiver GewerkschafterInnen aus den Kliniken zur Tarifrunde ein separater Gesundheitstisch eingerichtet, anlässlich dessen die ver.di-Führung zu Anfang auch versprochen hatte, die Frage des Personals mit aufzunehmen. Dieses Thema wurde aber schnell von der Verhandlungskommission fallengelassen mit dem Argument, der Manteltarifvertrag sei ja nicht gekündigt und dies sei ja auch eine politische Forderung! So blieb am Ende etwas mehr Geld hauptsächlich für die Pflegekräfte (was zu einer weiteren Zersplitterung des Tarifvertrages und der Belegschaften beiträgt), aber attraktiver wurde der Beruf damit nicht, ist die Überlastung des Personals doch die gleiche geblieben. Wenigstens gab es zahlreiche selbstorganisierte Ansätze von Beschäftigten, Pflegebündnissen und vielerlei Initiativen, teilweise auch mit Unterstützung von engagierten GewerkschaftssekretärInnen und ehrenamtlichen Gremien, mit Petitionen, offenen Briefen und Aktionen gegen die unhaltbare Situation aktiv zu werden.
Für die Beschäftigten in den Krankenhäusern, aber auch für die arbeitende Bevölkerung generell führt nichts daran vorbei: Es braucht bessere Arbeitsbedingungen in den Kliniken, was erstens mehr Geld und zweitens mehr Personal bedeutet. Nach wie vor fehlen sowohl bundesweit 80.000 Pflegestellen als auch eine gute, flächendeckende Gesundheitsversorgung für alle! Wenn sich daran nichts ändert, wird dies nicht nur zu einer weiteren Personalflucht aus den Kliniken führen, sondern auch die mangelnde Versorgung der Bevölkerung verschärfen. Die Pandemie hat deutlicher denn je gezeigt, dass die Ausrichtung des Gesundheitsbereichs nach Profitinteressen, für die das Personal nur einen Kostenfaktor darstellt, wobei die Beurteilung der PatientInnen nach lukrativster Behandlung erfolgt, eine gute Gesundheitsversorgung unter guten Arbeitsbedingungen verunmöglicht. Und selbst die noch öffentlich geführten und finanzierten Krankenhäuser im kommunalen Bereich und die Unikliniken geraten dadurch unter einen Konkurrenzdruck, der zu entsprechenden Sparmaßnahmen führt.
Von der Regierung und profitabhängigen Klinikbossen können wir eine gute und flächendeckende Gesundheitsversorgung für alle nicht erwarten, 2020 präsentierte dies allzu deutlich. Letztlich können nur die arbeitende Bevölkerung und die Beschäftigten im gesamten Gesundheitsbereich dies gemeinsam durchsetzen.
Ein wichtiger Termin dafür ist der Tag der Pflegenden am 12.5., der von vielen Pflegebündnissen vorbereitet wird. Weiterhin findet am 15./16. Juni die GesundheitsministerInnenkonferenz in Bamberg statt, auch hier planen Pflegebündnisse und ver.di Protestaktionen. Auch an Krankenhäusern können dazu Mobilisierungen erfolgen, um so an einem Tag gemeinsam gegen die unzumutbaren Zustände in den Krankenhäusern und im gesamten Gesundheitsbereich zu protestieren.
In Berlin plant ver.di eine gemeinsame Kampagne für mehr Personal an der Charité und bei Vivantes (größter deutscher kommunaler Klinikkonzern). Ein Ko-Kreis über beide Krankenhäuser hinweg wurde gebildet und organisiert eine Rückkopplung zu den jeweiligen TarifberaterInnen und Tarifkommissionen des Krankenhauses. Bei der ersten Videokonferenz mit gewerkschaftlich Aktiven aus beiden Krankenhäusern waren mehrere Hundert versammelt. Der Wille zur Verbesserung ihrer desolaten Situation ist bei den Beschäftigten also da, trotz Pandemie und verschärftem Arbeitsdruck. Geplant ist diesmal zudem, die Kampagne nicht allein auf die Klinikbeschäftigten zu beschränken, sondern auch die sozialen Bewegungen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ mit ins Boot zu holen. Bis zu den Bundestags- und Senatswahlen im Herbst sollen die Belegschaften streikfähig gemacht werden – was die Möglichkeit böte, die Frage nach einem gesetzlichen Personalschlüssel und die Frage der Rekommunalisierung / Verstaatlichung von Krankenhäusern öffentlich aufzuwerfen!
Von Beginn der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Diskussion und Entscheidung über die notwendigen Kampfmaßnahmen zusammen mit sozialen Bewegungen und der arbeitenden Bevölkerung muss der Kampf unter Kontrolle der Beschäftigten sein. Andernfalls droht ein Ausverkauf oder ins Leere Laufen Lassen des Kampfes durch die ver.di-Führung. Die letzte Entlastungskampagne lässt grüßen. Streikkomitees, wie sie im Kampf um einen Entlastungstarifvertrag an den Unikliniken Essen und Düsseldorf aufgebaut wurden, sind notwendig. Darüber hinaus müssen auch hinsichtlich der Forderungen und vor allem bezüglich der effektivsten Umsetzung ausgehandelter Abkommen Lehren gezogen werden. Ein Erfahrungsaustausch mit den Aktiven aus anderen Kliniken muss dafür organisiert werden – die KollegInnen müssen selbst über das sog. Konsequenzmanagement (wie Bettensperrung u. ä.) entscheiden. Erst dann kann bei Nichtumsetzung der Vereinbarungen Druck auf die Klinikleitungen ausgeübt werden, um die durchgesetzten Beschlüsse auch wirklich Realität werden zu lassen. Erste Ansätze dafür, wie mittels des Konsequenzmanagements Unterschreitungen des Personalschlüssels zu mehr Personaleinstellungen führten, gab es bspw. in Jena, wo KollegInnen selbst den Personalbedarf pro Schicht feststellen.
Aber es braucht mehr … Statt einzelne Krankenhäuser in den Kampf um mehr Personal zu führen, muss die gesamte Branche für die Durchsetzung eines flächendeckenden Tarifvertrags Entlastung bestreikt werden. Dieser Kampf muss mit der Forderung nach einem gesetzlichen Personalschlüssel / Einführung der PPR 2.0 und der Rückführung der privatisierten Krankenhäuser in die öffentliche Hand unter Kontrolle der Beschäftigen und PatientInnenorganisationen kombiniert und zusammengeführt werden. Gemeinsame Aktionen mit Pflegebündnissen und Solidaritätskomitees sind lediglich erste, wenn auch wichtige praktische Ansätze für eine solche Politisierung des Kampfes.
Um aber wirklich Schluss zu machen mit Pflegenotstand, Krankenhausschließungen und Privatisierungspolitik, um aber wirklich die Macht von Klinikkonzernen und ihren politischen Verbündeten zu brechen, müssen zusammen mit den anderen DGB-Gewerkschaften Großdemos / -kundgebungen und Massenstreiks bis hin zu politischen angegangen werden! Ver.di, wie dem gesamten DGB, kommt hier eine große Verantwortung zu. Letztlich müssen sie mit jeglicher Sozialpartnerschaft mit Regierungen und Konzernen brechen. Es ist klar, dass der Gewerkschaftsapparat das nach Möglichkeit verhindern will. Wir müssen es wohl gegen diesen durchsetzen, die Gewerkschaften reorganisieren und für eine direkte demokratische Kontrolle der Basis kämpfen. Daher braucht es innerhalb der Gewerkschaften eine politische Strömung, die dort für eine klassenkämpferische Politik kämpft und eintritt, eine Opposition zur Bürokratie. Ein Versuch dazu ist die vor einem Jahr gegründete Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) – schließt Euch dieser Vernetzung an!